Kinder- und Jugendmedizin 2025; 25(S 01): S46-S51
DOI: 10.1055/a-2377-2940
Übersicht

Ösophagusatresie als Familiendiagnose – Auswirkungen der ÖA auf den Säugling, auf das Familiensystem und auf die psychische Gesundheit der Eltern

Artikel in mehreren Sprachen: deutsch | English

Authors

  • Anna Breitruck

    1   Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Praxis Berlin-Zehlendorf, Berlin, Deutschland
  • Uschi Braun

    2   Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychiatrische Institutsambulanz für Kinder und Jugendliche Weil der Stadt, ZFP Calw-Hirsau, Calw, Deutschland
  • Annika Bürkle

    3   KEKS e. V., Stuttgart, Deutschland
 

Zusammenfassung

Die Diagnose einer Ösophagusatresie (ÖA) beim Neugeborenen stellt eine erhebliche medizinische und psychosoziale Belastung für das gesamte Familiensystem dar. Der vorliegende Beitrag widmet sich den Reaktionen des betroffenen Säuglings, den psychischen Auswirkungen auf Eltern – mit besonderem Augenmerk auf das Risiko posttraumatischer Belastungsstörungen – sowie möglichen Folgen für Geschwisterkinder und elterliche Paarbeziehung. Zudem werden praxisnahe Empfehlungen für Kinderärztinnen und -ärzte zur frühzeitigen Erkennung familiärer Belastungen sowie geeigneter Interventionsmöglichkeiten aufgezeigt. Der Artikel betont, dass anhaltender neonataler Stress – infolge wiederholter medizinischer Eingriffe, Trennung von den Eltern und ÖA-typischen Symptomen wie Atemnot, Schluckstörungen, Refluxproblematik und oraler Aversion – mit einer beeinträchtigten zentralnervösen Stressverarbeitung assoziiert sein kann. Solche frühen Belastungen können sich in erhöhtem Kortisolspiegel, Schlafstörungen und Regulationsproblemen äußern und langfristig die soziale und neurologische Entwicklung des Kindes negativ beeinflussen. Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betreuung, die neben der medizinischen Versorgung auch psychosoziale Aspekte der Familie einbezieht.


Neurologische und entwicklungspsychologische Auswirkungen

Reifung des zentralen Nervensystems

Chronische Schmerzen, Unterbrechungen der Schlafzyklen und Stress durch medizinische Maßnahmen können die neurologische Reifung beeinträchtigen [1], [2], [3]. Besonders betroffen sind:

  • Regulation von Wachheit und Affekt

  • sensorische Integration

  • Entwicklung sozial-emotionaler Reaktionen


Risiko für Regulationsstörungen

Säuglinge mit ÖA zeigen häufiger:

  • anhaltendes Schreien

  • Schlafstörungen

  • Störungen der Selbstregulation

Diese werden als sog. „Regulationsstörungen“ im Säuglingsalter beschrieben und stehen in enger Verbindung mit medizinischen Frühbelastungen.


Bindungs- und Beziehungsaspekte

Die Erkrankung beeinflusst nicht nur die physiologische Entwicklung des Säuglings, sondern auch die soziale Umwelt:

  • eingeschränkte Interaktion mit Eltern durch Trennung nach Geburt und medizinische Geräte

  • negative orale Erfahrungen (z. B. durch Absaugen, Sonden) führen zu Aversionen gegenüber oraler Stimulation

  • verzögerter Beziehungsaufbau kann langfristige Folgen auf die emotionale Entwicklung haben

Ein gestörter Aufbau des „Körper-Selbst“ und der ersten Ich-Umwelt-Grenzen wird bei intensivmedizinisch betreuten Neugeborenen beschrieben [4].

