Schlüsselwörter
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung - Arzneiverordnungen - Medizinische Versorgung - Ärzte - Sekundäranalyse
Keywords
Attention deficit disorder with hyperactivity - Drug prescriptions - Delivery of health care - Physicians - Secondary analysis
Hintergrund
Die Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mit der Kernsymptomtrias
Unaufmerksamkeit, Impulsivität und motorische Unruhe ist eine der häufigsten
Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter [1]; sie erstreckt sich nicht selten bis
ins Erwachsenenalter [2]
[3]. Die Prävalenz von ADHS unter
Kindern wird mit etwa 3–7% angegeben [2]
[4], bei Erwachsenen mit
etwa 3%, bei letzteren mit deutlichem Aufwärtstrend [5]
[6]. Während die Zahl der Kinder, die
ein ADHS-Medikament erhalten, in den letzten Jahren in Deutschland etwas abnahm, gab
es einen deutlichen Anstieg unter Erwachsenen [7].
Sowohl US-amerikanischer Studien zu Kindern/Jugendlichen mit ADHS [8]
[9] wie auch eine Studie auf Basis von
Routinedaten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns zur Versorgungsqualität
erwachsener Patienten mit ADHS [10]
sehen Hausärzte als einen ersten wichtigen Anlaufpunkt. Deren Rolle ist aber gerade
im Rahmen der Pharmakotherapie als weiterhin wichtigster Behandlungsoption [1]
[5] umstritten. Zumindest die initiale
Pharmakotherapie sollte in Deutschland gemäß der Arzneimittelrichtlinie des
Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) ausschließlich durch Spezialisten erfolgen
[11]. Der zugrundeliegende
Beschluss aus dem Jahr 2010 beruht maßgeblich auf einem Risikobewertungsverfahrens
der europäischen Zulassungsbehörde aus dem Jahr 2007, in Folge dessen die Fach- und
Gebrauchsinformationen Methylphenidat-haltiger Arzneimittel geändert wurden.
Ähnliche nationale Vereinbarungen zur initialen Pharmakotherapie gibt es auch zum
Beispiel in Großbritannien [12]
[13]. Auch nach der in Überarbeitung
befindlichen deutschen S3-Leitlinie soll eine medikamentöse Behandlung nur von einem
entsprechend qualifizierten Spezialisten initiiert und unter dessen Aufsicht
angewendet werden, wobei bei Erwachsenen im Gegensatz zu Kindern und Jugendlichen
eine Pharmakotherapie neben der Psychoedukation als primäre Therapieoption bereits
bei leichter und moderater Ausprägung und Beeinträchtigung angesehen wird. In
Ausnahmefällen könnten auch Hausärzte Folgeverordnungen vornehmen [14]. Für die Diagnostik werden
ebenfalls Spezialisten empfohlen: bei Kindern und Jugendlichen ein Facharzt für
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie oder ein Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten oder ein Psychologischer Psychotherapeut mit
Zusatzqualifikation für Kinder und Jugendliche oder ein Facharzt für Kinder- und
Jugendmedizin mit entsprechender Erfahrung und Fachwissen; bei Erwachsenen ein
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Neurologie, Facharzt für
psychosomatische Medizin oder ärztliche oder Psychologische Psychotherapeuten [14].
Demgegenüber plädieren zum Beispiel kanadische Leitlinien, dass Hausärzte vor allem
unkomplizierte Verläufe von Patienten jeglichen Alters mit ADHS eigenständig
behandeln und nur bei komplizierten Verläufen Spezialisten, zum Beispiel Neurologen
oder Psychiater, hinzuziehen [15].
Jenseits dieser unterschiedlichen Positionen ist jedoch unsere Kenntnis über die
tatsächliche Rolle von Spezialisten, also Neurologen oder Psychiatern, einschl.
Kinder- und Jugendpsychiatern, und Haus- und Kinder-/Jugendärzten als Generalisten
in der Versorgung von ADHS sehr begrenzt. Thema der vorliegenden Studie ist die
Versorgung von Kindern und Erwachsenen mit ADHS durch verschiedener Fachärzte. Es
sollte untersucht werden, welche Bedeutung Neurologen und Psychiater bzw. Hausärzte
sowie Kinder- und Jugendärzte bei der Verordnung von ADHS-Medikamenten spielen und
ob sich ihre Bedeutung im 10-Jahres-Zeitraum von 2008 und 2018 verändert hat.
