Schlüsselwörter Risikomanagement - Allgemeinpsychiatrie - Forensische Psychiatrie - Risikoeinschätzung
Key words Risk management - General psychiatry - Forensic Psychiatry - Risk assessment
Einleitung
Gewaltbereite Patienten stellen die Allgemeinpsychiatrie vor Herausforderungen:
Zugehörige und oftmals auch komplexe Fragen beziehen sich auf das
Gewaltrisiko, Behandlungsoptionen und gewaltpräventive Strategien oder
tangieren juristische Aspekte. Spezialangebote, die allgemeinpsychiatrischen
Mitarbeitenden den Zugang zu forensisch-psychiatrischer Expertise
ermöglichen, sind dennoch rar. Der nachfolgend vorgestellte forensisch
psychiatrische Konsiliardienst unterstützt die allgemeinpsychiatrischen
Kliniken des Kantons Zürich bei der Risikoeinschätzung und im
Fallmanagement.
Hintergrund
Eine Untergruppe psychisch kranker Menschen weist gegenüber der
Normalbevölkerung ein erhöhtes Risiko auf, Gewalttaten zu begehen
[1 ]. Insbesondere Erkrankungen aus dem
schizophrenen Formenkreis [2 ] aber auch
Persönlichkeitsstörungen [3 ]
und affektive Störungen [4 ]
können zu dieser Risikokonstellation beitragen. Nicht nur eine Vorgeschichte
an Gewalthandlungen belastet die Risikoprognose zusätzlich, auch ein
problematischer Substanzkonsum hat eine herausragende Bedeutung bei der Beurteilung
von Risikokonstellationen [5 ]: Die
Substanzgebrauchsstörungen zählen zu den risikoprognostisch
ungünstigsten Erkrankungen in Bezug auf interpersonelle Gewalthandlungen
[6 ].
Obwohl nur ein kleiner Teil der allgemeinpsychiatrischen Patienten später
wegen eines Gewaltdeliktes forensisch-psychiatrisch untergebracht wird, ist bekannt,
dass der überwiegende Anteil der forensisch-psychiatrischen Patienten vorab
allgemeinpsychiatrisch behandelt wurde [7 ].
Gleichzeitig steigt seit Jahren die Anzahl forensisch-psychiatrischer
Unterbringungen [8 ]. Dabei gibt es Hinweise
darauf, dass Patienten trotz hoher Symptombelastung aus der Allgemeinpsychiatrie
entlassen werden [7 ]. Ausserdem kann bei
Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis die Einbindung in das
allgemeinpsychiatrische Versorgungssystem u. a. durch medikamentöse
Malcompliance erschwert sein [9 ].
Hinzu kommt, dass die systematische Erhebung von Risikofaktoren für
interpersonelle Gewalt, wie sie in der forensischen Psychiatrie angewendet wird, bei
allgemeinpsychiatrischen Patienten nicht regelhaft erfolgt. Skalenbasierte
Einschätzungen beziehen sich in der Regel auf das kurzfristige Gewaltrisiko
mit dem Ziel, gewalttätige Zwischenfälle und Zwangsmassnahmen zu
reduzieren [10 ]. Dies ist bedauerlich, denn
mittels spezifischer Risikoprognoseinstrumente Instrumente könn(t)en
Risikopatienten identifiziert werden [11 ],
deren evidenzbasierte Behandlung das Risiko (erneuter) Gewaltanwendung senkt [12 ]. Ihre Anwendung setzt jedoch spezifische
Expertise voraus und bindet zeitliche Ressourcen, die im allgemeinpsychiatrischen
stationären Behandlungssetting häufig fehlen.
In den letzten Jahren wurde der vorab genannten Problematik auf unterschiedliche
Weise Rechnung getragen: Die „Präventionsambulanz“ am
Bezirksklinikum Mittelfranken [13 ] stellt
z. B. ein eigenständiges, forensisch-psychiatrisch geführtes
Behandlungsangebot bereit: Sie betreibt Prävention, indem sie die
allgemeinpsychiatrische Behandlungen um einen forensisch-psychiatrischen Fokus
ergänzt. Andere Modelle bieten forensisch-psychiatrische Beratungsleistungen
unter Nutzung allgemeinpsychiatrischer Strukturen an, ohne dass ein
eigenständiges Behandlungsangebot bereit gestellt wird [14 ].
