Schlüsselwörter
Kindesmisshandlungen - Kindheitstraumatisierungen - Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland
- Allgemeinbevölkerung
Key words
childhood maltreatment - childhood trauma - differences between East and West Germany
- general population German
Einleitung
Kindesmisshandlung, von der Weltgesundheitsorganisation WHO bündig als
„Missbrauch und Vernachlässigung von Kindern unter 18
Jahren“ definiert ([1]; eigene
Übersetzung), ist bedauerlicherweise ein weltweites Problem mit erheblichen
negativen kurz- und langfristigen Auswirkungen auf die psychische und
körperliche Gesundheit, psychosoziale Entwicklung und Integration der
Betroffenen sowie mit bedeutsamen sozioökonomischen Konsequenzen für
die jeweiligen Gesellschaften [2]
[3]
[4]
[5].
Dass Kindesmisshandlung als globales Phänomen verstanden werden muss, wurde
in den Gesundheitswissenschaften systematisch erstmalig in den 1990er Jahren am
Beispiel des sexuellen Missbrauchs dargelegt: Die Übersichtsarbeit von
Finkelhor aus 1994 [6] berichtete
Prävalenzraten für Allgemeinbevölkerungs- und studentische
Stichproben von vier Kontinenten und aus 20 Nationen, meist
Industrieländern, die für Frauen zwischen 7% und 36%
und für Männer zwischen 3% und 29% schwankten. Auch
aktuellere Meta-Analysen und Übersichten, die zudem körperlichen und
emotionalen Missbrauch sowie Vernachlässigung ebenso berücksichtigt
haben wie Studien aus sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern,
unterstreichen eine große Variation bei den Prävalenzen [7]
[8]
[9]
[10]. Ein eindrückliches Beispiel sind
die Prävalenzen zu emotionaler Vernachlässigung, die nach der
meta-analytischen Übersicht von Stoltenborgh und Kollegen [8] zwischen 3,5% und 80,1%
liegen.
Neben vielfältigen methodischen Aspekten wie der Definition von
Kindesmisshandlung, ihrer Erfassung (z. B. Interview oder Fragebogen) und
Stichprobenmerkmalen kann die große Variationsbreite in den
Prävalenzen auch auf ökonomische, politische und kulturelle Faktoren
zurückgeführt werden [11]
[12]
[13].
So geht das sozioökologische Modell von verschiedenen Determinanten der
Häufigkeiten von Kindesmisshandlung aus, die von einer individuellen bis zu
einer gesellschaftlichen Ebene reichen [11].
Die Bedeutung gesamtgesellschaftlicher Faktoren für die Prävalenz
von Kindesmisshandlung wird eindrucksvoll von Meta-Analysen bestätigt, die
ausschließlich Studien berücksichtigt haben, die den Childhood
Trauma Questionnaire (CTQ; [14]) als dem
international am besten etablierten Fragebogen zur retrospektiven Erfassung von
Kindesmisshandlung eingesetzt haben [15]:
Demnach besteht eine erhebliche Heterogenität in den CTQ-Werten über
Kontinente, Kulturen und sozioökonomischen Status der untersuchten
Länder hinweg [13]
[16].
Die gesamtgesellschaftliche Ebene umfasst dabei nicht nur ökonomische
Faktoren, sondern auch eine politische, kulturelle und (offizielle oder implizite)
gesellschaftsideologische Dimension. Diesen Aspekt hat eine kürzlich
publizierte Studie [17] aufgegriffen, indem
sie Prävalenzen von Kindesmisshandlungen in der Allgemeinbevölkerung
zwischen Probanden aus West- und Ostdeutschland verglichen hat. Auf der Basis von
drei Repräsentativbefragungen aus den Jahren 2010, 2013 und 2016 wurde eine
Stichprobe von 5905 Probanden mit dem Geburtsjahr 1980 oder früher
zusammengestellt und nach dem aktuellen Wohnort der Gruppe „Ost- respektive
Westdeutschland“ zugeordnet. Kindesmisshandlung wurde entweder mit dem CTQ
(Befragungen aus 2010 und 2016) oder seiner Kurzversion, dem Childhood Trauma
Screener (CTS; [18]) erfasst. Für die
Auswertung wurden die dimensionalen CTS-Werte gemäß der von Glaesmer
und Kollegen [19] publizierten Schwellenwerte
in kategoriale Variablen (ja bzw. berichtet vs. nein bzw. nicht berichtet)
transformiert. Im Ergebnis gaben in Westdeutschland lebende Frauen an, alle Formen
von Kindesmisshandlung signifikant häufiger erlebt zu haben als ostdeutsche
Frauen. Sexueller und körperlicher Missbrauch, jedoch nicht emotionaler
Missbrauch oder Vernachlässigung, wurden von westdeutschen Männern
signifikant häufiger erinnert als von Männern aus Ostdeutschland
[17].