Methoden
Design
Diese Sekundäranalyse beruht auf anonymisierten Verordnungsdaten niedergelassener
Ärztinnen und Ärzte, von IQVIA zur Verfügung gestellt. IQVIA ist ein Unternehmen
im Bereich der Gesundheitsdatenanalyse, um z. B. pharmazeutische Unternehmen bei
Entscheidungen zu unterstützen. Die Abkürzung steht für die beiden früheren, nun
zu IQVIA fusionierten Firmen IMS Health und Quintiles im Jahr 2016.
Bei dem uns zur Verfügung gestellten Ausschnitt aus dem sog. Disease Analyzer
handelt es sich um eine repräsentative Datenbank mit den Daten von über 2500
Praxen mit etwa 8 Millionen Patienten, die regelmäßig für
pharmakoepidemiologische und -ökonomische Fragestellungen, aber auch für
krankheitsepidemiologische Themen ausgewertet wird [16]
[17].
Patienten
Einschlusskriterium für die vorliegende Analyse waren Patienten mit einer
Diagnose ADHS (ICD-10-CM: F90 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung)
zwischen 2008 und 2018, einschließlich Informationen zur Arzt-Fachrichtung sowie
Alter und Geschlecht des Patienten. Die Verordnungsdaten umfassten: Datum des
Besuchs, Wirkstoff als anatomisch-therapeutisch-chemische (ATC) Klassifikation,
Dosis und Packungsgröße. Anhand von Wirkstoff, Dosis und Packungsgröße wurden
die definierten Tagesdosen (DDD) der Verordnungen ermittelt [18].
Ärzte
Wir verglichen die Verordnungen für ADHS-Medikamente von Fachärzten für
Allgemeinmedizin, praktischen Ärzten und hausärztlich tätigen Internisten
(Hausärzten) und Kinder-/Jugendärzten, zusammengefasst als „Generalisten“, mit
den Verordnungen von Neurologen und Psychiatern, zusammengefasst als
„Spezialisten“.
Wenn auch international üblich, könnte diese Unterscheidung in „Generalisten“ und
„Spezialisten“ irreführend sein, weil sie nicht berücksichtigt, dass z. B.
bestimmte Kinder- und Jugendärzte oder Hausärzte sich auf ADHS (oder andere
psychische Erkrankungen) spezialisiert haben und insoweit „Spezialisten“-Status
haben. Um zu erfahren, ob die Expertise dazu führt, dass sich diese Ärzte eher
in Richtung ihrer Fachgruppe (also der Generalisten) oder in Richtung der von
uns als Spezialisten definierten Ärzte verhält, haben wir in zwei Sub-Analysen
jeweils die 10 Prozent der Kinder- und Jugendärzte bzw. Hausärzte mit den
meisten Patienten mit Verordnungen von ADHS-Medikamenten gesondert betrachtet
und überprüft, ob sich die absoluten und relativen Veränderungen im
Verordnungsumfang denen der übrigen Gruppe der Kinder- und Jugendärzte bzw.
Hausärzte ähneln oder eher denen der Spezialisten (also Neurologen und
Psychiatern).
In einer weiteren Sub-Analyse sollten mögliche Unterschiede in der medikamentösen
Versorgung zwischen Kinder-/Jugendpsychiatern und Erwachsenenpsychiatern
beachtet werden. Da in der Datenbank nicht zwischen diesen Arztgruppen
unterschieden wird, untersuchten wir das Durchschnitts- und Medianalter der
Patienten auf Praxisebene und definierten die psychiatrische Praxen mit einem
Durchschnittsalter der Patienten zwischen 10,9 und 14,6 Jahren (Median 10–12
Jahre) als Praxen von Kinder-/Jugendpsychiatern; die übrigen psychiatrischen
Praxen mit einem mittleren Alter der Patienten zwischen 22,3 und 36,5 (Median
19–34) wurden als Praxen von Erwachsenenpsychiatern definiert. Dementsprechend
teilten wir die Praxen von Psychiatern in diese beiden Gruppen.
Alle Daten sind arzt- und patientenbezogen nur für eine einzige Praxis, so dass
ein Patient nicht weiterverfolgt werden kann, wenn er/sie die Praxis
wechselt.
Medikamente
Ziel-Medikamente waren die in Deutschland im Untersuchungszeitraum zur Behandlung
bei ADHS zugelassenen Arzneimittel: Dexamfetamin, Lisdexamfetamin und
Methylphenidat sowie Atomoxetin und Guanfacin. Ergebnisse werden deskriptiv –
als absolute und relative Häufigkeiten – der Verordnung dargestellt.
