Schlüsselwörter
Covid-19 - Syndromische Surveillance - Epidemiologie - Routinedaten - akute respiratorische
Erkrankungen
Einleitung
Mit dem Übergang der COVID-19-Pandemie in die Endemie wurden bundesweit
Kontrollmaßnahmen gelockert. Auch in Niedersachsen kam es zu einer schrittweisen
Aufhebung von Isolierungs- und Nachweispflichten (siehe Infobox): Testzentren
wurden geschlossen, anlassbezogene und verpflichtende Testungen abgeschafft und
zuvor leicht zugängliche Schnelltests wurden aufgebraucht oder entsorgt. Dies hatte
gravierende Auswirkungen auf die Informationslage zu den Infektionszahlen.
Infobox: gesetzliche Rahmenbedingungen mit Auswirkung auf die
7-Tage-Meldeinzidenz [21]
[22]
01.02.2020
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Verordnung zur Meldepflicht für den Verdacht einer Erkrankung, die
Erkrankung und den Tod in Bezug auf COVID-19, ab 23.05.2020
gesetzlich geregelt im IfSG (Infektionsschutzgesetz)
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01.03.2020
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Einführung der 7-Tage-Meldeinzidenz für COVID-19 mittels
PCR-Bestätigung auf Basis des IfSG, herausgegeben vom RKI (und
anderen Behörden)
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14.05.2020
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Bundesweite Testverordnung: kostenlose Bürgertests in
Risikogebieten
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08.03.2021
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Einbezug von Antigen-Schnelltests in Teststrategie; sukzessive
Abschaffung der PCR-Testpflicht nach positivem Schnelltest (variiert
je Bundesland)
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01.07.2022
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Bundesweite Zahlung von 3 Euro für Bürgertests, Ausnahme für
bestimmte Risikogruppen
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25.11.2022
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Bundesweite Abschaffung der 3-Euro-Bürgertests; weitere
Einschränkungen der Gruppen, die kostenfreie Bürgertests erhalten
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16.01.2023
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Änderung der bundesweiten Corona-Testverordnung: Abschaffung des
kostenlosen Freitestens
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31.01.2023
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Niedersächsische Absonderungsverordnung tritt außer Kraft
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01.03.2023
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Aufhebung der Niedersächsischen Coronaverordnung: Abschaffung eines
Testnachweises beim Betreten von medizinischen und pflegerischen
Einrichtungen
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Bis dahin galt die sogenannte „7-Tage-Inzidenz“ als Leitindikator für die Anordnung
oder Beendigung von Kontrollmaßnahmen. Dieser Indikator wurde im Zeitraum
03/2020–04/2023 vom Robert Koch-Institut (RKI) und anderen Behörden ermittelt und
veröffentlicht. Er basierte auf den an die Gesundheitsämter gemäß
Infektionsschutzgesetz (IfSG) gemeldeten SARS-CoV-2-Fällen, die die
Referenzdefinition erfüllten d. h. entweder mittels Nukleinsäureamplifikation (z. B.
Polymerase Chain Reaction [PCR]) oder Erregerisolierung laborbestätigt waren [1]. Je nach Pandemiephase wird geschätzt,
dass dadurch 20%-75% der tatsächlich stattgehabten Infektionen abgebildet wurden
[2]. Da dieser Indikator nicht alle
stattgehabten Infektionen erfasst, sondern nur diejenigen, die nach den
IfSG-Vorgaben gemeldet wurden, wird hierfür im Folgenden die Bezeichnung
„7-Tage-Meldeinzidenz“ verwendet. Im Laufe des Jahres 2023 nahm durch die
Reduzierung der PCR-Testindikationen und -aktivitäten die Untererfassung von Fällen
zu und machte eine Neuausrichtung der Surveillance auf einen endemischen Verlauf
notwendig.
