RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/a-2466-6777
Psychiatrische Versorgung in Haftanstalten – Herausforderungen und Perspektiven in Deutschland
Psychiatric Care in Prisons – Challenges and Perspectives in GermanyAutoren
Die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung in deutschen Justizvollzugsanstalten ist sowohl unter humanitären Gesichtspunkten als auch im Hinblick auf ihren wichtigen Beitrag zur Resozialisierung und Sicherheit im Strafvollzug ein Thema von zunehmender Bedeutung. Die Frage, inwieweit der Strafvollzug in der Lage ist, den psychiatrischen Bedarf der inhaftierten Personen ausreichend zu decken, kann derzeit nicht abschließend beantwortet werden, es gibt jedoch Hinweise auf eine Unterversorgung. Dabei geht es nicht nur um die therapeutische Behandlung psychischer Erkrankungen, sondern auch um die Frage der menschenwürdigen Unterbringung und die Auswirkungen der Haftbedingungen auf die psychische Gesundheit.
Die Bedeutung der psychiatrischen Versorgung im Justizvollzug
Die psychische Gesundheit und das bestehende Behandlungsangebot für inhaftierte Personen stellen komplexe Themen dar und sind wichtige Bestandteile einer adäquaten Versorgung im Strafvollzug. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind psychische Erkrankungen das häufigste Gesundheitsproblem in Haft [1]. Die weltweit häufigste Todesursache in Haft ist jedoch der vollendete Suizid [2]. Die Ursachen hierfür liegen in den institutionellen Bedingungen der Haft selbst und sind in individuellen Faktoren wie früheren Suizidversuchen, selbstverletzendem Verhalten in der Vorgeschichte und schweren psychischen Erkrankungen zu suchen [3]. Die Prävalenz schwerwiegender psychiatrischer Diagnosen unter inhaftierten Personen wird als deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung eingeschätzt [4]. Studien berichten hier insbesondere von Depressionen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Suchterkrankungen und psychotischen Störungen [4]. Von nicht unerheblicher Bedeutung ist dabei, dass die vorliegenden Prävalenzzahlen für den deutschsprachigen Raum zumeist älteren Datums sind und sich häufig auf kleinere Stichproben beziehen [5]. Eine Studie konnte zeigen, dass bis zu 88% der Menschen im Strafvollzug an mindestens einer psychischen Störung leiden, wobei eine hohe Zahl von Komorbiditäten festgestellt wurde [6]. Folgt man den vorliegenden Daten, so ist festzustellen, dass die absolute Zahl psychisch kranker Menschen in den Justizvollzugsanstalten bundesweit höher ist als in den Maßregelvollzugsanstalten.
Diese Erkrankungen sind in vielen Fällen eine Folge bereits vor der Inhaftierung bestehender psychischer Belastungen, können aber auch durch die spezifischen Haftbedingungen ausgelöst und/oder verstärkt werden. Die räumliche Enge, die Isolation, das potenziell gewalttätige Umfeld, die unzureichenden sozialen Interaktionen und die häufig fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten tragen wesentlich zur Verschlechterung psychischer Erkrankungen bei. In der klinischen Arbeit kann häufig beobachtet werden, wie sich bestehende psychische Störungen unter den extremen Bedingungen der Haft verändern, während gleichzeitig eine adäquate Versorgung durch Fachpersonal oftmals fehlt oder nur unzureichend gewährleistet ist.
Die psychiatrischen Versorgungsmöglichkeiten im Kontext von Haftanstalten sind bundesweit, soweit überschaubar, heterogen ausgestaltet. Studien hierzu liegen derzeit nicht vor, Einblicke und Erfahrungen werden am ehesten auf Fachtagungen ausgetauscht und sind häufig anekdotischer Natur. In wenigen Bundesländern werden voll- oder teilstationäre Einrichtungen vorgehalten, häufiger besteht eine primär ambulante Versorgungsstruktur mit mehr oder weniger gut funktionierenden Verlegungsmöglichkeiten. Gemeinsam mit den Anstaltsärztinnen und -ärzten sowie dem Vollzugspersonal wird versucht, psychisch kranke Menschen frühzeitig zu erkennen und ihnen zeitnah eine psychiatrische Vorstellung und Behandlung anzubieten. Die intramuralen Möglichkeiten sind insbesondere in der ambulanten Tätigkeit verständlicherweise begrenzt. Aufgrund der vielfach diskutierten Limitationen in der Versorgung psychisch kranker Menschen in Haft und der teils erheblichen Wissenslücken über die tatsächlich vorhandenen Versorgungsangebote wurde im Jahr 2022 folgerichtig eine Task Force „Gefängnispsychiatrie“ der DGPPN ins Leben gerufen [7]. Diese verfolgt das Ziel, analog zur Situation im deutschen Maßregelvollzug, verlässliche und belastbare Daten zu den konkreten Behandlungsangeboten in Deutschland zu erheben. Ergebnisse liegen derzeit leider noch nicht vor.