Zur Prüfung der Validität unserer Daten haben wir die relative Häufigkeit der
einzelnen verordneten Wirkstoffe an allen ADHS-Arzneimitteln und deren
Veränderung im Zeitverlauf mit Daten verglichen, die das Wissenschaftliches
Institut der AOK (WIdO) auf Grundlage aller Verordnungsdaten der Gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) veröffentlicht [19]. Danach war die Übereinstimmung
in der relativen Häufigkeit der verordneten Wirkstoffe sehr gut: Drei von vier
Verordnungen betrafen jeweils Methylphenidat (Verordnungsanteil 76,6% in unseren
Daten im Vergleich zu 78,2% nach WIdO) im Jahr 2018, gefolgt von Lisdexamfetamin
(14,1% vs. 11,7%), Atomoxetin (4,6% vs. 5,5%), Guanfacin (3,5% vs. 3,3%) und
Dexamfetamin (1,2% vs. 1,3%). Auch in der Entwicklung von 2016 – dem ersten
Jahr, in dem alle 5 Wirkstoffe in Deutschland zugänglich waren – bis 2018 zeigte
eine gute Übereinstimmung mit jeweiliger Abnahme der relativen Häufigkeiten für
Methylphenidat (Abnahme von 2,3 Prozentpunkten in unseren Daten im Vergleich zu
minus 3,2% nach WIdO) und Atomoxetin (minus 1,9% vs. minus 0,8%) und Zunahme der
neueren Wirkstoffe Guanfacin (jeweils plus 2,2%), Lisdexamfetamin (plus 1,6% vs.
plus 1,4%) und Dexamfetamin (plus 0,5% vs. plus 0,4%).
Ergebnisse
Insgesamt 620 Ärzte lieferten Daten für 77 504 ADHS-Patienten, vor allem Hausärzte
(437/620; ≙ 70%), sowie 92 Kinder- und Jugendärzte (15%), 64 Neurologen (10%) und 27
Psychiater (4%). Etwa zwei Drittel der Patienten waren männlich (53 634 von 77 504).
Es handelte sich bei 72,1% um Kinder/Jugendliche (55 908/77 504) und bei 27,8% um
Erwachsene (fehlende Angabe bei 0,1%; 43/77 04). Im Folgenden berichten wir die
absolute und relative Zahl von ADHS-Patienten mit einer Medikamentenverordnung im
Zeitverlauf, zunächst unter dem Aspekt, welche Facharztgruppe diese Medikamente
verordnete bzw. welchen Anteil Generalisten und Spezialisten daran hatten;
anschließend wird diese Entwicklung gesondert für Kinder/Jugendliche und Erwachsene
dargestellt.
Zwischen 2008 und 2018 erhielten etwa 38% (29 396 von 77 504) aller Patienten
mindestens einmal eine Verordnung für ein ADHS-Medikament. Vor allem Patienten, die
von einem Psychiater oder Neurologen behandelt wurden, erhielten eine
Arzneiverordnung (57% oder 48%); Kinder- und Jugendärzte verordneten nur 33% ihrer
Patienten mindestens einmal ein Medikament, Hausärzte nur 17%.
Von 2008 bis 2012 stieg die Zahl der Patienten, die ein ADHS-Medikament erhielten, um
36% (von 6613 auf 8969 Patienten) und fiel danach um 16%: auf 7533 Patienten in 2018
([Tab. 1]). Der Anstieg beruhte
vor allem auf einem Anstieg in psychiatrischen Praxen, die 2012 – im Vergleich zu
2008 – 90% mehr Patienten ein ADHS Medikament verordneten (Anstieg von 2386 auf
4539); auch bei ihnen ging in der Folge die Zahl bis 2018 etwas zurück. Bei
Neurologen zeigte sich ein kontinuierlicher Anstieg von 240%, von allerdings nur 300
Patienten im Jahr 2008 auf 1022 im Jahr 2018. Im Gegensatz dazu ging die Zahl von
Patienten, die von Haus- und Kinder-/Jugendärzten, die ein ADHS-Medikament
erhielten, kontinuierlich zurück: um 23% bei den Hausärzten (von 639 auf 490) und um
30% bei den Kinder- und Jugendärzten (von 3288 auf 2312) ([Tab. 1]).