Dies geschah im Einklang mit den Empfehlungen des Europäischen Zentrums für
Prävention und Kontrolle von Erkrankungen (ECDC). Im Dialog mit acht Europäischen
Ländern lenkte es den Fokus nunmehr auf die Erfassung und das Management schwerer
COVID-19-Erkrankungen sowie den Schutz vulnerabler Menschen [3]. Das ECDC rief jedoch auch dazu auf,
eine nachhaltige COVID-19-Surveillance für die Allgemeinbevölkerung aufzubauen, die
das syndromische Krankheitsgeschehen zukünftig abbildet und zudem in eine allgemeine
Überwachung von akut respiratorischen Infektionserkrankungen eingebunden ist [4].
Das Niedersächsische Landesgesundheitsamt (NLGA) nahm diese Empfehlungen zum Anlass,
um ein solches Surveillancesystem zu entwickeln, das als ein innovatives Verfahren
die syndromische Infektionsdynamik räumlich, zeitnah und zuverlässig widerspiegeln
soll [5]. Am 30.9.2022 startete die Studie
PanCHECK-iN (Pandemiecheck in Niedersachsen) in Kooperation mit der AOK – Die
Gesundheitskasse für Niedersachsen (AOKN). Das System erfasst COVID-19-Erkrankungen
mittels Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU), die den Krankenkassen zeitnah
vorliegen und für PanCHECK-iN als Sekundärdaten genutzt werden können. Weiterhin
sollte geprüft werden, ob das Verfahren per AU generell für die Surveillance akuter
respiratorischer Ersterkrankungen geeignet ist.
Ziel dieser Arbeit ist es, anhand der Beschreibung der methodischen
Entwicklungsschritte und der Einschätzung von Machbarkeit, Mehrwert, Möglichkeiten
und Grenzen, eine Blaupause zum Aufbau einer Surveillance mittels AU-Routinedaten
zu
geben. Im Detail werden die Prüfergebnisse zum Aufbau der Datengrundlage für eine
syndromische Surveillance vorgestellt. Dies betrifft:
-
In- und Exklusion der in die AOKN routinemäßig eingehenden
AU-Bescheinigungen
-
Wahl des Indikators für die Festlegung einer akuten COVID-19-Erkrankung
-
krankengeldberechtigte Mitglieder (KGbM) als Bezugswert für die
7-Tage-AU-Inzidenz
Darauf aufbauend wurde der AU-Surveillance-Indikator mit der 7-Tage-Meldeinzidenz
in
einer Zeitreihendarstellung verglichen.
Methoden
Das vom NLGA gemeinsam mit der AOKN beantragte Kooperationsprojekt PanCHECK-iN wurde
vom Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung unter Prüfung
des Datenschutzkonzepts auf Basis §75 SGB X (Übermittlung von Sozialdaten für die
Forschung und Planung) am 30.9.2022 geprüft und aufgrund des hohen
Aggregationsgrades der Daten hinsichtlich des Sozialdatenschutzes als unbedenklich
gewertet. Hiermit wurde eine wöchentliche Bereitstellung von Routinedaten der AOKN
ohne Personenbezug an das NLGA ermöglicht. Es handelt sich um aggregierte Daten, bei
denen eine Re-Identifizierung oder Rückverfolgbarkeit auf ein Individuum nicht
möglich ist. Eine Einwilligung der Versicherten sowie ein Ethikvotum waren daher
nicht erforderlich.
Datenlieferung und Herstellung einer Datenbasis
Die AOKN übermittelt monatlich die stichtagsbezogene Anzahl ihrer KGbM. KGbM sind
alle erwerbstätigen Personen, die mit Anspruch auf Krankengeld versichert sind
und im Falle einer längeren Erkrankung Krankengeld als Entgeltersatzleistung
erhalten. Vorrangig sind dies Arbeitnehmende und Beziehende von Arbeitslosengeld
I. Weiterhin können sich Selbstständige für eine Mitgliedschaft mit
Krankengeldanspruch entscheiden. Da die Anzahl der KGbM pro Monat nur
rückwirkend bereitgestellt werden kann, wurden Auswertungen immer mit dem Stand
zum 1. des jeweiligen Vormonats durchgeführt.
