Psychiatr Prax 2024; 51(02): 79-83
DOI: 10.1055/a-2171-4889
Originalarbeit

Suizide unter Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen während der COVID-19-Pandemie – Eine Analyse von Polizeidaten aus drei Bundesländern

Suicides among children, adolescents, and young adults during the COVID-19 pandemic – An analysis of police data from three German federal states
1   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters, Universität, Leipzig
,
2   Pädiatrische Epidemiologie, Universitätsklinikum Leipzig
,
Lars Otto White
1   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters, Universität, Leipzig
,
Daniel Matthias Radeloff
1   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters, Universität, Leipzig
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Zusammenfassung

Zielsetzung Von der COVID-19-Pandemie waren junge Menschen stark betroffen, was zu erhöhter psychischer Belastung und steigenden Prävalenzraten für psychische Störungen geführt hat. Es besteht die Sorge, dass neben einem beobachteten Anstieg der Suizidversuche auch die Suizide zugenommen haben.

Methode Die Studie basiert auf der Polizeilichen Kriminalstatistik (01/2017 bis 12/2022) von drei Flächenbundesländern in Deutschland, die 13 % der Gesamtbevölkerung Deutschlands repräsentieren. Die Suizidzahlen und -raten für die Altersgruppen der Kinder, Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen wurden mit Hilfe von Chi-Quadrat-Tests zwischen dem präpandemischen und dem pandemischen Zeitraum verglichen.

Ergebnisse 860 Personen unter 30 Jahren starben durch Suizid. Die Suizidraten unterschieden sich in keiner der untersuchten Altersgruppen zwischen dem präpandemischen und dem pandemischen Zeitraum.

Schlussfolgerung Bislang ist kein Anstieg der Suizide unter jungen Deutschen zu erkennen. Ein kontinuierliches Suizidmonitoring wird empfohlen.


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Abstract

Objective The COVID-19 pandemic severely affected young people, resulting in increased psychological distress and rising prevalence rates for mental disorders. There is concern that completed suicides have increased in addition to the observed increase in suicide attempts.

Method The study is based on the police crime statistics (01/2017 to 12/2022) of three federal states in Germany, representing 13% of Germany’s overall population. Suicide counts and rates for the child, teenage, adolescent, and young adult age groups were compared between the pre-pandemic and pandemic periods using chi-squared tests.

Results 860 people under age 30 died from suicide. Suicide rates did not differ between the pre-pandemic and pandemic periods in any of the age groups studied.

Conclusion So far, there has been no discernible increase in suicides among young Germans. Ongoing suicide monitoring is recommended.


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Einleitung

Die COVID-19-Pandemie ging für Kinder und Jugendliche mit vergleichsweise geringen körperlichen Risiken durch die Erkrankung selbst einher. Ganz im Gegensatz dazu war die psychische Belastung für diese Altersgruppe ausgesprochen hoch [1] [2], was von Kinder- und Jugendpsychiatern schon zu Beginn der Pandemie erwartet worden war [3] und für Deutschland beispielsweise durch die longitudinale COPSY-Studie bestätigt werden konnte [4]. Dazu trugen vermutlich Schulschließungen, Ausgangsbeschränkungen, fehlende Teilhabe an strukturierten Freizeitbeschäftigungen, aber auch ein allgemeines Klima der Verunsicherung und Unberechenbarkeit bei. Psychische Erkrankungen, insbesondere affektive Erkrankungen [5], Angststörungen [6] und Anorexia nervosa [7] [8], wurden häufiger diagnostiziert und zeigten schwerere Verläufe als im präpandemischen Zeitraum. Ein hoher Anteil stationärer Krisenaufnahmen stand im Zusammenhang mit pandemiebedingten Stressoren [9].

Die schwerste Komplikation psychischer Krankheiten ist der Suizid. Gerade für die Gesamtmortalität von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist Suizid von herausragender Bedeutung und steht weltweit auf einem der vorderen Ränge unter den Todesursachen [10]. Entgegen der schon zu Beginn der Pandemie geäußerten Befürchtungen vor stark steigenden Suiziden in der Allgemeinbevölkerung [11] [12] zeigen die bisher vorliegenden Daten weltweit überwiegend keinen Anstieg, teilweise gingen die Suizidraten sogar zurück [13]. Auch in Deutschland waren die Suizidzahlen 2021 gegenüber den Vorjahren stabil [14]. Eine Auswertung der polizeilichen Kriminalstatistiken, die weniger vom Meldeverzug betroffen sind als die Daten des statistischen Bundesamtes, zeigte ebenfalls keine übergreifende Zunahme der Suizide bei heterogenen Entwicklungen in einzelnen Altersgruppen [15].