Rahmenbedingungen der psychiatrischen Versorgung in Haft
Der deutsche Strafvollzug wird in erster Linie durch das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) geregelt, das die Grundsätze des Strafvollzugs und die Rechte der inhaftierten Personen festlegt. Dazu gehört auch die medizinische und psychiatrische Versorgung. Es gilt das Äquivalenzprinzip, das im Allgemeinen vorgibt, dass inhaftierte Personen Anspruch auf die gleiche medizinische Versorgung haben wie gesetzlich krankenversicherte Personen außerhalb von Haftanstalten (vgl. Nelson-Mandela-Regeln, 8). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Menschen in Haft keine freie Arztwahl haben, was nachvollziehbarerweise zu Konflikten und Herausforderungen führen kann. Ebenso wird eine therapeutische Allianz durch die Doppelrolle des Arztes/der Ärztin erschwert, der/die einerseits als Teil der strafvollziehenden Institution und andererseits als Fürsprecher des inhaftierten Patienten/der inhaftierten Patientin gesehen wird. Der Versuch bzw. die Notwendigkeit, ein Gleichgewicht zwischen therapeutischer Beziehung und intramuralen Sicherheitsaspekten zu wahren, kann Konfliktpotential für die psychiatrische und psychotherapeutische Arbeit bergen. Darüber hinaus stehen die Haftbedingungen in vielerlei Hinsicht im Widerspruch zu den Anforderungen einer adäquaten psychiatrischen Versorgung.
So erfolgt bei akuten Gefährdungsaspekten im Rahmen einer psychischen Krise in der Regel eine Verlegung auf die Sicherungsstation und ein vorübergehender Aufenthalt in einem Beobachtungshaftraum. Damit kann zwar die Wiederherstellung der Sicherheit gewährleistet werden, ein solcher reizarmer Raum ohne Möglichkeiten der Ablenkung und des sozialen Austausches ist aber kein hilfreicher Raum für die psychische Gesundung. Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter weist regelmäßig darauf hin, dass die Unterbringung in Einzelhaft und Maßnahmen der Absonderung so kurz wie möglich zu halten und eine engmaschige Betreuung sicherzustellen sind, da eine solche Vollzugsform schädliche Auswirkungen auf die psychische und somatische Gesundheit der Betroffenen haben und unter Umständen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellen kann [9]. Gerade diese Empfehlung ist vor dem Hintergrund der heterogenen Versorgungsrealität nur schwer umsetzbar, insbesondere wenn keine psychiatrische Abteilung im Vollzugskrankenhaus vorhanden ist.
Perspektiven für eine verbesserte Versorgung
Hier bedarf es einer Intensivierung der bisherigen Forschungsbemühungen, um ein besseres Verständnis der aktuellen Versorgungssituation im Justizvollzug zu erlangen. Die Task Force der DGPPN war ein sinnvoller erster Schritt, eine Verstetigung der Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Teilbereich der (Forensischen) Psychiatrie innerhalb der Fachgesellschaft wäre wünschenswert und wichtig. Unter Berücksichtigung des Positionspapiers der World Psychiatric Association (WPA) sollten Handlungsempfehlungen erarbeitet werden, wie der Zugang zum psychiatrischen Versorgungssystem für Menschen in Haft erleichtert und die Haftbedingungen verbessert werden können [10]. Dabei sollte insbesondere psychisch schwer erkrankten Menschen die Teilhabe an der vollstationären Versorgung ermöglicht werden. Eine gelingende psychiatrische Versorgung im Strafvollzug ist als notwendige Voraussetzung für die Erreichung der individuellen Vollzugsziele anzusehen und hat erheblichen Einfluss auf die Wiedereingliederung der inhaftierten Personen in die Gesellschaft und die öffentliche Sicherheit.