Eine unmittelbare medizinische Versorgung nach der Geburt bedeutet häufig eine physische Trennung von Mutter und Kind: Der fehlende direkte Hautkontakt („Skin-to-Skin“) und das verzögerte erste Stillen erschweren den Aufbau der emotionalen Bindung [5]. Die frühe Bindung ist geprägt durch nonverbale Kommunikation, Körperkontakt und intuitive elterliche Reaktionen auf kindliche Signale. Bei Säuglingen mit ÖA sind diese Interaktionen durch medizinische Apparaturen, Klinikaufenthalte und physischen Zustand des Kindes oft erschwert. Eltern erleben häufig Unsicherheit im Umgang mit ihrem Kind, insbesondere beim Füttern oder bei der Pflege. Dies kann zu einem Gefühl der Entfremdung führen [6].


Unterstützende Interventionen durch eine elternzentrierte Betreuung

  • Ein interdisziplinäres Team (Pflegekräfte, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen) kann Eltern frühzeitig begleiten und deren emotionale Bedürfnisse adressieren. Die Einbindung der Eltern in Pflege und medizinische Entscheidungen fördert das Gefühl der Kontrolle und stärkt die Bindung.

  • frühzeitige psychologische Begleitung der Familien

  • Psychoedukative Angebote und niedrigschwellige psychologische Unterstützung senken das Risiko für depressive Entwicklungen und fördern die Resilienz der Eltern.

  • Förderung von Nähe trotz Klinikalltag

  • Maßnahmen wie „Känguruhen“ (Körperkontakt auf der Intensivstation), Rooming-in und gezielte Förderung der Eltern-Kind-Interaktion können helfen, die Bindung trotz technischer Barrieren zu stärken [7].


Langzeitfolgen und Verlauf

Selbst nach erfolgreicher Operation sind viele Säuglinge mit Langzeitproblemen konfrontiert, die ihre Entwicklung beeinflussen können:

  • Schluckstörungen, Reflux, Fütterprobleme

  • Wachstumsverzögerung

  • häufige Infektionen (besonders der Atemwege)

  • sensorische Integrationsprobleme

Diese Faktoren wirken sich wiederum auf das Spiel-, Lern- und Explorationsverhalten im Säuglingsalter aus und können Entwicklungsverzögerungen bedingen.

Der Zusammenhang zwischen der Diagnose einer Ösophagusatresie beim Säugling und PTBS bei Eltern

Die Kombination aus Schock, Angst, medizinischer Unsicherheit und physischen Trennungen zwischen Eltern und Kind kann bei Eltern traumatische Stressreaktionen auslösen. In manchen Fällen entwickeln sich daraus klinisch relevante Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). PTBS ist eine psychische Erkrankung, die infolge eines extrem belastenden oder traumatischen Ereignisses auftreten kann. Die Diagnostik basiert auf den Kriterien des DSM-5 bzw. der ICD-11 und umfasst u. a. intrusive Erinnerungen, Vermeidung, Hyperarousal und eine negative Veränderung von Gedanken und Emotionen.

Definition und Symptomatik der PTBS

PTBS bei Eltern: Prävalenz und Risikofaktoren

Studien zeigen, dass 20 – 30% der Eltern von kritisch kranken Neugeborenen klinisch relevante PTBS-Symptome entwickeln [6], [8]. Risikofaktoren sind u. a.:

  • Notfall- oder Intensivgeburt

  • Frühgeburt oder angeborene Fehlbildungen

  • Trennung von Kind und Eltern

  • Wahrnehmung von Hilflosigkeit und Kontrollverlust

  • mangelnde psychosoziale Unterstützung

  • Diagnostik und Früherkennung von PTBS bei Eltern

Die Diagnostik einer elterlichen PTBS erfordert spezifische Screening-Instrumente, die auf die Besonderheiten von Eltern in medizinischen Krisensituationen zugeschnitten sind, z. B.:

  • Impact of Event Scale-Revised (IES-R)

  • Parental Stressor Scale: NICU

  • PTSD Checklist for DSM-5 (PCL-5)

Ein frühzeitiges Screening bereits während des Klinikaufenthalts kann helfen, Risikofamilien zu identifizieren und gezielt zu unterstützen.

Prävention und Intervention

  • Psychoedukation und Kommunikation

  • Ein transparenter Informationsfluss, empathische Kommunikation und elterliche Einbindung in Pflegeentscheidungen sind entscheidend.