Der nachfolgend dargestellte forensisch-psychiatrische Konsiliardienst sieht
umfassende Beratungsleistungen für das allgemeinpsychiatrische
Versorgungssystem vor. Er ist Teil der Fachstelle Forensic Assessment & Risk
Management (FFA) der Klinik für Forensische Psychiatrie (KFP) der
Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK), die
allgemeinpsychiatrische Kliniken, Staatsanwaltschaften und Polizei beim Risk
Assessment und Risk Management psychisch auffälliger Personen im Kanton
Zürich unterstützt [15 ].
Der Forensisch-psychiatrische Konsiliardienst des Kantons Zürich
Der Forensisch-psychiatrische Konsiliardienst des Kantons Zürich
Die Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management (FFA) bietet seit 2013
in 4 akutpsychiatrischen Versorgungskliniken, die für 1.6 Mio. Einwohner
zuständig sind, Beratungen an [15 ].
Die Kliniken halten ca. 1 100 Betten vor, in denen pro Jahr rund 12 200 Patienten
stationär mit einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 30 Tagen
behandelt werden. Das Angebot ist wie folgt ausgestaltet:
Im Rahmen forensisch-psychiatrischer Konsile werden eine schriftliche
Beurteilung des Gefährdungspotentials im stationären, in der
Regel akutpsychiatrischen Versorgungsbereich zur Verfügung gestellt
und Empfehlungen zu einer umfassenden, risikosenkenden Behandlung
gegeben.
Seit 2017 werden quartalsweise forensisch-psychiatrische Fallbesprechungen in
den allgemeinpsychiatrischen Kliniken zur Herstellung eines gemeinsamen
Fallverständnisses angeboten – anonym oder mit
Einverständnis der Patienten.
Zudem besteht ein telefonisches Beratungsangebot hinsichtlich relevanter
Risikokonstellationen in allgemeinpsychiatrischer Behandlung.
Das vorgehaltene Angebot ist für die allgemeinpsychiatrischen Kliniken
kostenfrei. Die Finanzierung erfolgt aus öffentlicher Hand.
Die folgende Auswertung dient der Evaluation des Angebots der FFA, wobei ein Fokus
auf die detaillierte Beschreibung der Fallkonstellationen der konsiliarisch
durchgeführten forensisch-psychiatrischen Risikoeinschätzungen und
der daraus abgeleiteten Empfehlungen gelegt wird, um einen Beitrag zur
Qualitätssicherung eines solchen Angebots zu leisten.
Methode
Stichprobe und Ablauf
Vorliegend wurden die zwischen 01/2013 und 05/2021 erstellten
Konsilberichte der durch die 4 akutpsychiatrischen Versorgungskliniken des
Kantons Zürich zugewiesenen stationären Patienten hinsichtlich
Alter, Geschlecht, Diagnosen, Vorgeschichte an Gewalttaten, Substanzmissbrauch
und bzgl. der Konsilanlässe sowie der konsiliarischen Empfehlungen
retrospektiv ausgewertet. Das Bewertungsschema umfasste Items, die demografische
Inhalte beschreiben, aber auch behandlungsbezogene Informationen wie
z. B. die seitens der Behandler gestellten ICD-10-Diagnosen, die Dauer
des Aufenthaltes, oder durchgeführte Zwangsmaßnahmen
während der stationären Behandlung.
Das Angebot von Fallbesprechungen und anonymisierten Risikoeinschätzungen
wurde bei der Auswertung nicht berücksichtigt. Untersucht wurden
volljährige Patienten nach Erteilung ihrer schriftlichen Zustimmung. Die
forensisch-psychiatrische Einschätzung erfolgte u. a. basierend
auf gängigen Prognoseinstrumenten, z. B. dem HCR20
V3
[9 ].
Ziel der qualitätssichernden Auswertung der Konsildaten war es, 1) die
Stichprobe zu beschreiben, die konsiliarisch untersucht wurde und 2)
interferenzstatistische Unterschiede zwischen den häufigsten
Diagnosegruppen mit Blick auf wesentliche Risikofaktoren (Substanzmissbrauch,
Drohung und Gewalt in der Vorgeschichte) zu explorieren. 3) erfolgte die
Erfassung der Konsilanlässe, also der Ereignisse, die seitens der
Allgemeinpsychiater zur Anmeldung eines Patienten führten und 4) wurde
ein interferenzstatistischer Vergleich zwischen den Hauptdiagnosegruppen in
Bezug auf die Konsilanlässe durchgeführt. 5) wurden explorativ
zur Qualitätssicherung des bestehenden Angebots insbesondere die
konsiliarisch ausgesprochenen Empfehlungen ausgewertet.
