Psychiatr Prax 2024; 51(02): 112-113
DOI: 10.1055/a-2250-9799
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Psychiatrie als Beziehungsmedizin

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Die Psychiatrie als Beziehungsmedizin zu bezeichnen, mag trivial erscheinen. Doch in den aktuellen Zeiten ist dies alles andere als selbstverständlich. Denn die Psychiatrie steckt in einer Krise. So analysiert es Thomas Fuchs, der aktuell bedeutendste Vertreter der deutschsprachigen phänomenologischen Psychopathologie. Die vorherrschende Grundannahme vor allem in der psychiatrischen Forschung sei, dass die Psyche und ihre Störungen vollständig auf Neurobiologie und Genetik reduziert werden können. Vor dem Hintergrund dieses Paradigmas zielte ein Großteil der Forschungsprojekte der letzten Jahrzehnte unablässig auf diese Reduktion ab. Das subjektive Erleben Betroffener und deren Einbettung in soziale Kontexte spielten dabei meist keine Rolle. Inzwischen sei aber festzustellen, dass sich daraus kaum Neuerungen für Diagnostik und Therapie ergeben haben. Im Gegenteil, die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Störungen habe dadurch sogar zugenommen. Daher entwickelt Fuchs ein neues, ein ökologisches Paradigma für die Psychiatrie. Ökologie versteht er dabei als Sozialökologie, also als Interaktion der Person mit anderen in einem sozialen Raum.

Die Argumentation ist komplex und auch philosophisch nicht trivial. Im Kern geht es darum, den Menschen und seine Subjektivität als einheitliches Ganzes zu begreifen. Als einheitlicher Organismus lasse er sich nicht auf Neurobiologie reduzieren. Diese können wir zwar aus einer Dritte-Person-Perspektive heraus auf unseren Körper von außen beschreiben. Eine verkörperte Erste-Person-Perspektive oder „Leiblichkeit“ gehöre aber untrennbar zum Menschen. Mit Befunden aus der Kognitionswissenschaft belegt Fuchs, dass geistige Prozesse wie das subjektive Erleben notwendig verkörpert sind. Sie entstehen erst durch die verkörperte Interaktion mit der Umwelt. Der Mensch ist also eine Einheit mit einem Doppelaspekt: Er ist subjektiv gelebter Leib und objektiv beschreibbarer Körper zugleich.

Zugleich möchte Fuchs aber auch die komplexen Beziehungen zwischen dem Menschen, seiner Neurobiologie und seiner sozialen Umwelt erklären. Als Organismus lässt sich der Mensch als aus Teilen bestehendes Ganzes begreifen. Es gibt übergeordnete Prozesse wie z. B. das subjektive Erleben. Diese beeinflussen und strukturieren die untergeordneten, z. B. neuronalen oder biochemischen Prozesse. Andersherum ermöglichen untergeordnete Prozesse die Entstehung z. B. von Subjektivität. Es kommt zu einer zirkulären Kausalität: Das Ganze des Organismus und seine untergeordneten Teile beeinflussen sich wechselseitig. Es besteht also eine zirkuläre Kausalität zwischen den vertikalen Hierarchieebenen eines Organismus. Fuchs beschreibt aber auch eine horizontale zirkuläre Kausalität. Diese spielt sich zwischen den Elementen jeweils einer Ebene ab. Auf neuronaler Ebene wechselwirken Nervenzellen z. B. durch synaptische Plastizität. Interessanter wird diese jedoch auf Ebene des Organismus. Der Mensch ist als verkörperter Organismus eingebettet in seine Umwelt: „Subjekt und Welt bestehen nicht getrennt voneinander, sondern konstituieren und verändern sich einander fortwährend“ (S. 118). Verkörperte Interaktionen sind notwendig für Bedürfnisbefriedigung und Selbsterhaltung. Auch unseren Mitmenschen begegnen wir immer als verkörpertes Ganzes. Ständig senden und empfangen wir nonverbale Signale. Gleich einem Tanz mündet dies in einer wechselseitigen Resonanz oder Zwischenleiblichkeit. Diese Interaktionen werden zudem stets durch soziokulturelle Rahmenbedingungen geprägt.

Was bedeutet das für die Psychiatrie? Psychische Störungen seien „Störungen des verkörperten Selbst in Beziehung“ (S. 138). Schlägt die vertikale Wechselwirkung zwischen dem Organismus und seinen Teilen fehl, kommt es zu Störungen des Selbst. Hiermit sind jedoch unauflöslich horizontale Störungen der Beziehung zu anderen verbunden. Zudem haben auch psychische Störungen einen Doppelaspekt. Sie betreffen zugleich subjektives Erleben und biologische Prozesse. Dies veranschaulicht Fuchs anhand klinischer Beispiele wie dem der Depression. Diese geht meist auf eine als Belastung empfundene Situation zurück. Dieses subjektive Erleben führt vertikal, vermittelt durch bestimmte Hirnareale, zu einer physiologischen Stressreaktion. Horizontal kommt es zu negativen Rückkoppelungen mit der sozialen Umwelt, z. B. Konflikten oder sozialem Rückzug. Diese verstärken die negative Bewertung der eigenen Situation zusätzlich. Depressionen resultieren demnach nicht aus einem Mangel an Serotonin, sondern primär aus dem subjektiven Erleben. Erst durch zirkuläre Kausalität entstehe eine den ganzen Organismus betreffende Störung. Eine Psychiatrie, die diesen Wechselwirkungen Rechnung trägt, sei eine Beziehungsmedizin. Als solche sei sie die „Wissenschaft und Praxis von biologischen, psychischen und sozialen Beziehungen, ihren Störungen und ihrer Behandlung“ (S. 11).

Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich?

Für die psychiatrische Forschung ergibt sich der Auftrag, die Person als irreduzibles Ganzes zu begreifen. Es gilt, Subjektivität und ihre Wechselwirkungen mit Neurobiologie und Umweltfaktoren zu berücksichtigen. Dies sei auch in der an Popularität gewinnenden sozialen Neuropsychiatrie zu wenig der Fall. Deren Forschungsprogramme streben zumeist danach, die Wirkung von Umweltfaktoren auf neuronale Korrelate zu reduzieren. Das hält Fuchs für fatal, denn Umweltfaktoren wirken eben nicht direkt auf das Gehirn, sondern nur über das subjektive Erleben einer Person in ihrer sozialen Umwelt. Mit Spannung darf erwartet werden, inwiefern sich das ökologische Paradigma in Form erfolgreicher Forschungsprogramme behaupten wird. Der Erfolg wird an empirischen Ergebnissen zu messen sein. Deren Umfang fällt in der phänomenologischen Psychopathologie insgesamt leider bislang relativ gering aus.

Konkrete Empfehlungen für die psychiatrische Praxis fallen ebenfalls noch überschaubar aus. Fuchs behält die klinische Umsetzung für eine künftige Neuauflage vor und skizziert nur einige Ansätze. Eine „ökologische Psychotherapie“ verlagere den Fokus weg von inneren Prozessen und Strukturen Betroffener. Stattdessen gehe es um eine ganzheitliche Betrachtung der verkörperten Interaktionen. Hierauf aufbauend erscheinen vor allem systemische und sozialpsychiatrische Maßnahmen indiziert. Diese können auf die Förderung verkörperter Interaktionen (z. B. Bewegungs- oder Musiktherapie), die Schaffung geschützter Räume (z. B. Open Dialogue, Soteria, Home Treatment) oder familiäre Unterstützung abzielen. Zudem betont Fuchs die Wichtigkeit sozialpräventiver Maßnahmen, die in der Psychiatrie weitgehend vernachlässigt würden.

Auch auf theoretischer Ebene bleiben noch lose Fäden zum Weiterdenken. Einerseits wird der Status soziokultureller Faktoren nicht konsequent zu Ende gedacht. Begreift man die sozialen Systeme analog zu Organismen als selbsterhaltende Systeme [1], kommt man nicht umhin sie als Teil auch der vertikalen und nicht nur horizontalen Kausalität aufzufassen. Fuchs‘ Beispiele für eine Abwärtskausalität sozialer Kontexte bis hinunter zur Genexpression sind daher weiter zu verfolgen. Andererseits erkennt Fuchs die natürliche Umwelt zwar als „wirkmächtige Realität“ und mit der menschlichen Kultur verschränkt an (S. 127). Sie wird insgesamt aber weitgehend ausgeblendet. Dies ist im Rahmen des thematischen Fokus nachvollziehbar. Dennoch erscheint gerade die Integration der natürlichen Umwelt in die menschliche Psyche betreffende zirkuläre Kausalitäten vor dem Hintergrund der ökologischen Krisen vielversprechend.

Zielgruppe des Textes sind grundsätzlich alle Angehörigen von Heilberufen für psychische Gesundheit mit philosophischem Interesse. Dies gilt vor allem, wenn sie vor dem komplexeren Werk „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“ bislang zurückgescheut sind [2]. Bei „Psychiatrie als Beziehungsmedizin“ handelt es sich um eine im Vergleich hierzu gekürzte, vereinfachte Adaptation mit einem Fokus auf die Psychiatrie als Fachdisziplin. Mit gewohnt nüchternem, aber klaren Sprachstil und vielen praxisnahen Beispielen untermauert Fuchs sein ökologisches Paradigma. Explizite Vorkenntnisse sind für ein Textverständnis nicht notwendig. Trotz dieser Entschlackungskur vermittelt „Psychiatrie als Beziehungsmedizin“ jedoch ein philosophisch elaboriertes Theoriegebäude. Nicht alle werden hierzu Zugang finden.

Nichtsdestotrotz ist festzuhalten: Fuchs liefert ein gerade in Zeiten eskalierender ökologischer und sozialer Krisen außerordentlich relevantes Buch. In vielen Natur- und Geisteswissenschaften ist der Paradigmenwechsel hin zur Ökologie bereits ins Rollen gekommen. Die Ökologie, so wurde prognostiziert, werde im 21. Jahrhundert die Physik als Wissenschaftsideal ablösen [3]. Fuchs trägt dieser Entwicklung Rechnung. Er entwirft ein für die Psychiatrie zukunftsweisendes ökologisches Paradigma. Auf dessen Basis können die Wechselwirkungen zwischen Krisen und psychischer Gesundheit besser verstanden werden. Die theoretische Begründung des neuen Paradigmas gelingt dabei mit beeindruckender Klarheit und Überzeugungskraft. Insbesondere philosophisch interessierte Psychiaterinnen und Psychiater wird dieses Buch zum Mit- und Weiterdenken anregen.

Marco Kramer, Bochum



Publication History

Article published online:
05 March 2024

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  • Literatur

  • 1 Luhmann N. Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt: Suhrkamp; 1984
  • 2 Fuchs T. Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. 6. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer; 2021
  • 3 Homer-Dixon T. The Newest Science: Replacing Physics, Ecology Will Be the Master Science of the 21st Century. Alternatives Journal 2009; 35: 8-38