Die Situation bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland ist bisher noch unklar. Erste Veröffentlichungen aus England [16] und Japan [17] zeigten zunächst noch keine eindeutigen Veränderungen der Suizidstatistik in einer frühen Phase der Pandemie, in Japan war dann im Verlauf der zweiten Welle aber ein deutlicher Anstieg der Suizidraten bei Kindern und Jugendlichen beobachtet worden [18] [19]. Bridge et al. berichten in einer aktuellen Studie von einer Zunahme von Suiziden unter US-amerikanischen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen während der Pandemie, die gegenüber dem Erwartungswert etwa 200 zusätzlichen Suiziden entspricht [20].

Suizidales Verhalten, insbesondere schwere Suizidversuche, stehen in Zusammenhang mit Suiziden, unter anderem dadurch, dass sich die Risikofaktoren überschneiden und der Suizidversuch der singulär bedeutendste Risikofaktor für einen Suizidtod ist [21] [22]. Eine multizentrische Studie in Deutschland unter Beteiligung von 27 pädiatrischen Intensivstationen ergab eine starke Zunahme schwerer, das heißt intensivpflichtiger, Suizidversuche bei Minderjährigen im zweiten Pandemiejahr 2021 und gab damit Anlass zu Besorgnis [23]. Anderseits sind Suizidversuche im Jugendalter im Altersvergleich generell sehr häufig und übersteigen die Zahl der vollendeten Suizide um mehrere Größenordnungen, weswegen eine einfache Übertragung von Aussagen über Suizidversuche auf Suizide problematisch ist.

Ansatz dieser Arbeit ist eine Auswertung der Suizidfälle bei Kindern, Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen anhand der polizeilichen Kriminalstatistik dreier Bundesländer im Vergleich zu den Vorpandemiejahren. Wir prüfen dabei die Hypothese, dass die Suizidraten in Analogie zu einer Zunahme der Suizidversuche im pandemischen Zeitraum höher waren als im präpandemischen Zeitraum.


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Methoden

Als Datengrundlage wurden die polizeilichen Kriminalstatistiken (PKS) der Bundesländer genutzt. Diese wurden bei den Landeskriminalämtern angefragt. Vorteil dieser Register ist die schnelle Datenverfügbarkeit bei in der Regel nur geringen Abweichungen zur offiziellen Todesursachenstatistik [24]. Die Datensätze der einzelnen Bundesländer, die als Aggregatdaten bereitgestellt werden, unterscheiden sich jedoch in Struktur und Verfügbarkeit erheblich. Die Einschlusskriterien für die Datensätze der einzelnen Länder wurden wie folgt definiert: 1) monatlich ausgewiesene und kurzfristig verfügbare Daten, 2) Stratifizierung nach Altersgruppe und Geschlecht 3), Abdeckung des Zeitraums von 01/2017 bis 12/2022, 4) keine Änderung der Erhebungsmethodik während des Untersuchungszeitraums. In die retrospektive, Register-basierte Untersuchung gingen die nach Geschlecht und Altersgruppen stratifizierten Datensätze von Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein des Zeitraums 01/2017 bis 12/2022 ein, da nur diese die Einschlusskriterien erfüllten.

Wir untersuchten Suizide in den Altersgruppen der Kinder (0–13 Jahre), Jugendlichen (14–17 Jahre), Heranwachsenden (18–20 Jahre) und jungen Erwachsenen (21–29 Jahre). Es wurden die Suizide im präpandemischen Zeitraum (01/2017–02/2020) unterschieden vom pandemischen Zeitraum (3/2020–12/2022).

Mittels 4-Felder-Tafeln und Chi-Sqr-Tests wurde untersucht, ob sich die Suizide der Altersgruppen unter Berücksichtigung der Bevölkerungsstärke vor und nach der Pandemie unterscheiden. Das Signifikanzniveau wurde auf P<0,05 festgelegt.

Das Studiendesign erhielt ein positives Votum der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät des Universitätsklinikums Leipzig und wurde in Übereinstimmung mit der Declaration of Helsinki durchgeführt. Da die Studie auf anonymen Registerdaten Verstorbener basiert, konnte methodenbedingt kein informed consent eingeholt werden. Um eine Identifikation der Suizidenten auszuschließen, wurde nach Altersgruppen aggregiert.