Statistische Analysen
Die klinischen (Verdachts-)Diagnosen wurden von den anmeldenden Behandlern
gestellt. Bzgl. der Vorgeschichte an Gewalthandlungen und problematischen
Substanzkonsums wurden die dem HCR20 V3
[16 ] zugrundeliegenden Definitionen
herangezogen.
Es wurden Gruppenvergleiche bzgl. der häufigsten Diagnosegruppen
(Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis, affektive Störung,
Persönlichkeitsstörung) durchgeführt. Diese wurden
mittels exaktem Test nach Fisher-Freeman-Halton vorgenommen
(Monte-Carlo-Methode). Als unteres Signifikanzniveau für den Vergleich
der Vorgeschichte an Gewalthandlungen bzw. Substanzmissbrauch innerhalb der
Hauptdiagnosegruppen wurde p =.05 festgesetzt.
Die kategoriale Einteilung der Konsilanlässe orientierte sich an
Nitschke, Sünkel and Mokros [13 ],
wobei die Variable „Selbstgefährdung“ ergänzt
wurde. Für die anschließenden post-hoc Vergleiche bzgl. der
Konsilanlässe wurde das Signifikanzniveau mittels Bonferroni-Korrektur
angepasst (korr. p = .003).
Bei der Auswertung der Empfehlungen wurden Gruppen gebildet, die sich auf die
Behandlung allgemein, medikamentöse Strategien, sozialpsychiatrische
Maßnahmen, Interventionen im strafrechtlichen/ kriminologischen
Kontext sowie die Vervollständigung der Informationsbasis beziehen. Bei
der Auswertung wurden ausschließlich direkt handlungsleitende und keine
konditionalen oder abgestuften Empfehlungen berücksichtigt.
Ergebnisse
Demographische und psychiatrische Informationen der konsiliarisch
untersuchten Personen
Insgesamt wurden ab 2013 innerhalb von 8 Jahren 188 Patienten (ca. 24 /
Jahr) konsiliarisch untersucht. Telefonische Beratungen wurden bei der
Auswertung nicht berücksichtigt, sodass nicht auf den
tatsächlichen Beratungsbedarf geschlossen werden kann bzw. dieser
unterschätzt wird. Es wurden Patienten im gesamten Altersspektrum der
Erwachsenenpsychiatrie (18–81 Jahre) eingeschätzt
(MW=36.42, s=13.35). 90.4% der untersuchten Personen
waren männlichen Geschlechts. Die durchschnittliche
Hospitalisierungsdauer bis zur konsiliarischen Einschätzung betrug 25
Tage (MD=19, Min. 1, Max. 162 Tage). Der überwiegende Anteil der
Patienten (70.7%, n =133) war zum Untersuchungszeitpunkt
per Fürsorgerischer Unterbringung (FU) nach Art. 426 ff. ZGB,
d. h. nach dem schweizerischen Äquivalent zur PsychKHG,
untergebracht. 26.1% (n =49) befanden sich auf
freiwilliger Basis in stationärer Behandlung. Ein kleiner Teil
(3.2%, n =6) befand sich im Haftstatus (i.d.R. in
Untersuchungshaft) und war bei fehlender Hafterstehungsfähigkeit, was
dem schweizerischen Pendant der Haftunfähigkeit entspricht, zur
Krisenintervention in eine allgemeinpsychiatrische Klinik verlegt worden.
40.4% (n=76 ) der untersuchten Patienten gingen keiner
Erwerbstätigkeit nach. Eine Tätigkeit auf dem ersten
Arbeitsmarkt verfolgten 11.2% (n =21), 3.7%
(n =7) waren im beschützten Rahmen
beschäftigt. Bei 27.7% (n =52) Personen war nicht
bekannt, ob bzw. in welchem Beschäftigungsverhältnis sie
standen.
Angaben zur Wohnsituation vor der aktuellen Hospitalisierung lagen bei
92% vor. 19.1% (n =35) lebten in einer betreuten
Wohneinrichtung, 18.6% (n =35) bei Eltern oder
Familienmitgliedern, 25% (n =47) lebten alleine in eigener
Wohnung, 9.6% (n =18) waren obdachlos. 40.5%
(n =76) lebten ohne feste Partnerschaft, 24.5%
(n =46) befanden sich in einer Partnerschaft.