In der AOKN werden alle eingegangenen AU wöchentlich mit Stichtag Freitag
gesammelt, bis zum folgenden Montag bearbeitet und am Dienstag früh als
Exceltabelle im anonymisierten aggregierten Datenformat an das NLGA geliefert.
Die AOKN nutzt spezifische Informationen aus den AU ihrer Mitglieder und
bearbeitet sie wie folgt:
-
Umcodierung der Meldeadresse der arbeitsunfähigen AOKN-Mitglieder in den
Landkreiscode bzw. den der kreisfreien Stadt. Es werden nur in
Niedersachsen gemeldete Personen berücksichtigt.
-
Chiffrierung des genauen Datums der Erst-AU in die entsprechende
Kalenderwoche (KW).
-
Einordnung der die AU erklärenden ICD-Diagnosecodes (10. Version der
International Statistical Classification of Diseases and Related Health
Problems [6]) in vier
Diagnosegruppen: Die erste Diagnosegruppe umfasst „Akut respiratorische
Erkrankungen“, kurz ARE, und wird in Anlehnung an das SEEDARE
Projekt der Arbeitsgemeinschaft Influenza des Robert Koch-Instituts
[7] gebildet. Die
Diagnosegruppe ARE beinhaltet die Codes J00–J06 (akute Infektionen der
oberen Atemwege), J09–J11 (Grippe), J12–J18 (Pneumonie), J20–J22+J44.0
(sonstige akute Infektionen der unteren Atemwege) [8]. Die zweite Diagnosegruppe
enthält nur AU-Bescheinigungen mit den ICD-10-Codes U07.1! oder U07.2!;
die dritte nur solche Bescheinigungen mit U07.1!; die vierte Gruppe
umfasst alle AU ohne Differenzierung nach ICD-10-Codes.
Die ICD-10-Codes U07.1! (COVID-19, Virus nachgewiesen) bzw. U07.2! (COVID-19,
Virus nicht nachgewiesen) sind im Jahr 2020 verbindlich als Sekundärcodes
eingeführt worden. Sie stehen für die Akuterkrankung COVID-19 und müssen
zusammen mit mindestens einem ICD-Primärcode aus dem Erkrankungskreis auf der AU
dokumentiert werden.
Die wöchentlich datenschutzkonforme Datenübertragung der AOKN enthält eine
Excel-Datei bestehend aus vier Datenblättern, wobei jedes Datenblatt eine
Diagnosegruppe (s. o.) abbildet. Die Datenblätter enthalten spaltenweise
anwachsend die KW mit Beginn der KW 29/2022. In den Zeilen befindet sich die
Anzahl der für diese Diagnosegruppe in die AOKN eingegangenen
AU-Erstbescheinigungen aus jedem der 45 Niedersächsischen Landkreise bzw.
kreisfreien Städte
Untersuchungen der Routinedaten zur Erstellung des Analysedatensatzes
Um eine möglichst valide Datenanalyse der wöchentlich eingehenden
COVID-19-AU-Fälle zu realisieren, wurden in Anlehnung an die „Gute Praxis
Sekundärdatenanalyse“ [9]
Untersuchungen zum Umgang mit Erst- und Folgebescheinigungen, Nachmeldungen,
Schwankungen der Bezugsgröße der KGbM und zur Auswahl der Zielvariablen U07.1!
bzw. U07.2! notwendig. Sie erfolgten in enger Abstimmung mit dem Forschungsteam
der AOKN als Datenhalterin und werden im Folgenden beschrieben.
-
Umgang mit Erst- und Folgebescheinigungen
AU-Bescheinigungen enthalten ärztliche Dokumentationsfelder zur
Kennzeichnung von Erst- bzw. Folgebescheinigungen nebst Angaben zum
Datum des AU-Eintritts, des Feststellungstages und dem voraussichtlich
letzten Tag der AU. Für den Analysedatensatz interessieren
ausschließlich Neuerkrankungen mit ARE bzw. COVID-19. Um
Mehrfachzählungen eines Falles auszuschließen, werden ausschließlich AU-
Erstbescheinigungen verwendet. Aus Gründen der internen
Routineverarbeitung der AOKN sind Angaben zur Erst- und
Folgebescheinigung nicht abrufbar. Um dennoch lediglich
Erstbescheinigungen für die Analyse zu selektieren, wurden behelfsweise
die Datenfelder „ärztliches Feststellungsdatum“ und „Datum:
arbeitsunfähig seit…“ in Beziehung gesetzt. Bei Erstbescheinigungen sind
Feststellungsdatum und AU-Eintritt in der Regel tagesgleich oder
zeitlich nur gering versetzt. Bei Folgebescheinigungen aktualisieren
Ärzte das Feststellungsdatum, nicht aber den AU-Eintritt.