Tab. 1 Patienten mit Verordnung eines ADHS-Medikaments; 2008
bis 2018*.
|
Alle Patienten
|
|
|
2008
|
2009
|
2010
|
2011
|
2012
|
2013
|
2014
|
2015
|
2016
|
2017
|
2018
|
Hausärzte
|
N
|
639
|
682
|
733
|
633
|
623
|
614
|
533
|
507
|
490
|
500
|
490
|
%
|
9,7
|
9,3
|
9,0
|
7,2
|
6,9
|
7,2
|
6,6
|
6,5
|
6,3
|
6,5
|
6,5
|
Kinder- und Jugendärzte
|
N
|
3288
|
3375
|
3489
|
3485
|
3237
|
2974
|
2819
|
2692
|
2511
|
2362
|
2312
|
%
|
49,7
|
45,9
|
42,7
|
39,8
|
36,1
|
34,8
|
34,7
|
34,4
|
32,5
|
30,8
|
30,7
|
Neurologen
|
N
|
300
|
324
|
368
|
434
|
570
|
692
|
765
|
792
|
856
|
939
|
1.022
|
%
|
4,5
|
4,4
|
4,5
|
5,0
|
6,4
|
8,1
|
9,4
|
10,1
|
11,1
|
12,2
|
13,6
|
Psychiater
|
N
|
2386
|
2970
|
3588
|
4196
|
4539
|
4256
|
4016
|
3844
|
3868
|
3872
|
3709
|
%
|
36,1
|
40,4
|
43,9
|
48,0
|
50,6
|
49,9
|
49,4
|
49,1
|
50,1
|
50,5
|
49,2
|
Alle Praxen
|
|
6613
|
7351
|
8178
|
8748
|
8969
|
8536
|
8133
|
7835
|
7725
|
7673
|
7533
|
* Die Tabelle zeigt zeilenweise die Anzahl (N) der Patienten, die von der
jeweiligen Fachgruppe Verordnungen von ADHS-Medikamenten in den Jahren 2008
bis 2018 erhalten haben, woraus der zeitliche Gesamttrend für die Fachgruppe
erkennbar ist. Zusätzlich ist der Anteil (%) der Patienten aufgeführt, der
in dem jeweiligen Jahr auf diese Fachgruppe entfallen ist, woraus pro Spalte
jeweils 100 Prozent resultieren.
Ärzte, die wir – gemäß des Alters der von ihnen behandelten Patienten – als
Kinder-/Jugendpsychiater definiert hatten (n=7), zeigten denselben Trend, wie für
alle Psychiater beschrieben, nämlich einen Anstieg der Medikamentenverordnungen von
11044 auf 22378 zwischen 2008 und 2012 und dann ein Plateau bis 2018. Im Gegensatz
dazu zeigten die als Erwachsenenpsychiater definierten Ärzte (n=20), ein ähnliches
Muster wie die Neurologen, d. h. einen stetigen Anstieg der medikamentös versorgten
Patienten während des Studienzeitraums (von 632 auf 2651 Verordnungen).
Die Veränderung in der medikamentösen Versorgung wird noch deutlicher, wenn wir die
Ärzte zu zwei Hauptgruppen, Generalisten und Spezialisten, zusammenfassen und
vergleichen. Erhielten im Jahr 2008 noch 59% der Patienten ihre Verordnung von einem
Generalisten und 41% von einem Spezialisten, so drehte sich das Verhältnis im Jahr
2018 ins Gegenteil: nur noch 37% erhielten ihr Medikament von einem Generalisten und
die überwiegende Mehrheit (63%) von einem Spezialisten. Das Ergebnis ist ähnlich,
wenn wir statt der Rezepte die definierten täglichen Dosen (DDD) vergleichen: dann
veränderte sich das Generalist-Spezialist-Verhältnis von 63 zu 37 (2008) auf 35 zu
65 (2018).
Die Veränderung im Verhältnis von Generalisten zu Spezialisten bei der medikamentösen
Versorgung zeigt sich besonders prägnant, wenn man nach Kindern/Jugendlichen und
Erwachsenen unterscheidet. Die Zahl der Kinder/Jugendlichen, denen ein Medikament
verordnet wurde, ging in den Jahren 2008 bis 2018 um insgesamt 21% zurück: von 5694
auf 4478 ([Tab. 2]). Hausärzte
spielten in der Verordnung dieser Medikamente schon 2008 eine marginale Rolle: Nur
9% (485 von 5694) aller Kinder und Jugendlichen mit einer Verordnung erhielten diese
von einem Hausarzt; dieser Anteil schrumpfte noch einmal bis 2018 auf 4%. Auch
Kinder- und Jugendärzte versorgten weniger Patienten medikamentös (Rückgang von 3060
auf 1986); Psychiater vergrößerten gar die Zahl der Kinder/Jugendlichen mit
medikamentöser Versorgung geringfügig. Das Generalist-Spezialist-Verhältnis änderte
sich in der medikamentösen Versorgung von ehemals 62 zu 38 (2008) auf 49 zu 51
(2018).