Während die sehr große Stichprobe, die aus drei
Repräsentativbefragungen zusammengestellt wurde, für die
Belastbarkeit der Ergebnisse spricht, wird diese hingegen von anderen
methodenkritischen Aspekten eingeschränkt. So erfasst der CTS als
Screeningverfahren die verschiedenen Formen von Kindesmisshandlungen mit nur jeweils
einem Item und dadurch deutlich weniger differenziert als der CTQ, der diese mit je
fünf Items abbildet. Hinzu kommt, dass die Transformation der dimensionalen
CTS-Werte in eine Kategorie mit zwei Ausprägungen zu Varianz- und
Informationsverlust führt. Auch die Auswahl der Probanden erscheint
problematisch: Ulke und Kollegen [17] legten
als ein Einschlusskriterium das Geburtsjahr 1980 oder davor fest. Damit haben die
jüngsten Studienteilnehmer jedoch maximal 10 Jahre – also keineswegs
Kindheit und Jugend – in der DDR verlebt. Schließlich erfolgte die
Zuordnung zur ost- bzw. westdeutschen Gruppe über den aktuellen Wohnort, so
dass die seit 1990 erfolgte Binnenmigration keine Berücksichtigung fand.
Daher zielte unsere Studie unter Umgehung der dargestellten methodischen
Schwächen darauf ab, selbstberichtete Kindesmisshandlungen im
Ost-West-Vergleich zu überprüfen. Dazu wurde eine annähernd
repräsentative Allgemeinbevölkerungsstichprobe online mit dem CTQ
untersucht und nur jene Studienteilnehmer eingeschlossen, die bei der sogenannten
Wiedervereinigung mindestens 18 Jahre alt waren.
Methodik
Studiendesign und Stichprobe
Die hier präsentierten Befunde basieren auf Daten, die im Rahmen eines
Forschungsvorhabens zur Diagnostik von desorganisierter Bindung in einem
Querschnittsdesign erhoben wurden [20].
Über ein Marktforschungsunternehmen wurde im Mai 2022 eine Stichprobe
von N=1101 volljähriger Personen mit ausreichenden
Deutschkenntnissen gewonnen, die hinsichtlich der Merkmale Geschlecht, Alter,
Bundesland und Einkommen repräsentativ für die deutsche
Allgemeinbevölkerung war. Die Teilnehmer bearbeiteten eine
Onlineumfrage, welche eine Reihe standardisierter Fragebögen umfasste.
Neben üblichen soziodemografischen Informationen wurde den Probanden
folgende Frage vorgelegt: „Sind Sie vor 1990 auf dem Gebiet der
ehemaligen DDR geboren?“ Für die hier präsentierte
Analyse wurden nur Studienteilnehmer berücksichtigt, die zum Zeitpunkt
der Umfrage 50 Jahre oder älter waren. Dieses Einschlusskriterium zielte
darauf ab, dass die Probanden Kindheit und Jugend in der DDR bzw. BRD verbracht
haben. Insgesamt erfüllten 510 Studienteilnehmer dieses Kriterium, von
denen jedoch 3 (0,6%) wegen fehlender Daten in zentralen
Ergebnismaßen post-hoc ausgeschlossen werden mussten. Die Studie wurde
von der Ethikkommission an der Medizinischen Fakultät der
Universität Rostock genehmigt (Registriernummer A 2021-0268).