Vor der aktuellen Hospitalisierung waren 24.5% (n =46) nach
dem Kindes- und Erwachsenenschutzrecht verbeiständet, was dem
schweizerischen Pendant der gesetzlichen Betreuung des BGB entspricht. Bei
31.9% (n =60) war bekannt, dass sie Maßnahmen der
Invalidenversicherung in Anspruch nahmen (Rente bzw.
Wiedereingliederungsleistungen).
Bzgl. der psychiatrischen Vorgeschichte fiel auf, dass bei 70.7%
(n =133) stationäre psychiatrische Voraufenthalte
bekannt waren. In einer ambulanten Behandlung befanden sich dagegen vor der
aktuellen Hospitalisierung nur 40.4% (n =76).
Informationen zur Medikamentencompliance vor Eintritt konnten in 41.5%
(n =78) nicht erhoben werden, bei 5.9%
(n =11) war eine Compliance angegeben. 18.1%
(n =34) waren vor Eintritt medikamentös unbehandelt.
Fast die Hälfte der untersuchten Patienten litt an einer Erkrankung aus
dem schizophrenen Formenkreis oder einer wahnhaften Störung (ICD-10:
F20ff. [Abb. 1 ]). Eine komorbide
substanzbezogene Störung wurde bei 58.2% (n =38)
der Patienten mit einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis, bei
51.6% (n =16) der Patienten mit einer
Persönlichkeitsstörung und bei 46.6%
(n =13) der Betroffenen mit einer affektiven Störung
diagnostiziert. Eine Vorgeschichte eines problematischen Substanzkonsums nach
der Definition des HCR-20 mit entsprechender Herabsetzung des psychosozialen
Funktionsniveaus oder Gesundheitsbeeinträchtigungen wiesen sogar
66.1% auf.
Abb. 1 Verteilung der Diagnosegruppen (nach ICD-10) über
die Gesamtstichprobe (n=188).
Informationen zum Verhalten während des stationären
Aufenthalts und dem Anlass der konsiliarischen
Risikoeinschätzung
18.6% (n =35) der untersuchten Personen benannten
Vorstrafen, während bei 61.2% (n =115)
delinquentes Verhalten beschrieben war, das gemäß Selbstangaben
nicht zu Polizeikontakten / Verurteilungen geführt hat (z. B.
illegaler Substanzkonsum, Trunkenheitsfahrten, Randalieren, Häusliche
Gewalt, Straßenverkehrsgesetzverstöße etc.). Bei
14.4% (n =27) war, basierend auf Selbst- oder
Fremdangaben, ein Waffenbesitz bekannt. Die gleiche Anzahl berichtete
über Gewalterfahrungen in der Kindheit. Gewalthandlungen und / oder
Drohungen in der Vorgeschichte traten beim überwiegenden Teil der
Gesamtstichprobe auf (72.7%). Dabei unterschieden sich die
Häufigkeiten einer Gewaltvorgeschichte und einer Vorgeschichte an
problematischem Substanzmissbrauch nicht zwischen den Diagnosegruppen
(p>.05).
Zwangsmaßnahmen während des stationären Aufenthaltes in
Form einer Isolation wurde bei 25.5% (n =48)
durchgeführt, zwangsmediziert wurden 21.3%
(n= 40).
Wie in [Abb. 2 ] ersichtlich, wurden die
meisten Patienten (insgesamt 58.6%) aufgrund von Gewalthandlungen gegen
Personen oder aufgrund von Drohungen vorgestellt. Mehrheitlich waren mit
23.4% (n =44) professionelle Betreuungspersonen bzw. das
Klinikpersonal betroffen. Mitpatienten waren mit 10.6%
(n =20) tangiert. Das soziale Nahfeld war mit Familienmitgliedern
(12.8%, n =24), Bekannten (5.3%,
n =10) oder Partnern (4.3%, n =8) ebenfalls
häufig Opfer von gewaltassoziierten Verhaltensweisen.
Außenstehende Personen bzw. Fremde (11,2%, n =21)
und Beamte (3,7%, n =7) waren seltener involviert.
Abb. 2 Verteilung der Konsilanlässe über die
Gesamtstichprobe (n=188).