Tab. 2 Kinder/Jugendliche mit Verordnung eines
ADHS-Medikaments; 2008 bis 2018 *.
|
Kinder/Jugendliche (<18 Jahre)
|
|
|
2008
|
2009
|
2010
|
2011
|
2012
|
2013
|
2014
|
2015
|
2016
|
2017
|
2018
|
Hausärzte
|
N
|
485
|
513
|
520
|
431
|
407
|
343
|
284
|
261
|
214
|
217
|
196
|
%
|
8,5
|
8,1
|
7,5
|
6,0
|
5,7
|
5,4
|
4,9
|
4,9
|
4,2
|
4,5
|
4,4
|
Kinder- und Jugendärzte
|
N
|
3060
|
3151
|
3240
|
3197
|
2941
|
2679
|
2515
|
2386
|
2225
|
2079
|
1986
|
%
|
53,7
|
49,7
|
46,9
|
44,6
|
41,5
|
42,0
|
43,5
|
44,4
|
43,7
|
43,2
|
44,4
|
Neurologen
|
N
|
115
|
116
|
107
|
84
|
78
|
83
|
76
|
62
|
51
|
51
|
35
|
%
|
2,0
|
1,8
|
1,5
|
1,2
|
1,1
|
1,3
|
1,3
|
1,2
|
1,0
|
1,1
|
0,8
|
Psychiater
|
N
|
2034
|
2554
|
3044
|
3457
|
3665
|
3278
|
2909
|
2664
|
2600
|
2467
|
2261
|
%
|
35,7
|
40,3
|
44,0
|
48,2
|
51,7
|
51,4
|
50,3
|
49,6
|
51,1
|
51,2
|
50,5
|
Alle Praxen
|
|
5694
|
6334
|
6911
|
7169
|
7091
|
6383
|
5784
|
5373
|
5090
|
4814
|
4478
|
* Erläuterungen s. [Tab.
1]
Die „Top-10%“-Verordner unter den Kinder- und Jugendärzten verhielten sich im
Zeitverlauf nicht viel anders als die übrigen Kinder- und Jugendärzte:
kontinuierlich sank der Anteil der von ihnen medikamentös behandelten Patienten von
16,2% in 2008 auf 11,5% in 2018, wenn auch dieser Rückgang geringer ausfiel als bei
der Gesamtgruppe der Kinder-/Jugendärzte (von 33,5% auf 19,3%). Seit dem Jahr 2010,
als mit 3489 Patienten am meisten Patienten ein ADHS-Medikament von einem Kinder-
oder Jugendarzt verordnet bekamen, bis zum Jahr 2018 verloren jedoch auch die
kinderärztlichen Schwerpunktpraxen ca. 1/3 der von ihnen medikamentös behandelten
Patienten (minus 32%; von 1 269 auf 868 Patienten) und damit nur geringfügig weniger
als die übrigen Kinder- und Jugendärzte (minus 35%; von 2220 auf 1444 Patienten).
Bei den Hausärzten war der Rückgang bei den „Top-10%“-Verordnern mit minus 40% sogar
stärker ausgeprägt als bei den übrigen Praxen der Fachgruppe (minus 29%).
Ganz anders als bei den Kindern/Jugendlichen entwickelte sich die Situation bei den
Erwachsenen. Im Beobachtungszeitraum stieg die Zahl von Patienten mit einer
Verordnung für ein ADHS-Medikament um 232%: von 919 auf 3055 ([Tab. 3]). Zwar stieg zwischen 2008 und
2018 die Zahl der in Hausarztpraxen versorgten Patienten um 91%, in neurologischen
und psychiatrischen Praxen aber lag die Steigerung bei 434 bzw. 311%. Entsprechend
stieg die Bedeutung der Spezialisten für die Pharmakotherapie. Während im Jahr 2008
58% der erwachsenen Patienten ihre Verordnung von einem Spezialisten erhielten (und
42% von einem Generalisten), waren dies 80% im Jahr 2018 (und nur noch 20% von einem
Generalisten).