Instrumente
Der Childhood Trauma Questionnaire (CTQ) ist ein international sehr
verbreitetes Selbstbeurteilungsinstrument, das retrospektiv Misshandlungen in
Kindheit und Jugend erfasst [14]. Anhand
von 28 Items, die auf einer fünfstufigen Likert-Skala von „gar
nicht“ (1) bis „sehr häufig“ (5) zu beantworten
sind, werden das Ausmaß sexuellen (SM), körperlichen (KM) und
emotionalen Missbrauchs (EM) sowie körperlicher (KV) und emotionaler
Vernachlässigung (EV) dargestellt. Neben der üblichen
dimensionalen Auswertung können anhand von Schwellenwerten auch
Kategorien gebildet werden, die entweder vierstufig (von „kein
Missbrauch“ über „gering“ und
„schwer“ bis „extrem“) oder zweistufig
(vorhanden vs. nicht vorhanden) ausgeprägt sind. In der erwachsenen
Allgemeinbevölkerung sowie verschiedenen klinischen Stichproben ist die
deutsche Version des CTQ ausgiebig auf ihre teststatistischen Kennwerte hin
untersucht worden, die den guten Parametern des amerikanischen Originals sehr
ähneln [21]
[22]. Hinsichtlich der internen Konsistenz
ergaben sich in der hier untersuchten Stichprobe überwiegend
befriedigend hohe Werte: Für die Subskalen war McDonalds
ω≥0,88; lediglich die Subskala KV fiel mit
ω=0,49 deutlich ab.
Mit dem PHQ-4 als Ultrakurzform des Gesundheitsfragebogens für
Patienten (PHQ-D) wurden aktuelle Depressivität (PHQ-2) und
Ängstlichkeit (GAD-2) mit jeweils zwei Items erfasst; der Summenwert
über alle vier Items gilt als Indikator für die psychische
Gesamtbelastung [23]
[24]. Das Antwortformt entspricht einer
vierstufigen Likert-Skala von „überhaupt nicht“ (0) bis
„fast jeden Tag“ (3), sodass die dimensionalen Werte für
Depressivität bzw. Ängstlichkeit zwischen 0 und 6 und
für die Gesamtskala bis 12 reichen können. Der PHQ ist ein
international etabliertes Selbstbeurteilungsverfahren, dessen psychometrische
Qualität als gut zu beurteilen ist [23]
[24]. Die interne Konsistenz
für den PHQ-4 erwies sich in unserer Studie als sehr hoch (McDonalds
ω=0,91).
Statistische Auswertung
Die statistische Auswertung erfolgte mit dem Computerprogramm SPSS (Statistical
Package for the Social Sciences, Version 28) und der freien Statistiksoftware R
4.2.1 [25]). Je nach Datenstruktur wurden
absolute und relative Häufigkeiten bzw. Mittelwerte und
Standardabweichungen ermittelt. Für die Gruppenvergleiche (geboren und
aufgewachsen in der BRD bzw. DDR) hinsichtlich der soziodemografischen
Variablen, kamen abhängig von der Datenstruktur der
χ
2
-Test oder t-Tests zur Anwendung.
Zunächst wurde die Faktorenstruktur des CTQ im Rahmen einer
konfirmatorischen Faktorenanalyse (CFA) untersucht. Dabei wurde ein Messmodell
mit fünf korrelierten Faktoren angenommen. Die Modellgüte wurde
anhand gängiger Koeffizienten evaluiert (Comparative-Fit Index [CFI],
Root-Mean-Square-Error of Approximation [RMSEA] und Standardized Root Mean
Square Residual [SRMR]), wobei übliche Kriterien für eine
akzeptable Modellpassung herangezogen wurden (CFI>0,95;
RMSEA<0,06; SRMR<0,08 [26]). Anschließend wurde mittels Testung der Messinvarianz (MI)
über die beiden Teilstichproben geprüft, ob der CTQ in beiden
Gruppen dasselbe latente Konstrukt erfasst bzw. dieselben Messeigenschaften
aufweist [27]. Lediglich bei Vorliegen von
mindestens skalarer Messinvarianz (MI) können eventuelle
Mittelwertsunterschiede sinnvoll so interpretiert werden, dass sie Unterschiede
in der Konstruktausprägung widerspiegeln. Dazu wurden konsekutiv
CFA-Messmodelle mit Gleichheitsrestriktionen für Faktorenstruktur,
Ladungen, Intercepts und Itemresiduen zwischen den beiden Gruppen spezifiziert
[28]. Anschließend wurde
jeweils das restriktivere Modell mit dem vorhergehenden, weniger strikten Modell
verglichen, wobei die Verschlechterung des CFI durch jede zusätzliche
Restriktion nicht größer als 0,01 sein sollte [29].