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Ergebnisse

Während des gesamten Untersuchungszeitraums 01/2017–12/2022 starben in den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein 8.697 Menschen (männlich: 6.526 / weiblich: 2.155 / Geschlecht unbekannt oder divers: 16) durch Suizid, darunter waren 7 Kinder (m 0 / w 7), 100 Jugendliche (m 56 / w 44), 148 Heranwachsende (m 106 / w 42) und 605 junge Erwachsene (m 502 / w 103).

Im präpandemischen gegenüber dem pandemischen Zeitraum lag die Suizidrate (SR, Suizide je 100.000 Einwohner) bei 0,09 vs. 0,08 im Kindesalter, 4,80 vs. 3,60 im Jugendalter, 8,64 vs. 6,66 unter Heranwachsenden und 8,03 vs. 9,21 unter jungen Erwachsenen.

Für eine quartalsweise Darstellung der Suizidereignisse siehe [Abb. 1].

Zoom Image
Abb. 1 Suizide pro Quartal nach Altersgruppen. Dargestellt ist die Entwicklung der Suizide je Quartal in den einzelnen Altersgruppen im Zeitraum 01/2017 bis 12/2022. Wegen der geringen Fallzahlen im Kindesalter wurden die Altersgruppen der Kinder und Jugendlichen zusammengefasst (K/J) neben Heranwachsenden (H) und jungen Erwachsenen (jE) dargestellt. Die vertikale Linie kennzeichnet den Beginn der COVID-19 Pandemie in Deutschland. Die gestrichelte horizontale Linie entspricht den durchschnittlichen Suiziden im Gesamtzeitraum.

Für das männliche Geschlecht ergaben sich folgende SR (präpandemisch vs. pandemisch): Kinder 0,00 vs. 0,00, Jugendliche 5,58 vs. 3,49, Heranwachsende 12,55 vs. 8,46 und junge Erwachsene 12,92 vs. 14,34. Für das weibliche Geschlecht ergaben sich folgende SR: Kinder 0,19 vs. 0,15, Jugendliche 3,96 vs. 3,71, Heranwachsende 4,40 vs. 4,74 und junge Erwachsene 2,64 vs. 3,57.

Bei weitgehend konstanter Bevölkerungsstärke der einzelnen Alterskohorten konnte keine Änderung des Suizidrisikos im Vergleich von präpandemischen und pandemischen Zeitraum festgestellt werden (Kinder df=1, X²=0,070, P=0,792; Jugendliche df=1, X²= 2,002, P=0,157; Heranwachsende: df=1, X²=2,411, P=0,120; junge Erwachsene: df=1, X²= 2,851, P=0,091; Gesamt: df=1, X²=0,050, P=0,823).

Gleiches gilt für die im Folgenden genannten Geschlechtsstraten: Männliches Geschlecht (Kinder k. A.; Jugendliche df=1, X²=2,902, P=0,088; Heranwachsende: df=1, X²=3,828, P=0,050; junge Erwachsene: df=1, X²=1,316, P=0,243; Gesamt: df=1, X²=0,543, P=0,461). Weibliches Geschlecht (Kinder df=1, X²=0,071, P=0,790; Jugendliche df=1, X²=0,045, P=0,832; Heranwachsende: df=1, X²=0,056, P=0,813; junge Erwachsene: df=1, X²=2,356, P=0,125; Gesamt: df=1, X²=0,776, P=0,378).


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Diskussion

Wesentliche Ergebnisse dieser Untersuchung sind: Die Suizidraten im Kindesalter, im Jugendalter, unter Heranwachsenden und jungen Erwachsenen änderten sich in der Gesamtbetrachtung der drei untersuchten Bundesländer Rheinland-Pfalz, Sachsen, Schleswig-Holstein während der COVID-19 Pandemie im Vergleich zum präpandemischen Zeitraum nicht. Dies steht im Widerspruch zur eingangs aufgestellten Hypothese, die wir somit verwerfen.