Tab. 3 Erwachsene mit Verordnung eines ADHS-Medikaments; 2008
bis 2018*.
|
Erwachsene (≥18 Jahre)
|
|
|
2008
|
2009
|
2010
|
2011
|
2012
|
2013
|
2014
|
2015
|
2016
|
2017
|
2018
|
Hausärzte
|
N
|
154
|
169
|
213
|
202
|
216
|
271
|
249
|
246
|
276
|
283
|
294
|
%
|
16,8
|
16,6
|
16,8
|
12,8
|
11,5
|
12,6
|
10,6
|
10,0
|
10,5
|
9,9
|
9,6
|
Kinder- und Jugendärzte
|
N
|
228
|
224
|
249
|
288
|
296
|
295
|
303
|
306
|
286
|
283
|
326
|
%
|
24,8
|
22,0
|
19,7
|
18,2
|
15,8
|
13,7
|
12,9
|
12,4
|
10,9
|
9,9
|
10,7
|
Neurologen
|
N
|
185
|
208
|
261
|
350
|
492
|
609
|
689
|
730
|
805
|
888
|
987
|
%
|
20,1
|
20,5
|
20,6
|
22,2
|
26,2
|
28,3
|
29,3
|
29,7
|
30,6
|
31,1
|
32,3
|
Psychiater
|
N
|
352
|
416
|
544
|
739
|
874
|
978
|
1107
|
1180
|
1268
|
1405
|
1448
|
%
|
38,3
|
40,9
|
42,9
|
46,8
|
46,5
|
45,4
|
47,1
|
47,9
|
48,1
|
49,1
|
47,4
|
Alle Praxen
|
|
919
|
1017
|
1267
|
1579
|
1878
|
2153
|
2348
|
2462
|
2635
|
2859
|
3055
|
* Erläuterungen s. [Tab.
1]
Diskussion
Zunehmend sind Spezialisten, nämlich Psychiater und Neurologen für ADHS und ihre
Arzneimitteltherapie zuständig, während die Beteiligung von Generalisten,
insbesondere von Hausärzten, abnimmt. Dieser Trend konnte in dieser Studie in
absoluten und relativen Zahlen für Kinder/Jugendliche beobachtet werden. Die
absolute Zahl der Erwachsenen, die ein Rezept erhielten, nahm zu, aber – wie bei den
Kindern – ging der Anteil der Erwachsenen mit ADHS-Medikamenten, die ein Rezept von
ihrem Hausarzt erhielten, stark zurück.
Die Stichprobe der Praxen ist gleichmäßig über das Land verteilt und gilt als
repräsentativ für deutsche Praxen [17]. Der Vergleich unserer Daten mit GKV-weiten Daten zeigte zudem eine gute
Übereinstimmung in den relativen Verordnungshäufigkeiten der einzelnen Wirkstoffe
und der Veränderungen der Verordnungsanteile im Zeitverlauf. Insofern gehen wir von
einer validen Datengrundlage auch für die vorliegende Analyse der Pharmakotherapie
bei ADHS aus, wenn auch die absolute Zahl eingeschlossener Kinder- und
Jugendpsychiater nicht optimal ist.
Da Patienten nicht nachverfolgt werden konnten, wenn sie die Praxis wechselten,
wissen wir z. B. nicht, wie viele der Patienten gleichzeitig von Hausärzten und
Spezialisten behandelt wurden. Aus demselben Grund können wir auch keine Aussage
darüber treffen, wer die Therapie bei den Patienten eingeleitet hat.
Zu den weiteren Einschränkungen gehört die fehlende Information über den Schweregrad
der Erkrankung, über mögliche psychiatrische Komorbiditäten (die ggf. ein
entsprechend differenziertes Vorgehen durch Spezialisten verlangen ) und über
nicht-pharmakologische Behandlungen, die die abnehmende Beteiligung der Hausärzte
und Kinder-/Jugendärzte an der pharmakologischen Behandlung von ADHS ausgleichen
könnte. Auch wenn der Datensatz nur die Jahre 2008 bis 2018 einschließt, ließ sich
genau in dieser Zeitspanne der Trend von der hausärztlichen zur fachärztlichen
Versorgung aufzeigen. Damit liegen, soweit wir sehen, erstmals für Deutschland
empirisch belastbare Daten zu dieser Verschiebung in der pharmakologischen Betreuung
vor.
Unsere Ergebnisse zeigen einen deutlichen Rückgang des Anteils der hausärztlichen
Verordnungen für alle Patienten, die ADHS-Medikamente erhalten, von 8,5% (2008) auf
4,4% (2018) bei Kindern/Jugendlichen bzw. von 16,8% auf 9,6% bei Erwachsenen. Dafür
sehen wir drei mögliche Erklärungen:
-
Hausärzte halten sich strikt an die Richtlinie des „Gemeinsamen
Bundesausschusses“ bzw. der nationalen Leitlinie und stellen daher keine
Patienten neu auf ADHS-Medikamente ein und übernehmen nur in Ausnahmefällen
Folgeverordnungen [11]
[20].