Betrachtet man nur die gewalttätigen Verhaltensweisen während des
Klinikaufenthaltes gegenüber Mitpatienten und Klinikpersonal
(28,7%, n =54), wendeten davon 44,4%
(n =24) körperliche Gewalt an, 46,3% drohten
(n= 25) und 9,3% (n =5) begingen
sexuelle Grenzverletzungen.
Zumeist ergab sich das Bedürfnis nach einer konsiliarischen
Einschätzung aus einer Kombination unterschiedlicher besorgniserregender
Merkmale, etwa einer Drohung unter Waffeneinsatz oder wenn bisherige
Behandlungsversuche ins Leere liefen, wobei jeweils die Hauptfragestellung
für die Analysen berücksichtigt wurde.
Bezüglich der Patienten aus den Hauptdiagnosegruppen (79,8%,
n =150) lässt sich festhalten, dass die Patienten mit
einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis am häufigsten
aufgrund von Gewaltanwendung gegenüber Personen (35,2%,
n =32), Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung
aufgrund von Gewaltfantasien (45,2%, n =14) und Patienten
mit einer affektiven Störung aufgrund von Drohungen bzw. Gewaltfantasien
(32,1%, jeweils n =9) vorgestellt wurden [Tab. 1 ]. Im post-hoc Vergleich erreichten
ausschließlich Unterschiede bei den Gewaltfantasien statistische
Signifikanz. Hier zeigten Patienten mit Persönlichkeitsstörung
ein signifikant häufigeres Vorkommen von Gewaltfantasien als dies bei
Patienten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis der Fall war
(p<0,001).
Tab. 1 Kreuztabelle und post-hoc Vergleich der
häufigsten
Diagnosegruppen*Konsilanlass.
Gewalt gegen Personen
Gewalt gegen Gegenstände / Brandstiftung
Bedrohung
Bedrohliches / Aggressives Verhalten
Gewalt-fantasien
Selbst-gefährdung
Gesamt
Diagnosegruppen
Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis
n [%]
32 [35,2]
5 [5,5]
29 [31,9]
14 [15,4]
8 [8,8]
3 [8,8]
91 [100]
p -Wert
0,016
0,230
0,549
0,549
<0,001*
0,976
Affektive Störung
n [%]
6 [21,4]
0 [0]
9 [32,1]
4 [14,3]
9 [32,1]
0 [0]
28 [100]
p- Wert
0,368
0,230
0,764
0,960
0.089
0,271
Persönlichkeitsstörungen
n [%]
4 [12,9]
1 [3,2]
7 [22,6]
3 [9,7]
14 [45,2]
2 [6,5]
31 [100]
p -Wert
0,036
0,842
0,317
0,424
<0.001*
0,271
Gesamt
42 [28,0]
6 [4,0]
45 [30,0]
21 [14,0]
31 [20,7]
5 [3,3]
150 [100]
[Exakter Test nach Fisher-Freeman-Halton p=0,002;
*p-Werte <0,003 (nach Bonferroni Korrektur),
Cramér’s V 0,297].
Konsiliarisch ausgesprochene Empfehlungen
Bei allen 188 Fällen wurden Empfehlungen abgegeben. Dabei bezog sich die
Mehrheit der Empfehlungen auf die Behandlung (89,4%,
n =168). Die Fortführung der stationären
Behandlung (58%, n =109) stellte die am häufigsten
formulierte Empfehlung dar. Auch medikamentöse Behandlungsempfehlungen
(64,9%, n =122), sozialpsychiatrische Maßnahmen
(63,3%, n =119) wie z. B. Anregen einer Rente
wegen krankheitsbedingter Erwerbsunfähigkeit, Verbeiständung
(Schweizerisches Pendant zur gesetzlichen Betreuung), Unterbringung in einer
betreuten Wohnform wurden häufig festgehalten. Die Empfehlung der
Einholung weiterer Informationen (62,2%, n =117) bezog
sich in der überwiegenden Anzahl der Fälle auf
fremdanamnestische Angaben aus dem sozialen Nahraum (42%,
n =79) bzw. auf vorbehandelnde Kliniken bzw. Therapeuten
(14,9%, n =28), aber auch auf polizeiliche Instanzen und
strafrechtliche Informationen in Zusammenhang mit der fürsorgerischen
Unterbringung.