  • psychologische Begleitung

Ein interdisziplinäres Team mit psychosozialer Betreuung sollte fester Bestandteil der Versorgung in perinatalen Zentren sein. Kurzzeittherapien (z. B. traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie, EMDR) haben sich in der Frühintervention bewährt.

Zusammenhang zwischen Ösophagusatresie und PTBS-Risiko

Eltern von Säuglingen mit ÖA sind einer Vielzahl potenziell traumatischer Stressoren ausgesetzt:

  • Akute Lebensgefahr des Kindes: Die Bedrohung des Kindeslebens ist einer der stärksten Auslöser für traumatische Reaktionen.

  • Unmittelbare Operationen und Komplikationen: Die Notwendigkeit schneller medizinischer Entscheidungen und wiederholter Eingriffe verstärkt das Gefühl von Kontrollverlust.

  • Langzeitbelastung durch Krankenhausaufenthalt: Wochenlange Aufenthalte in der Neonatologie mit wiederholtem Stress (z. B. Reflux, Ernährungssonden, Gedeihstörungen) führen zu chronischem Stress.

  • Elterliche Schuldgefühle: viele Eltern machen sich selbst oder einander unbewusst Vorwürfe.

Die Belastung wird durch die Unsicherheit über den Krankheitsverlauf und mögliche Spätfolgen verstärkt. Studien zeigen, dass insbesondere Mütter stärker betroffen sind, wobei auch Väter ein erhöhtes Risiko aufweisen [14].



Psychische Auswirkungen auf die Eltern

Die Diagnose wird meist unmittelbar nach der Geburt gestellt und führt bei den Eltern zu einer akuten psychischen Belastung. Gefühle von Schock, Angst, Hilflosigkeit und Trauer über die „verlorene Normalität“ sind häufig.

Studien zeigten, dass 20 – 30% der Eltern kritisch kranker Neugeborener Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) entwickeln [6], [8]. Risikofaktoren umfassen die Angst um das Kind, den Kontrollverlust im medizinischen Kontext, Trennungen unmittelbar nach der Geburt und unzureichende soziale Unterstützung. Besonders Mütter sind häufig betroffen. Die Diagnose einer seltenen, chronischen Erkrankung wie einer ÖA und die notwendigen langwierigen medizinischen Behandlungen stellen für Erziehungsberechtigte eine erhebliche emotionale Belastung dar. Die Diagnose einer Fehlbildung beim Kind wird von 88% der Mütter und 83% der Väter als traumatisch empfunden [9]. Eltern von Kindern mit seltenen Erkrankungen berichten im Vergleich zu Eltern gesunder Kinder von einer verminderten Lebensqualität, verstärkten Stresssymptomen, Einsamkeit und posttraumatischen Belastungsstörungen [10], [11], [12]. Eine französische Studie ermittelte, dass bei 59% der Eltern von Kindern mit ÖA PTBS-Symptome auftreten, unabhängig von der medizinischen Schwere der Erkrankung des Kindes und dessen langfristigen gesundheitlichen Prognosen [13].

Um eine differenzierte Betrachtung der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung zu ermöglichen und die Definition des aus unserer Sicht häufig inflationär verwandten Begriffs der „Traumatisierung“ zu schärfen, werden an dieser Stelle die Diagnosekriterien zusammengefasst.