-
Allgemeinärzte in Gesundheitssystemen ohne Gatekeeping behandeln weniger
schwer betroffene Personen. Da die Entwicklung der Patientenzahl und der
verordneten DDD jedoch nahezu identisch war, könnte diese Hypothese nur die
niedrige Versorgungsquote, nicht aber die Verlagerung hin zu einer stärkeren
fachärztlichen Versorgung in den letzten Jahren erklären – ein Argument, das
auch die Autoren des US-Praxis-Audits von 2010 vortrugen [21].
-
Bei deutschen Hausärzten liegt – im Vergleich zu Spezialisten – die
Verordnungsschwelle möglicherweise höher und gibt es größere Vorbehalte
gegenüber ADHS-Medikamenten – auch dies könnte jedoch nur die niedrige
Versorgungsquote, nicht aber die Verlagerung hin zu einer stärkeren
fachärztlichen Versorgung in den letzten Jahren erklären.
Der Anteil der Kinder- und Jugendärzte an der medikamentösen Versorgung ging im
Untersuchungszeitraum ebenfalls zurück, obwohl die Richtlinie des „Gemeinsamen
Bundesausschusses“ Fachärzten für Kinder- und Jugendmedizin – dort definiert als
„Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und/oder Jugendlichen“ [11] – sehr wohl die initiale Verordnung
von ADHS-Medikamenten gestatten. Der Rückgang betraf dabei auch diejenigen Kinder-
und Jugendärzte, die aufgrund des Umfangs medikamentös versorgter Patienten
Schwerpunktpraxen in der Versorgung darstellten. Dieser Rückgang ist schon deshalb
problematisch, weil Psychiater – trotz eines deutlich verbesserten Images in den
letzten Jahren – in der öffentlichen Wahrnehmung [22] immer noch seltener Raum für
Gespräche bieten als Generalisten (und darunter fallen auch Kinder- und
Jugendärzte). Gerade dies könnte betroffenen Kindern/Jugendlichen und ihre Eltern
wichtig sein und die Bereitschaft, ärztliche Betreuung langfristig zu suchen,
fördern.
Was auch immer der Grund für die abnehmende Beteiligung sowohl von Hausärzten als
auch Kinder- und Jugendärzten an der ADHS-Behandlung ist, Neurologen und Psychiater
allein verfügen möglicherweise nicht über genügend Ressourcen, um eine steigende
Zahl von ADHS-Patienten zu versorgen, so dass es weiterhin der Ressourcen aus
Hausarzt- und Kinderarztpraxen bedarf [10]
[23]. Allgemeinärzte,
Spezialisten, betroffene Eltern und erwachsene Patienten mit ADHS in England
wünschten in Anbetracht überlasteter Spezialisten („secondary care services“) in der
pädiatrischen Versorgung und regional teils komplett fehlender medizinischer
Angebote für Erwachsenen, dass die dortigen Allgemeinärzte sich stärker an der
ADHS-Pharmakotherapie beteiligen sollten [24]. Für Deutschland betonte eine Autorengruppe kürzlich nochmals, dass
im kleinstädtischen und ländlichen Bereich, aber auch in Großstadtbezirken mit
ungünstiger Sozialstruktur Kinder- und Jugendärzte für die Primärversorgung fehlen
[25], erst recht wohl gilt das für
Psychiater und Neurologen.
Für Thome et al. [10] könnte die auch
in Teilen der Erwachsenenpsychiatrie vorhandene Skepsis, sich diesem Störungsbild
zuzuwenden, zu einer Unterversorgung besonders von Erwachsenen mit ADHS führen.
Hausärzte könnten daher ermutigt werden, mehr Verantwortung für die kontinuierliche
Betreuung von ADHS-Patienten zu übernehmen, einschließlich ihrer Medikation in enger
Zusammenarbeit mit Spezialisten [26]
[27]
[28] und der regelmäßigen
Arzneimittelüberwachung gemäß der Arzneimittelrichtlinie und nationaler Leitlinien
[11]
[28]. In einer interventionellen
Münchner Machbarkeitsstudie bewerteten teilnehmende Ärzte und Patienten eine
hausärztliche Kurzintervention zu ADHS bei Erwachsenen, besonders die angebotene
Psychoedukation als positiv [29]. Das
spricht dafür, dass die Beteiligung auch von Hausärzten an der medikamentösen
Versorgung auf positive Resonanz stieße.