Empfehlungen im strafrechtlichen / kriminologischen Kontext
(37,2%, n =70), bezogen sich auf das Anregen einer
Begutachtung nach begangener Straftat (13,8%, n =26) oder
die Empfehlung einer Strafanzeige (7,4%, n =14) mit dem
Ziel, eine juristische Grundlage für eine forensisch-psychiatrische
Abklärung ggfs. auch Unterbringung zu schaffen, insbesondere dann, wenn
allgemeinpsychiatrische Behandlungsoptionen ins Leere laufen. Weitere
Empfehlungen bezogen sich auf eine Kontaktaufnahme zu polizeilich organisierten
Gewaltpräventionsstellen (11,7%, n =22) sowie
Maßnahmen in Zusammenhang mit Waffenbesitz (9%,
n =17).
Diskussion
Die Auswertung der seit 2013 durchgeführten forensisch-psychiatrischen
konsiliarischen Untersuchungen zeigt, dass nur eine sehr kleine Gruppe von Patienten
vorgestellt wurde. Der überwiegende Anteil der von der Fachstelle
beurteilten Patienten wies relevante Risikofaktoren für die Anwendung
interpersoneller Gewalt auf, insbesondere einen problematischen Substanzkonsum, aber
auch Gewalttaten und / oder Drohungen in der Vorgeschichte [5 ]. Dies weist darauf hin, dass die
allgemeinpsychiatrischen Behandler gezielt eine relevante Untergruppe von Patienten
einer forensisch-psychiatrischen Beurteilung zuführen.
Fast die Hälfte der Patienten (48%) litt an einer Erkrankung aus dem
schizophrenen Formenkreis. Auch in der Präventionsambulanz des
Bezirksklinikums Mittelfranken [13 ] stellt
diese Diagnosegruppe die häufigste dar (60%). Sie ist mittlerweile
auch in forensisch-psychiatrischen Klinikinstitutionen
überrepräsentiert [9 ].
Betroffene haben aufgrund ihrer Erkrankung nicht nur ein erhöhtes
interpersonelles Gewaltrisiko [2 ], sie werden
auch häufig auf psychiatrischen Akutstationen behandelt [17 ].
Dass sich trotz des hohen Anteils psychiatrisch vorbehandelter Patienten
(70,7%) nur ein vergleichsweise kleiner Anteil vor Klinikeintritt in
ambulanter Behandlung befand (40,4%) überrascht nicht, denn es
scheint sich um ein therapeutisch größtenteils schwer erreichbares
Patientenklientel zu handeln.
Auch von erwachsenenschutzrechtlichen Maßnahmen wie einer
Verbeiständung (schweizerisches Pendant zur gesetzlichen Betreuung) oder
Maßnahmen der Invalidenversicherung (Rente bzw.
Wiedereingliederungsleistungen) konnten die untersuchten Patienten nur zu einem
kleinen Teil profitieren. Damit bildet sich in dieser Patientengruppe eine geringe
soziale Einbindung bzw. Teilhabe ab, die sich auch im privaten Bereich wiederfindet
– angesichts der hohen Anzahl an Wohnungs-, Arbeits- und
Beziehungslosigkeit. Diese Umstände belasten die Risikoprognose
zusätzlich: Insbesondere stellt die in fast 10% der Fälle
detektierte Obdachlosigkeit ein Risikofaktor für interpersonelle
Gewaltanwendung dar [18 ]. Gleichzeitig
erschweren herausforderndes Verhalten, Substanzkonsum und Gewaltereignisse den
Zugang zu Wohnraum. Diese problematische Entwicklung verdeutlicht den Bedarf an
sozialpsychiatrisch ausgerichteten Projekten mit personell und auch von der
Infrastruktur entsprechend ausgestatteten betreuten Wohnheimplätzen [19 ]. Entsprechend bezog sich die
überwiegende Anzahl an Empfehlungen auf eine verbesserte
sozialpsychiatrische Einbindung [20 ].
Lässt sich diese verbesserte sozialpsychiatrische Einbindung nicht erreichen,
so bleibt häufig (nur) die Möglichkeit, des Anregens einer
strafrechtlichen Begutachtung resp. das Prüfen einer Strafanzeige seitens
der behandelnden Einrichtung mit dem Ziel, eine juristische Grundlage für
eine forensisch-psychiatrische Behandlung und ggfs. auch Unterbringungen zu
schaffen. Strafanzeigen dienen also weniger einer
Maßregelprävention, als einem effektiven Opferschutz und zwar dann,
wenn bereits absehbar ist, dass sich Patienten bei einem hohen Risiko für
interpersonelle Gewalthandlungen nicht in allgemeinpsychiatrische
Behandlungsstrukturen integrieren lassen. Ergänzend ist anzumerken, dass die
Schuldunfähigkeit in der Schweiz keine Voraussetzung für einen
stationären wie auch ambulanten „Massnahmenvollzug“
darstellt.