Psychische Auswirkungen auf das betroffene Kind

Das betroffene ÖA-Kind wird in seiner Entwicklung von Beginn an durch Schmerzen, Krankenhausaufenthalte und Bindungsunsicherheiten beeinflusst. Mehr als die Hälfte der Mütter von Kindern mit einer ÖA berichteten, dass ihre Säuglinge ein medizinisch bedingtes Trauma erlebt hatten und dass sie bei ihren Säuglingen PTS-Symptome beobachteten, darunter Stress bei der Erinnerung an das Trauma, Einschlafprobleme und das Auftreten neuer Ängste [15]. Zudem wurde beschrieben, dass Kinder mit ÖA unterschiedliche Formen von krankheitsspezifischen Coping-Strategien anwenden [16]. Dabei wurde deutlich, dass Kinder mit einer ÖA eine Vielzahl von positiven Bewältigungsstrategien anwenden, um gesundheitliche Herausforderungen zu meistern. Die Kindergarten- und Schulzeit kann mit einem verstärkten Betreuungsbedarf und auch weiterhin gehäuften Infekten einhergehen und damit eine Sonderrolle für das betroffene Kind bedeuten. Kleinkinder, die mit einer ÖA geboren werden, leiden unter einer erheblichen Symptombelastung. Besonders respiratorische Probleme (z. B. häufige Infekte, Husten, Schwierigkeiten beim Atmen/Dyspnoe) lösen bei Kindern bereits im Alter von 0,5 bis 7 Jahren starke Stresssymptome aus [17]. Schul- und Kindergartenabsentismus können als Indikator für die Belastung des ÖA-Kindes und der Familie gesehen werden. ÖA-Kinder erleben durch ihren Absentismus und die Leistungseinschränkungen mehr Stress und sind dadurch in der sozialen Teilhabe eingeschränkt.


Auswirkungen auf die Restfamilie

Sobald das erkrankte Kind zu Hause ist, wird der komplexe Einfluss der Erkrankung auf die ganze Familie deutlich. Gerade in der Anfangssituation kommt es durch Überforderung und Ängste zu einem Rückzug aus dem sozialen Netz und damit zur Einschränkung der sozialen Teilhabe. Viele betroffene Familien berichten von Isolation und einem Rückzug aus dem sozialen Leben, was auf die mit der Erkrankung verbundenen Einschränkungen und den Mangel an Ressourcen zum Aufbau sozialer Kontakte zurückzuführen ist [18], [19]. Die Tendenz, sich zurückzuziehen, wird zusätzlich durch gesellschaftliche Vorurteile und die Belastung durch die Krankheit verstärkt, die es für viele einfacher erscheinen lassen, das Leben auf den häuslichen Bereich zu beschränken [19]. Auch durch die eingeschränkte und aufwendigere Essenssituation und den damit verbundenen Emotionen wie Angst und Frucht wird die soziale Teilhabe weiter reduziert.

Durch die besonderen Bedürfnisse des ÖA-Kindes, durch miterlebte Notfallsituationen und durch die erhöhte Betreuungs- und Pflegezeit des ÖA-Kindes sowie durch den Rückzug aus dem sozialen Netz werden auch mögliche Geschwister belastet. Geschwisterkinder können sich vernachlässigt fühlen, mit Trennungsängsten, allgemeiner Ängstlichkeit oder Schuldgefühlen reagieren.

Die Paarbeziehung wird durch unterschiedliche Coping-Strategien des Paares zum Umgang mit der Situation, durch Erschöpfung und fehlende Zeit für die Partnerschaft oft stark belastet. Studien verdeutlichten, dass Mütter und Väter häufig unterschiedliche Formen der Stressbewältigung aufweisen: Mütter tendieren zu intensiver emotionaler Auseinandersetzung, während Väter eher funktional-pragmatisch handeln [20]. Diese Diskrepanz kann zu Missverständnissen, Kommunikationsproblemen und emotionaler Distanz innerhalb der Paarbeziehung führen.

Auch Großeltern und weitere Bezugspersonen sind betroffen. Finanzielle und organisatorische Herausforderungen können die familiäre Belastung verstärken.

Die Pflege eines Kindes mit ÖA kann erhebliche zeitliche und finanzielle Ressourcen binden:

  • Arbeitszeitreduktion oder Arbeitsplatzverlust eines Elternteils

  • Reisestrapazen zu spezialisierten Zentren

  • Kosten für Unterkunft, Verpflegung, med. Hilfsmittel

  • bürokratische Hürden in der Beantragung von Leistungen (z. B. Pflegegrad, Hilfsmittel, Reha)

Die Bewältigung der Anforderungen im Alltag mit einem Kind, das besondere gesundheitliche Unterstützung benötigt, kann mit einem erhöhten Risiko sozialer Isolation und einer Einschränkung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einhergehen [19], [20].