In einer Metaanalyse, die den Einfluss der COVID-19 Pandemie auf regionale und nationale Suizidsterbeziffern untersucht, wird ein heterogenes Bild für die Altersgruppe der unter-20-Jährigen gezeichnet [13]. So blieb das Suizidrisiko dieser Altersgruppe mit Beginn der Pandemie in der Mehrheit der 17 eingeschlossenen nationalen Datensätze unverändert, in vier Staaten sank das Suizidrisiko (Brasilien, England/Wales, Mexiko, Neuseeland), während es in Japan anstieg, was schon im Vorjahr berichtet worden war [19]. In die genannte Metanalyse gingen auch deutsche Regionaldaten ein, ausgewiesen wurde dabei ein Anstieg der Suizidraten männlicher Personen unter 20 Jahren in Sachsen (RR=2,75; p<0,001). Dieser ist jedoch auf außergewöhnlich niedrige Suizidraten in den als Referenz herangezogenen Vorjahren der Pandemie zurückzuführen. Eine Arbeit, die deutsche Regionaldaten des postpandemischen Zeitraums bis Dezember 2022 untersuchte, konnte zeigen, dass sich die differentielle Zusammensetzung der Altersgruppen vor und nach der Pandemie im Altersbereich der Minderjährigen und jungen Erwachsenen nicht änderte [15].

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie stehen bei erster Betrachtung in Diskrepanz zu Berichten über gestiegene Suizidversuchsraten unter Minderjährigen in Deutschland. So berichten Bruns et al. [23] gestiegene Zuweisungen minderjähriger Patienten nach einem Suizidversuch in 27 pädiatrischen Intensivstationen in Deutschland während des zweiten Lockdowns 2020/21. Eine Studie aus Kanada [25] zeigte ebenfalls gestiegene Zuweisungen nach Suizidversuch in einer pädiatrischen Inanspruchnahmepopulation, jedoch nur bei Mädchen in der frühen Adoleszenz. In einer Metaanalyse wurden die Vorstellungsanlässe in pädiatrischen Notfallaufnahmen aus 18 Ländern untersucht. Es zeigte sich ein Anstieg der Vorstellungen infolge eines Suizidversuch (RR=1,22) und wegen Suizidgedanken (RR=1,08) während der Pandemie [26]. Auch in dieser mit 11 Millionen Vorstellungen bislang umfangreichsten Untersuchung waren Mädchen stärker betroffen als Jungen.

Das Jugendalter und junge Erwachsenenalter ist dadurch gekennzeichnet, dass die im Altersspektrum höchsten Suizidversuchsraten auf vergleichsweise niedrige Suizidraten treffen. Das Verhältnis aus Suizidversuchen und Suiziden kann wegen des großen Dunkelfelds der Suizidversuche nur geschätzt werden und liegt wahrscheinlich zwischen 100:1 und 1000:1. Zwar bestehen für Suizidversuche und Suizide breit überlappende Risikofaktoren; Unterschiede zeigen sich unter anderem in der gegensätzlichen Geschlechtswendigkeit, der unterschiedlichen Methodenwahl sowie dem abweichenden Hilfesuchverhalten vor der suizidalen Handlung [27] [28] [29].

Die Untersuchung von Suizidversuchen klinischer Inanspruchnahmepopulationen bringt die Limitation mit sich, dass nur ein Bruchteil der Jugendlichen nach Suizidversuchen medizinisch vorgestellt werden. Die Schwelle zur Vorstellung und Aufnahme wurde wiederum von den Hygienemaßnahmen und geringen Kapazitäten während der COVID-19-Wellen beeinflusst. Zu beachten ist weiterhin, dass die gewählte Suizidmethode die Inanspruchnahme beeinflusst: Patienten, die „harte“ Suizidmethoden wählen, zum Beispiel Sprung aus großer Höhe oder Erhängungsversuche, werden nicht selten auf interdisziplinären operativen Intensivstationen versorgt und gehen somit nicht in die Erhebung der pädiatrischen Intensivstationen ein. Eine Verschiebung der Suizidmethoden kann also zu einer Änderung der Inanspruchnahme der einzelnen Behandlungsabteilungen führen. Insofern steht die Erhöhung der Inanspruchnahme intensivmedizinischer Hilfe nach Suizidversuch im Jahr 2021 nicht im Gegensatz zu den Befunden der vorliegenden Arbeit: Es werden unterschiedliche Populationen und Phänomene des Suizidspektrums beleuchtet.

Spekulativ bleiben im Moment Antwortversuche auf die Frage, warum sich Suizidversuche und Suizide in der Altersgruppe der Adoleszenten zu entkoppeln schienen. Nach unserer Vermutung zeigen sich darin die diskrepanten Dynamiken in unterschiedlichen Patientengruppen während der Pandemie. In einer Gruppe eher jüngerer und vornehmlich weiblicher Adoleszenter, die Suizidversuche vorzugsweise mit wenig letalen Methoden wie Intoxikation durchführen [30], eher medizinische Hilfe über Notaufnahmen und Intensivstationen suchen, und deswegen in das Sichtfeld dieser medizinischen Sektoren geraten, nahm das suizidale Verhalten deutlich zu. In einer anderen, eher älteren und vornehmlich männlichen Gruppe, die Suizidmethoden mit hoher Letalität bevorzugen würde, und sich daher eher in den Suizidzahlen abbildet, kam es offenbar zu keiner wesentlichen Veränderung. Es ist auch vorstellbar, dass der Zugang zu Tötungsmitteln (Zugverkehr, Zugang zu hohen Gebäuden) zumindest während der Zeiträume der strengen Ausgangsbeschränkungen soweit erschwert war, dass dadurch Suizide verhindert wurden.