Die Zusammenarbeit mit Polizeilichen Gewaltschutzstellen als weitere Empfehlung ist
hierzulande auch im klinischen Kontext mittlerweile etabliert [21 ]. Spezialisierte polizeiliche Mitarbeitende
nehmen sich vielfältigen Gefährdungs- und Bedrohungssituationen
einschließlich Gefährdungen durch psychisch beeinträchtigte
Personen unter Zuhilfenahme geschulter psychiatrisch-psychologischer Fachpersonen
präventiv an [15 ]. Die
Gewaltschutzstellen halten zwar kein Behandlungsangebot vor, bieten aber die
Möglichkeit, Gefährder zu begleiten, was es ermöglicht,
krisenhafte Verläufe rasch zu erkennen. Dabei ist in der Zürcher
Praxis auch möglich, seitens der Klinik während einer
fürsorgerischen Unterbringung auf polizeiliche Informationen zuzugreifen,
abgebildet in der Empfehlung der Einholung weiterer Fremdauskünfte. Dies
kann z. B. dann der Fall sein, wenn Patienten keine oder nur wenige
Informationen machen (können) aber dennoch schwere(re) Gewaltereignisse zur
Klinikeinweisung geführt haben und ärztlicherseits zu prüfen
ist, ob Unterbringungsvoraussetzungen weiter vorliegen.
Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeiten der Konsilanlässe konnten
in Abhängigkeit von der Zuordnung zur Hauptdiagnosegruppe aufgezeigt werden.
Das Ergebnis, dass schizophrene Patienten im Vergleich zu Patienten mit
Persönlichkeitsstörungen signifikant seltener infolge
geäußerter Gewaltfantasien konsiliarisch untersucht wurden,
könnte dadurch zu erklären sein, dass diese Patienten zumeist derart
schwer erkrankt sind, dass es im Vorfeld der Kontaktaufnahme bereits zu Gewalttaten
kam. Bei den persönlichkeitsgestörten Patienten dagegen
können Gewaltfantasien zum Teil als Ausdruck von Antisozialität
interpretiert werden [3 ], während
Aspekte der Selbstgefährdung bei affektiven Erkrankungen keinen Anlass
boten, forensisch-psychiatrische konsiliarische Einschätzungen vorzunehmen
– abgesehen von geäußerten Absichten eines erweiterten
Suizids oder Drohungen.
Dass mit 23.4% Klinikpersonal am häufigsten Opfer von im
Klinikkontext begangenen Übergriffen wurden, die Anlass für Konsile
waren, deckt sich mit Erfahrungen aus der Praxis und Forschung. In einer Metaanalyse
berechneten Di Giacomo et al. [22 ] eine
Prävalenz von 18% auf akutpsychiatrischen Stationen.
Limitierend ist anzumerken, dass der Nachweis erfolgreich betriebener
Prävention durch das vorgehaltene Angebot nicht geführt werden kann.
Nachuntersuchungen der Patienten erfolgten nicht, eine Aussage über die
Umsetzung der Empfehlungen kann nicht getroffen werden. Die stetige Nutzung des
Angebots mit durchschnittlich 24 Untersuchungen pro Jahr lässt jedoch
vermuten, dass sich der forensisch-psychiatrische Konsiliardienst im
allgemeinpsychiatrischen Alltag etabliert hat und als hilfreich erlebt wird. Dass
die untersuchte Patientengruppe in die Untersuchung einwilligen muss,
schmälert aus Sicht der Autoren den Nutzen des Angebots nicht. Denn die
Verteilung der untersuchten Diagnosegruppen entspricht durchaus den Erwartungen: es
wurde überwiegend eine Patientengruppe untersucht, die ohnehin als schwer
erreichbar gilt, nämlich Patienten, bei denen eine Erkrankung aus dem
schizophrenen Formenkreis diagnostiziert wurde mit einer Vorgeschichte an
Gewalthandlungen und einem belastendem Substanzgebrauch.