AU-Bescheinigungen dürfen nur ausnahmsweise rückwirkend ausgestellt
werden - in der Regel bis zu drei Tage [10]. Ein Gerichtsurteil ließ de
facto eine rückwirkende ärztliche AU-Bestätigung von nur zwei Tagen zu
[11]. Wir definierten eine
Erstbescheinigung als solche, wenn der Zeitraum zwischen AU-Eintritt und
ärztlichem Feststellungsdatum 0 bis 2 Tage zurückliegt. Lag eine
Rückdatierung von 3 und mehr Tagen vor, wurde diese Bescheinigung als
Folgebescheinigung festgelegt.
[Abb. 1] zeigt am Beispiel der
KW 45/2022, wie die eingegangenen AU-Bescheinigungen innerhalb der AOKN
für die Studie selektiert und gezählt werden.
-
Zeitgerechte Verfügbarkeit der AU-Erstbescheinigungen: Umgang mit
Nachmeldungen
Abb. 1 Prozess der Datenselektion bei der AOK Niedersachsen am
Beispiel von KW 45/2022.
Die AOKN stellt alle AU-Erstbescheinigungen der jeweils vergangenen Woche bereit.
Für die zu etablierende Surveillance mittels AU-Bescheinigungen galt es zu
prüfen, inwieweit AU-Erstbescheinigungen verspätet bei der AOKN eintreffen und
somit nicht in die wöchentliche Erhebung eingehen können.
Zur Exploration wurde ein Nachmeldezeitraum von bis zu 4 Wochen angenommen. Es
wurde ermittelt, wieviel Prozent der AU-Erstbescheinigungen sofort, 1 Woche
später und bis zu 4 Wochen später eingehen. Die Berechnungen wurden für die
Jahre 2022 und 2023 getrennt durchgeführt, da zum 1.1.2023 die ärztliche
Übermittlung der AU-Bescheinigung (eAU) vom Papier- auf den elektronischen Weg
verpflichtend wurde. Für das Jahr 2022 lagen Daten ab KW 29 vor.
Im Ergebnisteil finden sich der über alle KW eines Jahres gemittelte Anteil von
Nachmeldungen sowie eine Zeitreihendarstellung der 7-Tage-AU-Inzidenzen mit und
ohne einwöchige Nachmeldungen ([Abb.
2]).
Abb. 2 Vergleich der 7-Tage-AU-Inzidenz mit und ohne Nachmeldungen
in den Jahren 2022 und 2023.
-
Umgang mit möglichen Schwankungen in der Anzahl der KGbM
Um zu prüfen, ob von einer konstanten Anzahl von KGbM ausgegangen werden
kann, wurde die über 16 Monate gemittelte Anzahl der KGbM einschließlich
der Standardabweichung berechnet.
-
Umgang mit den ärztlichen ICD-10-Diagnoseschlüsseln der
AU-Bescheinigungen
Für den Aufbau einer COVID-19-Surveillance interessiert die übermittelte Anzahl
an Bescheinigungen mit den ICD-10-Diagnosecodes U07.1! bzw. U07.2!. In den
Kodierempfehlungen der Kassenärztlichen Vereinigung ist U07.1! für
„COVID-19-Fälle vorgesehen, bei denen SARS-CoV-2 durch einen Labortest
nachgewiesen wurde“ [12]. Laut dem
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte setzt die Angabe der
Schlüsselnummer U07.1! einen direkten Virusnachweis voraus [6], was Antigen-Schnelltests
einschließt. U07.2! ist für COVID-19-Fälle vorgesehen, die nicht durch einen
Labortest nachgewiesen, sondern klinisch-epidemiologisch bestätigt wurden. Für
die zu etablierende Surveillance mittels AU-Bescheinigungen stellte sich die
Frage, ob neben den labor- auch rein klinisch-epidemiologisch bestätigte
COVID-19-Erkrankungen berücksichtigt werden sollten.