Um eventuelle Unterschiede in soziodemographischen Merkmalen als Kovariate beim
Vergleich der beiden Stichproben hinsichtlich der Erinnerung von
Kindesmisshandlungen berücksichtigen zu können, wurden lineare
Regressionsanalysen mit den jeweiligen dimensionalen Werten der CTQ-Subskalen
als abhängige Variablen und Gruppe (in der DDR bzw. BRD geboren und bis
1990 aufgewachsen) als Prädiktorvariable berechnet. Die
Häufigkeitsverteilungen der vier- bzw. zweikategorialen
Ausprägungen der CTQ-Subskalen wurden zwischen den beiden Gruppen
mittels χ2-Test geprüft. Als Signifikanzniveau wurde
ein p<0,05 gefordert.
Ergebnisse
Insgesamt wurden 507 Probanden mit einem durchschnittlichen Alter von 60,5 Jahren
(SD=6,6; Bereich 50 – 74 Jahre) eingeschlossen, von denen
n=209 Frauen (41,2%) und n=298 Männer
(58,8%) waren. In der DDR wurden nach eigenen Angaben 114 (22,5%),
in der BRD 393 (77,5%) der Studienteilnehmer geboren. Die
soziodemografischen Charakteristika der beiden Teilstichproben sind zusammenfassend
in [Tab. 1] dargestellt. Signifikante
Unterschiede fanden sich hinsichtlich der Schulbildung, so dass dieser Faktor in den
weiteren Analysen als Kovariate Berücksichtigung fand. Alle anderen Merkmale
einschließlich aktueller Depressivität, Ängstlichkeit und
psychischer Gesamtbelastung waren in den beiden Gruppen nicht signifikant
verschieden.
Tab. 1 Vergleich soziodemografischer Charakteristika zwischen
Probanden, die in der DDR bzw. BRD geboren und bis zur
Volljährigkeit aufgewachsen sind.
|
DDR
|
BRD
|
Statistik
|
(n=114)
|
(n=393)
|
|
N
|
%
|
N
|
%
|
χ2/T
|
p
|
Alter (Jahre; M±SD)
|
61,0±6,6
|
60,4±6,7
|
0,876
|
0,381
|
Geschlecht
|
|
|
|
|
0,188
|
0,665
|
Frauen
|
49
|
43,0
|
160
|
40,7
|
|
|
Männer
|
65
|
57,0
|
233
|
59,3
|
|
|
Familienstand
|
|
|
|
|
1,153
|
0,562
|
ledig
|
11
|
9,6
|
51
|
13,0
|
|
|
Verheiratet/feste Partnerschaft
|
79
|
70,3
|
270
|
68,7
|
|
|
verwitwet/geschieden
|
24
|
21,1
|
72
|
18,3
|
|
|
Schulbildung
|
|
|
|
|
24,569
|
<0,001
|
Hauptschulabschluss
|
4
|
3,5
|
69
|
17,6
|
|
|
Realschulabschluss/10. Klasse POS
|
67
|
58,8
|
142
|
36,1
|
|
|
(Fach-)Abitur/EOS
|
43
|
37,7
|
182
|
46,3
|
|
|
Monatseinkommen
|
|
|
|
|
1,809
|
0,613
|
Bis 1500 €
|
19
|
16,7
|
66
|
16,8
|
|
|
Bis 2500 €
|
31
|
27,2
|
86
|
21,9
|
|
|
Bis 4000 €
|
34
|
29,8
|
118
|
30,0
|
|
|
Über 4000 €
|
30
|
26,3
|
123
|
31,3
|
|
|
Aktuelle Psychopathologie
|
|
|
|
|
|
|
Depressivität (PHQ-2)
|
0,89
|
1,43
|
1,09
|
1,46
|
− 1,330
|
0,184
|
Ängstlichkeit (GAD-2)
|
0,68
|
1,27
|
0,79
|
1,32
|
− 0,778
|
0,437
|
Gesamtbelastung (PHQ-4)
|
1,57
|
2,61
|
1,89
|
2,64
|
− 1,125
|
0,261
|
Das CFA-Messmodell mit fünf korrelierten Faktoren ergab keine befriedigende
Modellpassung (χ2
(265)=746,20;
p<0,001; CFI=0,89; RMSEA=0,06; SRMR=0,06). Die
Inspektion von Modifikationsindizes ergab Hinweise auf lokale Missspezifikationen.