Gewaltassoziierte Verhaltensweisen von psychisch kranken Personen fordern nicht nur
die Behandler heraus. Auch die Patienten sind durch häufige Polizeikontakte,
durch hängige Gerichtsverfahren sowie durch aggressive Phänomene
(z. B. Gewaltfantasien) zum Teil selbst schwer belastet. Ihre Bereitschaft
zur freiwilligen Mitwirkung an den hiesigen Abklärungen zeigt, dass durchaus
ein Leidensdruck besteht, der im Rahmen allgemeinpsychiatrischer Behandlungen
adressiert werden sollte. Dabei sollten Betroffene nicht als potentielle
Gefährder stigmatisiert, sondern für gewaltreduzierende
Maßnahmen, die in Zusammenhang mit ihrer psychiatrischen Erkrankung stehen,
gewonnen werden [23 ].
Die Ziele der Gewaltprävention im psychiatrischen Kontext lassen sich leicht
skizzieren: Neben einem effektiven Opferschutz wird durch das Abwenden von
zeitintensiven und langjährigen freiheitsentziehenden
Maßregelbehandlungen das Leid der betroffenen Patienten gemindert bzw. deren
Hilfebedarf adäquat Rechnung getragen. Zudem werden hohe primäre
Behandlungskosten, aber auch die Entstehung sekundärer Kosten reduziert,
indem Polizeieinsätze, Krankentransporte, aber auch Gerichts- und
Opferkosten entfallen [24 ]. Entorf [25 ] schätzt die sogenannten
gesellschaftlichen bzw. volkswirtschaftlichen Kriminalitätskosten auf 3 bis
7% des Bruttoinlandsprodukts (Deutschland). Bei psychisch kranken
Straftätern sind im Fall einer angeordneten strafrechtlichen
Maßnahme lange Verweildauern mit hohen Behandlungskosten zu
berücksichtigen, Tagespauschalen von 1000 CHF bis 1500 CHF sind im
schweizerischen Maßregelvollzug üblich [26 ].
Geht es um die Einschätzung eines Gewaltrisikos psychiatrischer Patienten,
werden zwangsläufig ethische Aspekte tangiert. Es geht dabei um Aspekte der
ärztlichen Schweigepflicht, um Strafanzeigen wegen gewalttätigen
Übergriffen, die während einer psychiatrischen Behandlung gegen
Behandler oder Mitpatienten begangen wurden, aber auch um den Schutz einer
häufig schwerkranken Patientengruppe, die aufgrund ihrer psychiatrischen
Störung ein erhöhtes Risiko hat, den Zugang zum Versorgungssystem zu
verlieren [20 ] und in Kontakt mit der
Strafjustiz zu kommen. Während in anderen medizinischen Fachdisziplinen
präventive Ansätze immer mehr in das Zentrum der Bemühungen
rücken, verliert sich im psychiatrischen Fachgebiet die Prävention
von Fremdaggressivität als Krankheitssymptom im Spannungsfeld zwischen der
Ausschöpfung der Behandlungsmöglichkeiten und der Tragbarkeit
herausfordernder, aggressiver Handlungen im Behandlungssetting.
Es bleibt aber dabei: Psychiatrische Erkrankungen können eng mit
gewaltassoziierten Verhaltensweisen verknüpft sein [27 ]
[28 ].
Um das resultierende Risiko zu adressieren, braucht es in der Allgemeinpsychiatrie
und aus Sicht der Autoren auch im Interesse der Betroffenen entsprechende
Angebote.
Eine Untergruppe psychisch erkrankter Menschen zeigt ein erhöhtes
Risiko, Gewalttaten zu begehen.
Forensisch-psychiatrische Angebote, die an der Schnittstelle zur
Allgemeinpsychiatrie auf die Gewaltbereitschaft von Patienten
fokussieren, sind nur vereinzelt etabliert.
Ein forensisch-psychiatrischer Konsiliardienst bietet dem
allgemeinpsychiatrischen Versorgungssystem eine Hilfestellung bei der
Risikoeinschätzung und im Fallmanagement potentiell
gewaltbereiter Patienten.
Notice
This article was changed according to the erratum on
Nevember 06, 2023.
Erratum
Im oben genannten Artikel wurde ein Autorenname korrigiert.
Die Korrektur wurde in der Onlineversion des Artikels ausgeführt
am: 31.10.2023