-
Literatur
- 1 Konrad N, Daigle MS, Daniel AE. et al. & International Association for Suicide Prevention Task Force on Suicide in Prisons. Preventing suicide in prisons, part I. Recommendations from the International Association for Suicide Prevention Task Force on Suicide in Prisons.. Crisis. 2007. 28. 113-121
- 2 Fazel S, Baillargeon J. The health of prisoners. Lancet 2011; 377: 956-965
- 3 Zhong S, Senior M, Yu R. et al. Risk factors for suicide in prison: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health 2021;
- 4 Favril L, Rich J, Hard J. et al. Mental and physical health morbidity among people in prisons: an umbrella review. Lancet public health 2024; 9: 250-260
- 5 Konrad N. Wie geeignet ist der Strafvollzug für die Aufnahme psychisch kranker Rechtsbrecher?. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 2024; 18: 43-50
- 6 von Schönfeld CE, Schneider F, Schröder T. et al. Prävalenz psychischer Störungen, Psychopathologie und Behandlungsbedarf bei weiblichen und männlichen Gefangenen. Nervenarzt 2006; 77: 830-841
- 7 DGPPN. Gefängnispsychiatrie (November 2023) https://www.dgppn.de/presse/thema-gefaengnispsychiatrie.html ; Stand: 13.11.2024
- 8 UNODC. Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen (Nelson-Mandela-Regeln) https://www.unodc.org/documents/justice-and-prison-reform/Nelson_Mandela_Rules-German.pdf ; Stand: 13.11.2024
- 9 Nationale Stelle zur Verhütung von Folter, Jahresbericht 2023 https://www.nationale-stelle.de/fileadmin/dateiablage/Dokumente/Berichte/Jahresberichte/NSzVvF_Jahresbericht_2023-DE_barrierefrei.pdf ; Stand: 12.11.2024
- 10 Forrester A, Piper M. The WPA's prison health position statement and curriculum. World Psychiatry 2020; 19: 125
Korrespondenzadresse
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
13. Januar 2025
© 2025. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
-
Literatur
- 1 Konrad N, Daigle MS, Daniel AE. et al. & International Association for Suicide Prevention Task Force on Suicide in Prisons. Preventing suicide in prisons, part I. Recommendations from the International Association for Suicide Prevention Task Force on Suicide in Prisons.. Crisis. 2007. 28. 113-121
- 2 Fazel S, Baillargeon J. The health of prisoners. Lancet 2011; 377: 956-965
- 3 Zhong S, Senior M, Yu R. et al. Risk factors for suicide in prison: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health 2021;
- 4 Favril L, Rich J, Hard J. et al. Mental and physical health morbidity among people in prisons: an umbrella review. Lancet public health 2024; 9: 250-260
- 5 Konrad N. Wie geeignet ist der Strafvollzug für die Aufnahme psychisch kranker Rechtsbrecher?. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 2024; 18: 43-50
- 6 von Schönfeld CE, Schneider F, Schröder T. et al. Prävalenz psychischer Störungen, Psychopathologie und Behandlungsbedarf bei weiblichen und männlichen Gefangenen. Nervenarzt 2006; 77: 830-841
- 7 DGPPN. Gefängnispsychiatrie (November 2023) https://www.dgppn.de/presse/thema-gefaengnispsychiatrie.html ; Stand: 13.11.2024
- 8 UNODC. Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen (Nelson-Mandela-Regeln) https://www.unodc.org/documents/justice-and-prison-reform/Nelson_Mandela_Rules-German.pdf ; Stand: 13.11.2024
- 9 Nationale Stelle zur Verhütung von Folter, Jahresbericht 2023 https://www.nationale-stelle.de/fileadmin/dateiablage/Dokumente/Berichte/Jahresberichte/NSzVvF_Jahresbericht_2023-DE_barrierefrei.pdf ; Stand: 12.11.2024
- 10 Forrester A, Piper M. The WPA's prison health position statement and curriculum. World Psychiatry 2020; 19: 125