Familiendynamik im Kontext einer akuten Kindeserkrankung

Aus Sicht der „systemischen Familienpsychologie“ ist jede Familie ein dynamisches System, in dem Veränderungen eines Elements Auswirkungen auf das gesamte System haben. Die schwere Erkrankung eines Säuglings wie die ÖA bewirkt eine akute Umstrukturierung familiärer Rollen, Aufgabenverteilungen und emotionaler Bindungen [21].

So kann es zu Verschiebungen von Verantwortlichkeiten kommen, bspw., dass Geschwisterkinder Schuldgefühle entwickeln, bezogen auf die familiäre „Ausnahmesituation“ und in der Folge selbst Symptome entwickeln oder parentifiziert reagieren, indem sie Elternfunktionen übernehmen und sich verantwortlich fühlen für die Versorgung der Eltern oder jüngerer Geschwisterkinder.

Im besten Fall reagiert die Familie zunächst „dynamisch“, also ressourcenaktivierend auf die Erkrankung eines Mitglieds. Auf diese Weise erlebt sich das System nicht nur defizitär und benachteiligt, sondern es entwickelt besondere Überlebensstrategien, die den Zusammenhalt und das Selbstwirksamkeitserleben stärken. Dies gelingt nur dann sicher, wenn genügend Außenkontakte und Netzwerke bestehen, die schon vor der Erkrankung des Säuglings wirksam und hilfreich für die Familie waren.

Das klassische systemische Paradigma bezieht sich immer auf Zirkularität von Systemen (d. h. „Dinge“ kommen in der Welt nicht isoliert vor, sondern stehen in Beziehung zueinander): A wirkt nicht einseitig auf B, sondern B wirkt genauso auf A (Wechselwirkung). Wir gehen also trotz und bei aller Belastung für die Familie davon aus, dass das System grundsätzlich in der Lage ist, sich „neu“ zu erfinden und eine adäquate Antwort auf die herausfordernde Situation zu finden. In der Arbeit mit den Familien sehen wir, dass es immer wieder gelingt, den besonderen Bedürfnissen der erkrankten Kinder Raum zu schaffen und eine haltgebende, emotional unterstützende Familienatmosphäre zu schaffen.

Um es mit dem Individualpsychologen Alfred Adler auszudrücken: Es kommt nicht auf die erlebten Belastungen und Traumatisierungen an, sondern auf die Antwort, die wir auf diese finden: „Es kommt nicht darauf an, was einer mitbringt, sondern darauf was er daraus macht“ [22].

Nichtsdestotrotz kann die Diagnose einer ÖA, Familien immer wieder an den Rand ihrer Belastbarkeit bringen.

Wie bereits erwähnt, spielt das Netzwerk einer Familie eine große Rolle, um diese Belastungsfaktoren adäquat zu bearbeiten. Da im Zusammenhang mit der Erkrankung die Kinderärzt:innen zumeist eine große Rolle in der Begleitung der Familien spielen, möchten wir zum Abschluss darauf eingehen, wie Kinderärzt:innen entsprechende Belastungsfaktoren erkennen können und welche Interventionen zu empfehlen sind.


Woran können Kinderärzte familiäre Belastung oder Auffälligkeiten erkennen?

Beobachtbare Warnzeichen beim Kind

Die sog. „Gedeihstörung“, die sich u. a. in mangelnder Gewichtszunahme trotz ausreichender medizinischer Versorgung zeigt, kann auf belastete Fütterungssituationen oder psychosozialen Stress hindeuten.

Auch eine Schluckverweigerung, orale Aversionen und übermäßig häufiges Erbrechen oder Panik beim Füttern kann Ausdruck von belasteten Eltern-Kind-Interaktionen sein.

Die verzögerte Entwicklung des Kindes, besonders im sozialen oder emotionalen Bereich kann auf mangelnde Interaktion oder Stimulation hindeuten.

Regulationsstörungen wie exzessives Schreien, Schlafstörungen, Hyperreagibilität sind ein Zeichen für die unzureichende Versorgung des Säuglings bezogen auf die Grundbedürfnisse Bindung, Orientierung und Kontrolle [23].