Für einen ersten Überblick wurden die 7-Tage-AU-Inzidenzen auf Basis des Codes
U07.1! und zugleich auf Basis der Codes U07.1!+U07.2! miteinander verglichen.
Dazu wurden Zeitreihen für die Jahre 2022 und 2023 erstellt, wobei für das Jahr
2022 Daten ab KW 29 vorliegen. Für eine genauere Einschätzung wurden der über
die KW gemittelte Anteil von AU mit U07.1! bezogen auf alle AU mit U07.1!+U07.2!
berechnet. Ein hoher Anteil würde für COVID-19-Diagnosen sprechen, die
überwiegend auf Testergebnissen beruhen. Um zu prüfen, inwiefern ärztliche
COVID-19-Diagnosestellungen zeitlich stabil auf Testergebnissen beruhen, wurden
die Berechnungen getrennt für die Jahre 2022 und 2023 durchgeführt.
Validierung anhand der 7-Tage-Meldeinzidenz
Die anhand der obigen Überlegungen gebildete 7-Tage-AU-Inzidenz wurde schließlich
der 7-Tage-Meldeinzidenz in einem Zeitreihendiagramm gegenübergestellt. Dabei
wurden für jede durchlaufende Woche die jeweils aktuellen KW-Werte
verwendet.
Darüber hinaus wurde die über die KW der Jahre 2022 und 2023 gemittelten
Korrelationen zwischen der 7-Tage-AU- und 7-Tage-Meldeinzidenz berechnet.
Ergebnisse
Prüfung von Schwankungen in der Anzahl der KGbM
Die Anzahl der KGbM erwies sich über den Betrachtungszeitraum als stabil. Die
Streuung (gemessen als Standardabweichung s) um den Mittelwert (M)
über die betrachteten 16 Monate ist gering (M=1.218.202, s=11.003).
Prüfung der zeitgerechten Verfügbarkeit von COVID-19-bedingten
AU-Bescheinigungen
Im Jahr 2022 trafen durchschnittlich 83,0% (s=5,4%) aller
AU-Bescheinigungen[1] mit
ICD-10-Codes U07.1! oder U07.2! rechtzeitig in der betrachteten KW ein. Im Jahr
2023 waren es im Mittel 88,9% (s=2,3%). Demnach stieg der Anteil an den
für die Auswertung aktuell verfügbaren AU-Bescheinigungen. Die
Standardabweichung weist auf geringe wöchentliche Schwankungen hin. Würde ein
Nachmeldezeitraum von 1 Woche zugelassen, wären nahezu alle Meldungen enthalten:
für das Jahr 2022 waren es im Mittel 97,7% (s=0,8%,) und für 2023 98,7%
(s=1,3%).
In [Abb. 2] werden die
7-Tage-AU-Inzidenzen mit und ohne einwöchiger Nachmeldungen für die Jahre 2022
und 2023 in einem Zeitreihendiagramm verglichen. Bei unterschiedlicher
Berücksichtigung der ICD-10-Codes U07.1!+U07.2! bzw. nur U07.1! lagen dabei kaum
Abweichungen vor. Das bedeutet, dass laborbestätigte COVID-19-AU-Meldungen nicht
systematisch später in der AOKN eintreffen als nicht laborbestätigte
COVID-19-AU-Meldungen.
Prüfung der ärztlichen AU-Codes U07.1! bzw. U07.2!
Im Jahr 2022 ergab der Kodieranteil U07.1! (COVID-19, labordiagnostisch
nachgewiesen) an allen erfassbaren COVID-19-Akuterkrankungen (also
U07.1!+U07.2!) 75,7% und im Jahr 2023 83,4%. Über den gesamten
Erfassungszeitraum waren 81,3% (s=4,3%) der COVID-19-AU-Bescheinigungen mit
U07.1 kodiert.
