Nervenheilkunde 2024; 43(09): 524-526
DOI: 10.1055/a-2313-3492
Gesellschaftsnachrichten
Kopfschmerz News der DMKG

Situative Prävention: ein Hybrid zwischen klassischer Akutmedikation und pharmakologischer Prävention

 

** Lipton RB, Ailani J, Mullin K, et al. Situational prevention: Pharmacotherapy during periods of increased risk for migraine attacks. Headache 2024; 64(7): 859–864. doi: 10.1111/head.14775

Hintergrund

Die Behandlung der Migräne wird klassisch in Akut- und präventive Therapie unterschieden. Dabei erfolgt die Akuttherapie üblicherweise während der begonnen Migräneattacke, wobei ein möglichst rascher Beginn empfohlen wird [1]. Unabhängig vom Migränezyklus werden präventive Therapien eingesetzt, die die Krankheitsaktivität beeinflussen sollen. Das Konzept der situativen Prävention ist eine Alternative zu dieser binären Trennung von Therapiekonzepten.


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Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit stellt eine Fallserie von 3 Fällen dar, in denen das Behandlungskonzept der situativen Prävention eingesetzt wurde. Voraussetzung hierfür ist nach Aussage der Autoren die Entwicklung der Subtanzgruppe der Gepante mit ihren spezifischen Eigenschaften. Hier seien das rasche Einsetzen des präventiven Effekts und die wahrscheinliche fehlende Induktion eines Kopfschmerzes bei Medikamentenübergebrauchs (MOH) bei häufiger Einnahme genannt. Letzteres ist insbesondere relevant, da einige Gepante auch als Akuttherapie eingesetzt werden können (z. B. Rimegepant, Ubrogepant, Zavegepant). In den präsentierten Fällen wurde die Einnahme von Rimegepant 75 mg 1x/Tag über 1–5 Tage in Situationen empfohlen, die den Betroffenen als typischerweise attackenauslösend bekannt war. Die erste 33-jährige Patientin litt unter 4–6 Attacken/Monat, welche vor Prüfungen auftraten und ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigten. Ihr wurde empfohlen, die Medikation am Tag vor der Prüfung und an beiden Prüfungstagen einzunehmen. Migräneattacken in Prüfungsphasen traten nun nicht mehr auf. Die zweite 46-jährige Patientin litt unter Migräneattacken am Samstagmorgen nach einer Arbeitswoche. Ihr wurde empfohlen, die Medikation ab Freitagabend fest einzunehmen, und über das Wochenende im Falle von Kopfschmerzen fortzuführen. Bei Wiedervorstellung berichtete sie, dass die Wochenenden nun ohne Migräneattacken abliefen. Die dritte 36-jährige Patientin berichtete häufige Migräneattacken bei außergewöhnlichen Lebensereignissen und Flugreisen. Ihr wurde empfohlen, am Tag vor solcher Ereignisse die Medikation einzunehmen und bis zu 5 Tage fortzusetzen. Sie konnte in der Folge die Hochzeit ihrer Schwester besuchen, ohne eine Migräneattacke zu erleiden.


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Kommentar

Die Autoren stellen das Konzept der situativen Prävention vor, welches einigen Lesern bereits aus der Behandlung der menstruellen oder menstruationsassoziierten Migräne bekannt vorkommen wird. Hier werden langwirksame Akuttherapien (z. B. Naratriptan, Naproxen) zur Kurzzeitprävention eingesetzt. Dieses Konzept wird nun durch die situative Prävention erweitert, insbesondere da die Limitation der Induktion eines MOH bei häufiger Einnahme einer Akutmedikation bei Gepanten entfällt [2]. Die vorgestellten Fälle liefern sicherlich noch keine überzeugende Evidenz der situativen Prävention mit einer bestimmten Substanz. Die Autoren argumentieren jedoch, dass sie für das Konzept sensibilisieren und die Durchführung prospektiver kontrollierter Studien motivieren wollen. Es bleibt also abzuwarten, ob sich eine weitere Vorverlagerung der Behandlung jenseits der Prodromalphase einer Migräneattacke evidenzbasiert etabliert [3].