Unsere Studie hat einige Limitationen: aufgrund der ungeeigneten Datenstruktur konnten die Datensätze der anderen Bundesländer nicht eingeschlossen werden. Klinische Kontextdaten, beispielsweise zu psychischen Erkrankungen, fehlen in den verwendeten Datensätzen grundsätzlich. Die im Altersvergleich niedrigen Suizidsterbeziffern im Kindes- und Jugendalter bedingen eine geringere statistische Power und grenzen die methodischen Möglichkeiten ein. Eine differenzierte zeitliche Auflösung für unterschiedliche pandemische Abschnitte ist deshalb nicht möglich. Auch eine Zeitreihenanalyse, die eine Berücksichtigung von überdauernden linearen Trends ermöglichen würde, wurde aus diesem Grund nicht durchgeführt.


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Konsequenzen für Klinik und Praxis

  • Der Anstieg der kollektiven psychischen Belastung, der diagnostizierbaren psychiatrischen Erkrankungen und der Suizidversuche bei jungen Menschen unter den Ausnahmebedingungen der COVID-19-Pandemie hat in Deutschland glücklicherweise nicht zu einer äquivalenten Zunahme der Suizide geführt. Das zeigt, dass diese Phänomene nicht gleichzusetzen sind. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass sich negative Langzeitaffekte noch entfalten werden und es mit Verzögerung zu einem Anstieg von Suiziden kommt [31].

  • Suizidprävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Um ein möglichst differenziertes Bild des Phänomens Jugendsuizidalität zu erhalten, ist eine Betrachtung aus unterschiedlichen Perspektiven erforderlich. Dabei sollten Suizidversuche, beinahe-letale Suizidversuche und Suizide als in Teilen überlappende Phänomene separat untersucht werden. Speziell ist es erforderlich, Daten auch jenseits der psychiatrischen Inanspruchnahmepopulationen zu erheben, da letztere nur einen Bruchteil der Suizidenten im Kindes- und Jugendalter ausmacht [29]. Gerade wegen der stark differenten Inzidenzraten von Suiziden und Suizidversuchen ist ein standardisiertes Monitoring von beinahe-letalen Suizidversuchen, etwa durch Einweisungen auf Intensivstationen, sinnvoll. Mit Blick auf Kliniksuizide kann auf die in Aufbau befindliche Datenbank des Felber-Instituts hingewiesen werden, dem Suizide auch in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen gemeldet werden können [32].

  • Grundsätzlich erscheint ein bundesweites Suizidregister erstrebenswert. Es würde nicht nur ein zeitnahes Monitoring der Suizidraten in erneuten gesellschaftlichen Ausnahmesituationen ermöglichen, vor allem könnten Informationen über Personen, die vor dem Suizidtod noch nie psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nahmen, analysiert werden und dazu beitragen, dass die Behandlungshürden für diese Population gezielt gesenkt werden.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Rainer Papsdorf
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie undPsychosomatik des Kindes- und Jugendalters, Universitätsklinikum LeipzigLiebigstraße 20a
04109 Leipzig
Deutschland

Publikationsverlauf

Eingereicht: 05. Juni 2023

Angenommen: 07. September 2023

Artikel online veröffentlicht:
09. Oktober 2023

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Abb. 1 Suizide pro Quartal nach Altersgruppen. Dargestellt ist die Entwicklung der Suizide je Quartal in den einzelnen Altersgruppen im Zeitraum 01/2017 bis 12/2022. Wegen der geringen Fallzahlen im Kindesalter wurden die Altersgruppen der Kinder und Jugendlichen zusammengefasst (K/J) neben Heranwachsenden (H) und jungen Erwachsenen (jE) dargestellt. Die vertikale Linie kennzeichnet den Beginn der COVID-19 Pandemie in Deutschland. Die gestrichelte horizontale Linie entspricht den durchschnittlichen Suiziden im Gesamtzeitraum.