Vergleich der 7-Tage-AU-Inzidenz mit der 7-Tage-Meldeinzidenz
In einer Zeitreihendarstellung für die Jahre 2022 und 2023 wurden die
freitäglichen 7-Tage-Meldeinzidenzen mit den AOKN-Daten derselben KW verglichen
([Abb. 3]), wobei für beide
Inzidenzen jeweils die aktuell verfügbaren Daten ohne spätere Nachmeldungen
genutzt wurden. Die 7-Tage AU-Inzidenz setzte sich im Zähler aus der Anzahl
AU-Bescheinigungen mit U07.1!+U07.2! und im Nenner aus der Zahl der KGbM des
Vormonats zusammen.
Abb. 3 Vergleich der 7-Tage-AU- und -Meldeinzidenz in den Jahren
2022 und 2023.
Im Jahr 2022 verliefen sowohl die Werte als auch die Trends der 7-Tage-AU- und
-Meldeinzidenz sehr ähnlich (r=0,89). Ab Beginn 2023 zeigten sich
deutlich abweichende Trends (r=0,26). Insbesondere die
7-Tage-Meldeinzidenz war stark rückläufig, während die 7-Tage-AU-Inzidenz eine
erneute Infektionswelle anzeigte. Im Jahresverlauf zeigt sich ab Spätsommer 2023
(insbesondere ab KW 42) eine erneute Infektionswelle mit der 7-Tage-AU-Inzidenz
viel deutlicher als mit der 7-Tage-Meldeinzidenz.
Diskussion
Die Prüfungen der AOKN-Routinedaten auf Basis der AU-Bescheinigungen haben zu
folgenden Festlegungen für den AU-Surveillance Indikator geführt:
-
Inklusion nur der wochenaktuell (Samstag bis Freitag) bei der AOKN
eingehenden AU-Erstbescheinigungen, Exklusion der später eingehenden
AU-Erstbescheinigungen (sogenannte Nachmeldungen)
-
Erfassung einer COVID-19-Akuterkrankung nach der ICD-10-Diagnosecodegruppe
U07.1!+U07.2!
-
Berechnung des Indikators mit Bezugsgröße der KGbM
Die Analyse der Nachmeldungen führte zu einer Entscheidung zugunsten der zeitnahen
Erfassung aktueller COVID-19-AU-Zahlen. Insbesondere seit der obligaten
Implementierung der eAU ab 1.1.2023 ist eine konstant hohe Rate zeitgerechter
Eingänge der AU-Bescheinigungen zur AOKN zu verzeichnen. Die Untersuchungen der
Diagnosecodes erbrachten einen hohen Anteil labordiagnostisch bestätigter Diagnosen
(U07.1!) an allen COVID-19 Akutdiagnosen (U07.1!+U07.2!). Labordiagnostische
Testungen nahmen im Rahmen der AU-Ausstellungen im Jahr 2023 sogar noch zu und lagen
bei 4/5 aller COVID-19-bedingten AU-Bescheinigungen. Zu bedenken ist, dass
COVID-19-Erkrankungen nur zusätzlich zu einem ARE-Primärcode auf den
AU-Bescheinigungen dokumentiert werden dürfen. So kann davon ausgegangen werden,
dass Ärztinnen und Ärzte den zusätzlichen Dokumentationsaufwand einer U07.2!-
Kodierung (COVID-19, nicht laborbestätigt) nur bei dringendem Verdacht vornehmen.
Die Prüfung des Bezugswertes KGbM ergab eine konstante Anzahl über den
Beobachtungszeitraum hinweg. Dennoch haben wir, wegen einer besseren
Vergleichbarkeit mit anderen Surveillance-Systemen, beschlossen, einen festen
Bezugspunkt herzustellen, indem die Angaben auf 100.000 KGbM genormt wurden.