Auffälligkeiten im Verhalten der Eltern

  • überängstliches oder vermeidendes Verhalten gegenüber dem Kind

  • Ambivalenz: starke Schwankungen zwischen Überfürsorge und Rückzug

  • starker Erschöpfungszustand oder depressive Symptome (z. B. Weinen, Antriebslosigkeit, Reizbarkeit)

  • unangemessenes Schuldgefühl („Ich habe etwas falsch gemacht“)

  • Paarkonflikte oder inkonsistente Aussagen von Mutter und Vater zur häuslichen Situation

  • unzuverlässige Arzttermine/Therapieabbrüche, die auf Überforderung hindeuten können


Familiäre Risikofaktoren im Gespräch

  • geringe soziale Unterstützung (z. B. kein familiäres Netzwerk)

  • belastende finanzielle Situation durch Arbeitsausfall, Klinikaufenthalte

  • belastete Geschwisterkinder (Schulprobleme, Rückzug, Eifersucht)

  • fehlende Kenntnis oder Überforderung mit häuslicher Pflege (z. B. mit Sonden oder Reflux)



Was können Kinderärzte betroffenen Familien raten und anbieten?

Vertrauensvolle Kommunikation aufbauen

  • aktives Zuhören und Validierung: Sorgen der Eltern ernst nehmen („Das klingt sehr belastend für Sie.“)

  • Psychoedukation bedeutet altersgerechte Erklärungen zur Erkrankung, Prognose und Pflege geben, Unsicherheiten abbauen

  • Normalisierung von Gefühlen: Erklären, dass Gefühle wie Angst, Erschöpfung und Überforderung häufig vorkommen


Frühe psychosoziale Unterstützung vermitteln

  • psychosoziale Fachberatung (z. B. durch Kliniksozialdienst, SPZ, Erziehungsberatungsstellen)

  • Frühintervention und Frühförderung für das Kind bei Entwicklungsrisiken

  • Eltern-Kind-Interaktionsberatung bei gestörter Bindung oder auffälligem Verhalten

  • psychologische Unterstützung bei posttraumatischer Belastung, Depression oder Paarkonflikten

  • Selbsthilfegruppen (z. B. KEKS e. V. – Selbsthilfeorganisation für Kinder- und Erwachsene mit Ösophagusatresie)

  • Empfehlung Inanspruchnahme flankierender Hilfen durch das zuständige Jugendamt

  • Weiterleitung zu spezifischer psychologischer/psychiatrischer Diagnostik

  • Empfehlung/Weiterleitung zu Ergotherapie und Psychotherapie


Förderung der familiären Selbstwirksamkeit

  • Eltern gezielt in Entscheidungen und Pflegeprozesse einbeziehen

  • „Elternkompetenz stärken“ durch Ermutigung, kleine Fortschritte zu benennen

  • Routinen und positive Rituale im Alltag etablieren

  • Strategien zur Entlastung erarbeiten (z. B. Pflegeunterstützung, Haushaltshilfe, Kinderbetreuung)


Geschwisterkinder nicht vergessen

  • Hinweis auf Beratungsangebote für Geschwister

  • Empfehlung zur Einbindung in altersgerechter Weise („Das Baby ist krank, aber du bist genauso wichtig.“)



Fazit

Kinderärzte sollten bei der Betreuung von Kindern mit ÖA auch auf die familiäre Gesamtsituation achten. Auffälligkeiten in der Eltern-Kind-Interaktion, emotionale Erschöpfung der Eltern oder Entwicklungsprobleme beim Kind sind ernstzunehmende Warnzeichen. Eine frühzeitige Vernetzung mit psychosozialen Angeboten, klare Kommunikation und die Stärkung der elterlichen Kompetenz sind zentrale Maßnahmen zur Unterstützung dieser Familien.



Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse/Correspondence

Annika Bürkle
KEKS e. V.
Sommerrainstraße 61
70374 Stuttgart
Deutschland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
10. Oktober 2025

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