Robert Fleischmann, Greifswald


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Vergleich zwischen Cinnarizin und Amitriptylin in der prophylaktischen Therapie der kindlichen Migräne: eine randomisiert-kontrollierte Studie

****Olfat M, Hosseinpour S, Masoumi S, et al. A comparative study on prophylactic efficacy of cinnarizine and amitriptyline in childhood migraine: a randomized double-blind clinical trial. Cephalalgia 2024; 44(4): 3331024241230963. doi: 10.1177/03331024241230963

Hintergrund

Kopfschmerzen stellen die häufigste Ursache für Schmerzen im Kindes- und Jugendalter dar und können mit einer erheblichen Einschränkung der Alltagsfähigkeit einhergehen [1], [2]. Das trifft vor allem für junge Patienten mit körperlich einschränkenden Migräneattacken zu. Eine chronische Migräne (CM) kann schon im Jugendalter, seltener bei Kindern auftreten, ist in diesem Alter jedoch deutlich besser zu therapieren im Vergleich zum Erwachsenenalter. Die Prävalenz der CM in der Altersgruppe der 16–18-jährigen am größten [3]. Die Therapie von einschränkenden Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter sollte immer auf Grundlage des biopsychosozialen Schmerzmodells, und somit interdisziplinär und multimodal erfolgen. In seltenen Fällen und unter strenger Nutzen-Risiko-Abwägung kann eine prophylaktische medikamentöse Therapie der CM im Kindes- und Jugendalter notwendig sein. Diese randomisiert-kontrollierte Studie vergleicht den Kalziumkanalblocker Cinnarizin und das trizyklische Antidepressivum Amitriptylin in der prophylaktischen Therapie der juvenilen Migräne bei jungen Kopfschmerzpatienten im Iran.


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Zusammenfassung

Für die Studie wurden 60 Kinder und Jugendliche im Alter von 4–17 Jahren mit einer Migränediagnose basierend auf den ICHD-IIIß-Kriterien eingeschlossen. Kriterien für die medikamentöse Prophylaxe waren eine hohe Kopfschmerzfrequenz und/oder ein PedMIDAS-Score > 20 Punkten. Die Patienten wurden über 3 Monate hinweg monatlich befragt (T1 = nach 4 Wochen, T2 = nach 8 Wochen, T3 = nach 12 Wochen). Cinnarizin wurde mit 1,5 mg/kg/d für Kinder unter 30 kg verschrieben, für Kinder > 30 kg mit 50 mg/d. In der Amitriptylingruppe erfolgte die Dosierung mit 1 mg/kg/d bis max. 50 mg/d. In beiden Gruppen erfolgte eine abendliche Einnahme. Als primärer Endpunkt wurde eine Reduktion der Kopfschmerzcharakteristiken von > 50 % (p < 0,005) festgelegt. Als sekundärer Endpunkt wurde die Reduktion der kopfschmerzbedingten Alltagseinschränkung (PedMIDAS) erfasst.

30 Patienten wurden für jede Gruppe doppelverblindet ausgewählt, in der Cinnarizingruppe konnten am Ende 22 Patienten, in der Amitriptylingruppe 21 Patienten eingeschlossen werden. Das mittlere Alter betrug 10,62 ± 3,77 Jahre. Die mittlere Kopfschmerzfrequenz betrug zu Studienbeginn in der Cinnarizingruppe 12,42 ± 8,64 Tage und die der Amitriptylingruppe 17,57 ± 11,58 Tage (p = 0,13). Die Länge der Migräneattacken war in der Amitriptylingruppe signifikant länger (110,9 ± 90,8 min. in der Cinnarizingruppe vs. 360,0 ± 497,5 min. in der Amitriptylingruppe, p = 0,045). In der Cinnarizingruppe zeigte sich zu T1 eine Reduktion der Kopfschmerzen um 14,88 %, zu T2 von 33,92 % und T3 von 34,63 % jeweils im Vergleich zu Studienbeginn mit signifikanter Reduktion zu T2 und T3, p < 0,001). In der Amitriptiylingruppe zeigte sich zu T1 eine Reduktion der Kopfschmerzfrequenz von 52,77 %, zu T2 von 56,87 % und T3 zu 57,63 % im Vergleich zu Studienbeginn mit signifikanter Reduktion zu allen 3 Zeitpunkten (p < 0,001). Im Gruppenvergleich reduzierte sich die Kopfschmerzfrequenz in der Amitriptylingruppe zu T1 effektiver im Vergleich zur Cinnarizingruppe (p = 0,004), kein Unterschied zeigte sich zu T2 und T3. Auch in der Reduktion der Länge der Migräneattacken zeigte sich in beiden Gruppen zu allen 3 Zeitpunkten eine signifikante Reduktion (p < 0,001). Im Gruppenvergleich erwies sich Amitriptylin als effektiver in der Reduktion der Länge der Attacken zu allen 3 Zeitpunkten (T1: p = 0,017; T2: p = 0,033; T3: p = 0,018). 10 Patienten aus der Cinnarizingruppe und 14 Patienten aus der Amitriptylingruppe erreichten eine Reduktion der Kopfschmerzfrequenz von > 50 % (p = 0,14). Der PedMIDAS-Score betrug in der Cinnarizingruppe zu Studienbeginn 41,52 ± 38,0 Punkte und reduzierte sich bis zu T3 auf 25,0 ± 24,6 Punkte (p = 0,021). In der Amitriptylingruppe betrug der initiale PedMIDAS-Score 40,37 ± 30,5 Punkte und reduzierte sich bis zu T3 auf 24,3 ± 23,0 Punkte (p = 0,028) ohne signifikanten Unterschied zwischen den beiden Gruppen.