Der Zeitreihenvergleich des AU-Surveillance-Indikators mit der 7-Tage-Meldeinzidenz
begann im Juli 2022 zu einem Zeitpunkt, an dem die Pandemie noch andauerte und die
7-Tage-Meldeinzidenz eine Sommerwelle anzeigte. Im Zeitreihenvergleich der
7-Tage-Meldeinzidenz mit dem hier entwickelten AU-Surveillance-Indikator stellte
sich 2022 zunächst eine sehr hohe Korrelation dar (s. auch [Abb. 3], die fast identische Trends beider
Indikatoren zeigt). Im Übergang 2022/23 konnte jedoch eine deutliche Infektionswelle
nur noch mit dem AU-Surveillance-Indikator festgestellt werden [13].
Machbarkeit, Grenzen und Mehrwert
Sekundärdaten werden bislang nur selten für eine Surveillance herangezogen.
Während andere Surveillance-Systeme im ARE-Bereich, welche IfSG-Meldedaten
ergänzen, in der Regel auf freiwilligen Teilnahmen von z. B. Praxen, Laboren und
Krankenhäusern basieren, liegt ein Vorteil der Surveillance mit kassenärztlichen
AU-Bescheinigungen in der Nutzung von Routinedaten. Dadurch entfällt eine
ressourcenintensive Erhebung neuer Daten. Zudem kommt das Projekt den
Forderungen nach auch in Deutschland vermehrt Sekundärdaten wissenschaftlich zu
nutzen mit dem Ziel Public-Health-Maßnahmen abzuleiten [14]. Die hier vorgestellte Surveillance
ist in der Datenbereitstellung, -übertragung und -auswertung vergleichsweise
einfach zu handhaben. Nach Prüfung datenschutzrechtlicher Belange und nach
einmaliger Implementierung der Datenbearbeitung und Plausibilitätsprüfung
verläuft die Zusammenstellung und Übermittlung der aggregierten Daten
weitestgehend automatisiert.
Zudem bietet die AOKN mit mehr als 3 Mio. Versicherten eine große Basispopulation
zur Auswertung, sie repräsentiert aktuell rund 37% der niedersächsischen
Bevölkerung [15]. Insgesamt ist die
Population der AOKN dabei hinsichtlich ihrer Alters- und Geschlechtsverteilung
repräsentativ für Gesamtdeutschland und Niedersachsen. Lediglich hinsichtlich
der Berufsqualifikationen ergeben sich leichte Abweichungen [16]
[17]. Limitierend ist zu berücksichtigen, dass KGbM einen bestimmten
Ausschnitt der AOKN-Versicherten darstellen. Der Anteil der KGbM an allen
Versicherten der AOKN liegt bei 41,3%, was einem Anteil von ca. 15% der
niedersächsischen Gesamtbevölkerung entspricht. Keinen Anspruch auf Krankengeld
haben Gruppen wie Kinder, Familienversicherte und Rentner, die bei Erkrankung
typischerweise keinen Verdienstausfall erleiden. Diese Altersgruppen werden in
einer AU-Surveillance nicht abgebildet. Nach der bisherigen Pandemieerfahrung
ist jedoch nicht davon auszugehen, dass das Infektionsgeschehen nur bestimmte
Altersgruppen betrifft. Diese Annahme wird durch unsere Zeitreihenanalysen bis
Ende 2022 gestützt, in denen deutlich wird, dass die 7-Tage-AU-Inzidenz sowohl
im Trend als auch im Verlauf parallel zur 7-Tage-Meldeinzidenz verlief, die alle
Alters- und Bevölkerungsgruppen einbezieht ([Abb. 3]). Somit kann angenommen
werden, dass die 7-Tage-AU-Inzidenz in Bezug auf COVID-19 auf das Geschehen in
der Gesamtbevölkerung übertragbar ist. Inwiefern diese Generalisierung auch für
weitere SARS-CoV-2-Varianten und andere ARE-Erreger anzunehmen ist, sollte in
der Entwicklung entsprechender AU-Surveillance-Systeme berücksichtigt
werden.
