Die Wirbelsäule 2025; 09(01): 12
DOI: 10.1055/a-2446-8719
Referiert und kommentiert

Kommentar zu: Vorhersage von Halswirbelsäulenverletzungen nach stumpfem Trauma im Kindesalter

Dina W. Wiersbicki
,
Philipp Pieroh

Der Algorithmus des „Pediatric Emergency Care Applied Research Network“ (PECARN) schließt eine Lücke in der Diagnostik kindlicher HWS-Verletzungen nach stumpfen Traumata. Diese Verletzungen sind mit einer Inzidenz von 1–4% bei Kindern zwar selten, aber potentiell schwerwiegend und unterscheiden sich anatomisch und biomechanisch erheblich von Verletzungen bei Erwachsenen [1]. Etablierte Regeln aus der Erwachsenenmedizin, wie die NEXUS-Kriterien [2] und die Canadian C-Spine Rule (CCR) [3], sind nur eingeschränkt auf Kinder übertragbar. NEXUS schloss in seiner ursprünglichen Studie lediglich 30 pädiatrische Fälle ein und die CCR ist gänzlich auf Erwachsene fokussiert. Der PECARN-Algorithmus bietet hingegen klare, evidenzbasierte Kriterien, die auf die Notfallversorgung von Kindern abgestimmt sind. Die risikoadjustierte Nutzung von Röntgen- und CT-Aufnahmen reduziert eine unnötige Strahlenexposition signifikant und zeigen dabei eine hohe Sensitivität (94,3%) und einen hohen negativen prädiktiven Wert (99,9%). Die vorliegende Studie hebt sich durch ihre große Stichprobe (22430 Kinder) und das prospektive, multizentrische Design ab.

Neben dem Algorithmus zum Vorgehen bei HWS-Verletzungen gibt es Bemühungen des PECARN, weitere Algorithmen zu entwickeln, z.B. bei Kopfverletzungen oder zur Sepsis-Erkennung und so die Integration prädiktiver Algorithmen in die Notfallmedizin voranzutreiben. Die PECARN-Initiative zeigt, dass große Netzwerke und standardisierte Datenmanagementsysteme entscheidend für die Validität solcher Algorithmen sind.

Kritisch zu beurteilen ist, dass die undifferenzierte Beurteilung aller Kinder von 0–17 Jahren die altersabhängigen anatomischen Unterschiede und Unfallmechanismen vernachlässigt. Die Verletzungsmuster bei Kleinkindern unterscheiden sich aufgrund der hohen Flexibilität der HWS und schwächeren Muskulatur deutlich von denen Jugendlicher, deren Anatomie und Biomechanik denen von Erwachsenen ähnelt. Darüber hinaus bleibt die MRT als Primärdiagnostik im PECARN-Algorithmus unberücksichtigt. Im deutschen bzw. europäischen Raum wird die MRT in spezialisierten Zentren regelhaft vorgehalten. Die Einbeziehung der MRT kann die Strahlenbelastung reduzieren und die diagnostische Genauigkeit steigern, z.B. durch das Erkennen von Knochenödemen, die in CT und Röntgen nicht sichtbar sind. Zudem geht der Artikel nicht auf die Verlegung in spezialisierte Zentren ein, da nur Level-1-Traumazentren eingeschlossen wurden. Ein ganzheitlich gültiger Algorithmus sollte auf die Kontaktaufnahme sowie Notwendigkeit und Art der Verlegung in spezialisierte Zentren durch kleinere Krankenhäuser eingehen.

Zur Erarbeitung gleichartiger Empfehlungen für den deutschen bzw. europäischen Raum wurde im April 2017 die Arbeitsgruppe Pädiatrisches Wirbelsäulentrauma der Sektion Wirbelsäule der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie gegründet. Grundlage sind retrospektive multizentrische Analysen zu Wirbelsäulenverletzungen bei Kindern in deutschen Wirbelsäulenzentren [4] [5].

Zusammenfassend ist der PECARN-Algorithmus ein wichtiger Fortschritt in der evidenzbasierten Traumatologie der verletzten Wirbelsäule des Kindes und Jugendlichen und fügt der bestehenden Literatur einen spezifischen und praktischen Ansatz hinzu. Er bietet dabei eine Lösung zur Reduzierung von Überdiagnostik und Strahlenbelastung. Kritisch bleibt jedoch die fehlende Differenzierung nach Altersklassen sowie die unzureichende Berücksichtigung der MRT in der Primärdiagnostik.



Publication History

Article published online:
13 February 2025

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  • Literatur

  • 1 Pannu GS, Shah MP, Herman MJ. Cervical Spine Clearance in Pediatric Trauma Centers: The Need for Standardization and an Evidence-based Protocol. J Pediatr Orthop 2017; 37: e145-e149
  • 2 Hoffman RJ, Wolfson AB, Todd K. et al. Selective Cervical Spine Radiography in Blunt Trauma: Methodology of the National Emergency X-Radiography Utilization Study (NEXUS). Ann Emerg Med 1998; 32: 461-469
  • 3 Stiell IG, Wells GA, Vandemheen KL. et al. The Canadian C-Spine Rule for Radiography in Alert and Stable Trauma Patients. JAMA 2001; 286: 1841-1848
  • 4 Jarvers J-S, Herren C, Jung MK. et al. Pediatric cervical spine injuries-results of the German multicenter CHILDSPINE study. Eur Spine J 2023; 32: 1291-1299
  • 5 Rüther H, Alayesh S, Heyde C-E. et al. Verletzungen der BWS und LWS bei Kindern unter 16 Jahre – Versorgungsrealität im deutschsprachigen Raum: eine Registerstudie. Unfallchirurgie (Heidelb). 2024