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Kommentar

Die Studie weist ein hochwertiges Studiendesign auf, ist jedoch aufgrund der geringen Gruppengröße nur bedingt aussagekräftig. In Deutschland ist off-label Flunarizin als Kalziumkanalblocker zur prophylaktischen Therapie der chronischen Migräne im Kindesalter einsetzbar, Cinnarizin wird hierzulande nicht verwendet. Auch Amitriptylin wird nur im off-label use zur Behandlung der CM im Kindesalter verwendet. Einzig zugelassen ist der Betablocker Propanolol mit 2 mg/kg/d. Ebenfalls zu erwähnen ist der fehlende Vergleich zu einer Placebogruppe. Die Autoren schreiben im Paper, dass bewusst auf eine Placebogruppe verzichtet wurde, da ältere Studien mit beiden Medikamenten einen Vorteil gegenüber Placebo gezeigt hätten. Jedoch zeigen neuere Vergleiche mit hochwertigem Studiendesign, dass z. B. Topiramat und Amitriptylin keinen Vorteil gegenüber Placebo zeigten, jedoch mit deutlich höheren Nebenwirkungen in der Anwendung verbunden waren [4]. In dieser Studie wird nur bei einem Patienten aus der Cinnarizingruppe von Schläfrigkeit als Nebenwirkung berichtet. Die Einschlusskriterien für die prophylaktische medikamentöse Therapie wurden großzügig gestellt. Ein PedMIDAS-Score von 20 Punkten stellt eine milde Beeinträchtigung aufgrund von Kopfschmerzen dar und sollte eine medikamentöse Prophylaxe kritisch hinterfragen. Im Durchschnitt zeigten die Patienten in beiden Gruppen eine moderate kopfschmerzbedingte Alltagseinschränkung und durchschnittlich mit etwa 12 bzw. 17 Kopfschmerztagen eine hohe Kopfschmerzfrequenz. Beide Medikamente erweisen sich als effektiv in der Reduktion der Kopfschmerzfrequenz, Länge der Migräneattacken und in der Reduktion der kopfschmerzbedingten Alltagseinschränkung, mit schnellerem Ansprechen bereits nach einem Monat unter Amitriptylineinnahme. Zusammenfassend sollte die prophylaktische Therapie der Migräne im Kindes- und Jugendalter dennoch auf einem multimodalen Schmerztherapiekonzept aufgebaut sein und eine medikamentöse Prophylaxe immer unter strenger Nutzen-Risiko-Abwägung und beispielsweise unter Berücksichtigung weiterer Komorbiditäten zur Verhinderung einer fortschreitenden Chronifizierung erwogen werden.

Laura Zaranek, Dresden

INFORMATION

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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete Übersicht bietet

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Gute experimentelle oder klinische Studie

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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter

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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen Mängeln

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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln

Die Kopfschmerz-News werden betreut von der Jungen DMKG, vertreten durch Dr. Robert Fleischmann, Greifswald, Dr. Katharina Kamm, München (Bereich Trigemino-autonomer Kopfschmerz & Clusterkopfschmerz), Dr. Laura Zaranek, Dresden (Bereich Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen) und Dr. Thomas Dresler, Tübingen (Bereich Psychologie und Kopfschmerz).

Ansprechpartner ist Dr. Robert Fleischmann, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Unimedizin Greifswald, Ferdinand-Sauerbruch-Str. 1, 17475 Greifswald, Tel. 03834/86-6815, robert.fleischmann@uni-greifswald.de

Die Besprechungen und Bewertungen der Artikel stellen die Einschätzung des jeweiligen Autors dar, nicht eine offizielle Bewertung durch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.


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Publication History

Article published online:
27 August 2024

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