Daher wurden in der Folge zwischen fünf Paaren von Indikatoren korrelierte
Fehlervarianzen zugelassen. Diese Anpassungen schienen aufgrund semantischer
Ähnlichkeiten zwischen den Items vertretbar (z. B. Item 20
„Während meiner Kindheit und Jugend versuchte jemand, mich sexuell
zu berühren oder mich dazu zu bringen, sie oder ihn sexuell zu
berühren.“ und Item 24 „Während meiner Kindheit und
Jugend belästigte mich jemand sexuell.“). Die Modellanpassungen
resultierten in einem guten Modellfit
(χ2
(260)=472,02; p<0,001;
CFI=0,95; RMSEA=0,04; SRMR=0,05). Die
Messinvarianzprüfung basierend auf dem angepassten CFA-Messmodell legte
nahe, dass von skalarer MI ausgegangen werden kann (▶Online-Tab. 3),
so dass Mittelwertsdifferenzen zwischen den beiden Teilstichproben als Unterschiede
in der Konstruktausprägung aufgefasst werden können.
Aus [Tab. 2] geht hervor, dass Probanden, die
bis zur Volljährigkeit in der DDR aufgewachsen sind, im CTQ signifikant
weniger emotionalen Missbrauch berichteten als Studienteilnehmer, die ihre Kindheit
und Jugend in der BRD verlebt haben. Hinsichtlich aller anderen Formen von
Kindesmisshandlungen zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den
beiden Teilstichproben.
Tab. 2 Vergleich der dimensionalen CTQ-Werte zwischen
Probanden, die in der DDR bzw. BRD geboren und bis zur
Volljährigkeit aufgewachsen sind (kontrolliert für
Schulbildung).
CTQ-Subskalen
|
DDR
|
BRD
|
Regression
|
M
|
SD
|
M
|
SD
|
β
|
p
|
Sexueller Missbrauch
|
5,67
|
2,20
|
5,88
|
2,98
|
0,03
|
0,535
|
Körperlicher Missbrauch
|
6,27
|
2,61
|
6,52
|
3,16
|
0,04
|
0,390
|
Emotionaler Missbrauch
|
6,71
|
2,90
|
7,68
|
4,19
|
0,10
|
0,030
|
Körperliche Vernachlässigung
|
7,46
|
2,53
|
7,52
|
2,96
|
− 0,01
|
0,815
|
Emotionale Vernachlässigung
|
9,69
|
4,46
|
10,76
|
5,51
|
0,08
|
0,081
|
[Abb. 1] veranschaulicht die
Häufigkeiten von Kindesmisshandlungen, wenn die kategoriale
Auswertungsmethode des CTQ angewandt wird: In der linken Spalte ([Abb. 1a]) sind die Verteilungen der
vierstufigen Ausprägungen, in der rechten ([Abb. 1b]) die zweistufigen Ausprägungen dargestellt.
Mäßige, schwere und extreme Formen von emotionalem Missbrauch wurden
von in der BRD aufgewachsenen Probanden signifikant häufiger erinnert als
von jenen, die ihre Kindheit und Jugend in der DDR verbrachten. Die zweistufige
Auswertung des CTQ ergab, dass auch emotionale Vernachlässigung signifikant
häufiger von BRD-Studienteilnehmern erinnert wurde als von DDR-Probanden.
Angaben zu sexuellem und körperlichem Missbrauch sowie zu
körperlicher Vernachlässigung waren in etwa gleich verteilt in
beiden Teilstichproben.
Abb. 1 Häufigkeit von Kindesmisshandlung (vierstufige und
zweistufige Auswertung).
Diskussion
Nach dem sozioökologischen Modell werden Kindesmisshandlungen und ihre
Prävalenzen auf der Makroebene von politischen, ökonomischen und
kulturellen Faktoren determiniert [11]
[12]. Für diese Annahme spricht
u. a. die große Spannbreite der international berichteten
Häufigkeiten, z. B. zu emotionaler Vernachlässigung, die von
knapp 4% bis 80% reicht [8].
Vor diesem Hintergrund untersuchten wir, ob sich die Prävalenzen von
selbstberichteten Kindheitstraumatisierungen in der Allgemeinbevölkerung
zwischen BRD und DDR vor der Wiedervereinigung unterscheiden.
Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Probanden, die in der DDR geboren wurden und dort
bis zur Volljährigkeit aufwuchsen, signifikant weniger emotionalen
Missbrauch angaben, als die aus der BRD stammenden Probanden, wobei sowohl die
dimensionale als auch die kategoriale Auswertung des CTQ zu diesem Resultat kam. Der
gleiche Befund wurde auch von einer unabhängigen Arbeitsgruppe publiziert
[17] und korrespondiert mit anderen
Allgemeinbevölkerungsstudien, nach denen ostdeutsche Probanden ihre Eltern
emotional wärmer und weniger ablehnend bzw. kontrollierend erinnern als
westdeutsche Studienteilnehmer [30]
[31]. Bei der Interpretation dieser Befunde sind
jedoch Sozialisations- und Enkulturationseffekte auf das Gedächtnis zu
berücksichtigen: So führten sozioökonomische Bedingungen in
der DDR (z. B. die Vollzeitberufstätigkeit beider Eltern) und
sozialpolitische Faktoren (etwa die überwiegende Fremdbetreuung bereits ab
dem Säuglingsalter) zu einer geringen Interaktionszeit zwischen Eltern und
Kindern im familiären Rahmen [32]
[33]
[34]
[35], was sich vermutlich in Art
und Inhalt der Erinnerungsrepräsentationen niederschlagen dürfte.
Zudem stellte die kollektive Sozialisierung in meist staatlichen
Betreuungseinrichtungen hohe Anpassungsanforderungen an die so erzogenen Kinder
[32]
[33]
[34]
[35]
[36],
wodurch möglicherweise die Wahrnehmungsschwelle und die
Bewertungsmaßstäbe von Kindesmisshandlungen im Allgemeinen und
emotionalem Missbrauch im Besonderen beeinflusst worden sind. Andererseits legen
Studien nahe, dass die „sozial offenere(n) Ostdeutsche(n)“
„mehr soziale Nähe suchen und sich im Ganzen als mehr sozial
verbunden erleben“ als die „individualistischere(n)
Westdeutsche(n)“ ([37]; S. 15). Zudem
legen sie mehr Wert auf Familienleben, verspüren mehr soziale
Unterstützung und zeigen mehr zuwendungsorientiertes Coping als Probanden
aus der BRD [38]. Es wäre somit
denkbar, dass die Sozialisationsunterschiede zwischen Probanden aus der DDR und der
BRD die Wahrnehmung, die Erinnerung und das Berichten emotional
missbräuchlicher Erfahrungen beeinflussen. Für diese
Überlegung spricht, dass die Items der CTQ-Subskala emotionaler Missbrauch
vergleichsweise offen formuliert sind und somit größeren
Interpretationsspielraum zulassen als die Items der anderen Skalen. Zusammenfassend
muss offen bleiben, ob emotionaler Missbrauch in der DDR tatsächlich
seltener als in der BRD stattfand oder ob dieser Befund ganz überwiegend
durch soziokulturelle Effekte erklärbar ist.
Hinsichtlich anderer Formen von Kindesmisshandlungen ergaben sich keine relevanten
Differenzen zwischen den Teilstichproben. Dieses Ergebnis steht in deutlichem
Kontrast zu den Befunden von Ulke und Kollegen [17]. In dieser Studie berichteten vor 1980 geborene, in Westdeutschland
lebende Frauen signifikant häufiger alle Formen von Kindesmisshandlung als
in der DDR lebende und vor 1980 geborene Frauen. Bei Männern fanden sich
signifikante Unterschiede bezüglich körperlichen und sexuellen
Missbrauchs, die von westdeutschen Probanden mit einer 80% respektive
150% höheren Wahrscheinlichkeit berichtet wurden als von
ostdeutschen Männern [17]. Diese
Kontraste könnten eventuell auf die zunehmende zeitliche Distanz zur
DDR-Vergangenheit zurückgeführt werden, denn während die
Gruppe um Ulke [17] Daten auswertete, die
2010, 2013 und 2016 erhoben worden waren, basieren unsere Befunde auf Erhebungen aus
2022. Eine alternative Erklärung bezieht sich auf ein divergierendes
Erhebungsinstrumentarium und unterschiedliche Einschlusskriterien. So haben Ulke und
Kollegen [17] Probanden eingeschlossen, die
bei der Wiedervereinigung erst 10 Jahre alt waren, und die Differenzierung in Ost-
respektive Westdeutsche anhand des aktuellen Wohnortes vorgenommen und so die
Binnenmigration nicht berücksichtigt. Zudem wurde mit dem CTS ein
ultra-kurzes Screeningverfahren angewandt, das die verschiedenen Formen von
Kindheitstraumatisierungen mit nur je einem Item erfasst, die darüber hinaus
nicht dimensional, sondern dichotomisiert ausgewertet wurden. Im Unterschied dazu
wurde in unserer Studie der CTQ eingesetzt, der die diversen Formen von
Kindesmisshandlungen mit je fünf Items differenzierter abbildet [14]
[15]
und der sowohl dimensional als auch kategorial ausgewertet wurde. Auch wurden
ausschließlich Probanden berücksichtigt, die zum Zeitpunkt der
Wiedervereinigung 18 Jahre oder älter waren und die nach ihrem Geburtsort
der DDR- respektive BRD-Gruppe zugeordnet wurden.