Noch weiter reichen die Vorschläge einer Kommission von Gesundheitsexperten aus den
Primär-, Sekundär- und tertiären Gesundheitsbereichen im Vereinigten Königreich –
mit dem Ziel, den Zugang zur Gesundheitsversorgung für Menschen mit ADHS zu
verbessern. Dazu gehört der an das NICE angelehnte Vorschlag, Routineverordnungen
und Gesundheitsmonitoring weitgehend der Primärversorgung zu überlassen, soweit
dafür gemeinsame Versorgungsprotokolle zwischen Primärärzten und Spezialisten
bestehen. Darüber hinaus sollten Behandlung und Management von ADHS an die
Behandlungspfade für andere verbreitete psychische Störungen angelehnt werden. Dann
könnten Primärärzte mit Fachkenntnissen über ADHS die medikamentöse Einstellung der
Behandlung für Patienten mit unkomplizierteren klinischen Anzeichen übernehmen. Bei
komplexeren Fällen wäre natürlich ebenfalls die Überweisung an allgemeine
psychiatrische Spezialdienste angezeigt. Diese Empfehlungen beziehen sich gerade
auch auf Erwachsene, weil die Autoren von einer weiteren Zunahme dieser Erkrankung
unter Erwachsenen ausgehen und ADHS nicht selten mit körperlichen und psychischen
Komorbiditäten einhergeht, die in den primärärztlichen Bereich fallen und sich
dadurch die Betreuungssituation wechselseitig ergänzen und den Patienten wirksame
Unterstützung bieten kann [30].
Rashid und Kollegen (2018) [12]
beschreiben ADHS als Krankheit des 21. Jahrhunderts, in denen Generalisten,
insbesondere Hausärzten, gewissermaßen die Position eines Leuchtturms zukommt, um
Menschen mit ADHS eine ausgewogene und informierte Beratung zu bieten und eine
gemeinsame Entscheidungsfindung zu erleichtern. Dies sollte durch Spezialisten
ergänzt werden, die entscheiden, welche Patienten für eine medikamentöse Therapie
geeignet sind. Stattdessen sehen wir einen Trend zur Marginalisierung von Hausärzten
und auch von Kinder- und Jugendärzten bei der pharmakologischen Behandlung – sei es
aufgrund neuer Richtlinien, der eigenen ärztlichen Entscheidung oder der
Entscheidung der Patienten oder aufgrund der Durchsetzungskraft von Spezialisten.
Diese schleichende und bisher wenig beachtete Entwicklung ist Anlass genug, die
künftige Rolle von Hausärzten sowie Kinder- und Jugendärzten bei der Behandlung von
ADHS zu diskutieren.
Fazit für die Praxis
-
Die steigende Diagnoserate und die größere Aufmerksamkeit für ADHS, besonders
unter Erwachsenen, erhöhen die Nachfrage nach Behandlung und
Medikamenten.
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Unsere Ergebnisse zeigen, dass in Deutschland Hausärzte, aber auch Kinder-
und Jugendärzte immer weniger an der medikamentösen Versorgung von
ADHS-Patienten beteiligt sind.
-
Diese gegensätzlichen Entwicklungen treffen auf einen Mangel an
qualifizierten Psychiatern und Fachleuten im Bereich ADHS, insbesondere in
ländlichen Gebieten oder Regionen mit begrenztem Zugang zu medizinischer
Versorgung – mit der Folge erhöhter Arbeitsbelastung für die vorhandenen
Fachärzte.
-
Mögliche Maßnahmen gegen Überlastung und die Folgen von Personalmangel
könnten eine bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie,
Pädiatrie, Psychologie und anderen Fachbereichen sein, bspw. durch das
Angebot von Schulungen und anderen Ressourcen für Hausärzte und Kinderärzte,
um die qualifizierte Versorgung von ADHS-Patienten zu unterstützen.
Ethik und Datenschutz
Die Autoren versichern, dass alle Verfahren, die zu dieser Arbeit beigetragen haben,
den ethischen Standards der zuständigen nationalen und institutionellen Gremien
sowie der Deklaration von Helsinki von 1975 in der Fassung von 2008 entsprechen.
Diese Sekundäranalyse wurde von der lokalen Ethikkommission der Universitätsmedizin
Göttingen genehmigt (Nr. 25/5/21).