Durch dieses Einschlusskriterium (Alter bei Studienteilnahme≥50 Jahre) war
das Durchschnittsalter der Stichprobe vergleichsweise hoch, so dass altersbedingte
Erinnerungsverzerrungen (Übersicht bei [39]
[40]) nicht ausgeschlossen
werden können. Während mit dem Alter allgemeine
Erinnerungsverzerrungen zunehmen, scheint sich hingegen das autobiographische
Gedächtnis auf das Wesentliche zu fokussieren [41]; daher muss offen bleiben, inwiefern unsere
Befunde durch altersbedingte Gedächtnisveränderungen beeinflusst
sind. Zudem waren beide Teilstichproben gleich alt, so dass Verzerrungen durch
Alterseffekte bei ihrem Vergleich wenig plausibel erscheinen.
Gleichwohl müssen einige methodenkritische Aspekte hervorgehoben werden,
davon insbesondere die im Vergleich zu Ulke et al. [17] deutlich kleinere und nicht in allen soziodemografischen Parametern
repräsentative Stichprobe, v. a. hinsichtlich der
Geschlechterverteilung mit einem Überwiegen der männlichen
Studienteilnehmer. So konnte zwar basierend auf dem angepassten CFA-Modell skalare
Messinvarianz nach dem geforderten Kriterium angenommen werden, jedoch ist
anzumerken, dass sich im SRMR eine substantielle Verschlechterung über die
verschiedenen Messinvarianzstufen zeigte. Auch müssen die Ergebnisse der
MI-Testung hinsichtlich der ungleichen Gruppengröße der beiden
Teilstichproben mit Vorsicht interpretiert werden, da dies zu Verzerrungen in der
Schätzung von faktorieller Invarianz führen könnte [42]. Zudem ist wahrscheinlich, dass eine online
dargebotene Umfrage qua Selbstselektion andere Probanden erreicht und die
interessierenden Ergebnismaße anders abbildet als eine
Repräsentativbefragung mit persönlichem Kontakt zu den
Studienteilnehmern [17]. Diese
Überlegungen unterstreichen abermals, wie zentral die Methodik in Studien zu
Kindesmisshandlungen ist, v. a. bei Prävalenzerhebungen im
Dunkelfeld [12].
Unabhängig davon bleibt festzuhalten, dass epidemiologische Untersuchungen
zur Prävalenz von Kindesmisshandlung nicht nur aus methodischen
Gründen eine Herausforderung darstellen [12], sondern auch wegen ihrer hochsensiblen gesellschaftlichen und
politischen Implikationen besonders sorgfältig zu planen,
durchzuführen und zu interpretieren sind. Gerade hier sind
Replikationsstudien von hoher Relevanz, denn nur auf einer soliden Datenbasis
können aus der Perspektive des sozioökologischen Modells [11] sinnvolle gesundheitspolitische
Maßnahmen zur Primär- und Sekundärprävention von
Kindesmisshandlungen abgeleitet werden.
Konsequenzen für Klinik und Praxis
Konsequenzen für Klinik und Praxis
-
Weil epidemiologische Untersuchungen zur Prävalenz von
Kindesmisshandlungen methodisch herausfordernd sind, erfordern sie eine
gleichermaßen sorgfältige wie ausgewogene Planung,
Durchführung und Interpretation.
-
Das sozioökologische Modell bietet einen sinnvollen Rahmen, um auf
einer breiten Datenbasis gesundheitspolitische Strategien zur
Primär- und Sekundärprävention abzuleiten.