Das vom RKI etablierte Sentinel zur Elektronischen Erfassung ärztlicher
Diagnosecodes Akuter Respiratorischer Erkrankungen (SEEDARE) startete
bereits 2007 und basiert ebenfalls auf Sekundärdaten der Krankenkassen. Mittels
einer Schnittstelle, die für einige Arztinformationssysteme eingerichtet worden
ist, kann auf für die Surveillance relevante Patientendaten direkt zugegriffen
werden, wobei stringente Datenschutzbestimmungen greifen. Zudem müssen
Datenmodellierungen für die in den Praxisdaten nicht direkt abgebildeten
Konsultationen und Praxiskontakte erfolgen. SEEDARE ist es jedoch
möglich, genauer in die Daten ihrer Sentinelpraxen zu schauen, sodass
beispielsweise nach Geschlecht und Altersgruppen stratifiziert werden kann [18]. Auch werden alle gesetzlich
Versicherten erfasst.
Grundsätzlich müssen sowohl AU- als auch Meldedaten kontinuierlich auf Einflüsse
geprüft werden. So kann sich das ärztliche Kodierverhalten (z. B. durch
Vergütungsregelungen, dem Zugang zu Antigentests oder durch ein sinkendes
Interesse an einer genauen Diagnosestellung zu ARE) verändern. Auch die
Einführung der eAU ab Anfang 2023 mit einer höheren Vollständigkeit der bei den
Krankenkassen vorliegenden Daten und die dauerhafte Möglichkeit der
telefonischen AU-Ausstellung ab Dezember 2023 müssen bei der Interpretation der
AU-Zahlen berücksichtigt werden. Eine weitere Instabilität bei den AU-Daten
ergibt sich durch die Ferienzeiten. Sie führen durch geschlossene Praxen,
vermindertes Konsultationsverhalten und daraus resultierend weniger Diagnostik
zu Untererfassung, die auch in unseren Zeitreihen zu Weihnachten und Ostern
sichtbar wird. Zudem zeigen insbesondere KW mit Feiertag(en) einen deutlichen
aber ausschließlich temporären Rückgang an AU-Erstbescheinigungen, da in Tarif-
und Arbeitsverträgen vereinbarte Karenztage bei Einbezug von Feiertagen keine
Krankschreibungen erfordern.
Neben der Erfassung aktueller COVID-19-Erkrankungen liegt ein weiterer Mehrwert
der PanCHECK-iN-Surveillance darin, Arbeitsausfallquoten aufgrund von ARE im
Allgemeinen darzustellen. In retrospektiven Analysen zum Krankenstand
konstatierten mehrere Krankenkassen, dass die Krankheitstage im Jahr 2023
aufgrund von Erkältungskrankheiten deutlich über dem Niveau vor der Pandemie
lagen, was zu wirtschaftlichen Einbußen führt [19]. Mit einem ARE-Indikator, der
solche Entwicklungen im aktuellen Zeitverlauf berücksichtigt, könnten
anlassbezogen gezielte Empfehlungen z. B. zu erweiterten Homeoffice-Regelungen,
ermöglicht werden.
Surveillance beinhaltet häufig die Bewertung eines Zusammenspiels verschiedener
Indikatoren. Dabei ergänzen sich die eingesetzten Surveillance-Systeme im besten
Fall und reagieren, wie hier für das Auslaufen der Testverordnung dargelegt,
unterschiedlich auf dieselben Einflussfaktoren. Am NLGA liegen, neben den
AU-Daten, Informationen zu Krankenständen im Zusammenhang mit ARE aus einem
Sentinel von vorschulischen Kindertageseinrichtungen vor. Dieses wird durch die
Ergebnisse aus einer virologischen Untersuchung von Rachenabstrichen von
Patientinnen und Patienten mit einer ARE aus ausgewählten Arztpraxen und
Krankenhäusern ergänzt. Da der bisherige Fokus auf Kindern liegt, erweitert der
Einbezug der 7-Tage-AU-Inzidenz unsere internen Indikatoren um bisher
unterrepräsentierte Altersgruppen. Zudem lassen sich mit den AU-Daten der AOKN
nicht nur Aussagen über COVID-19, sondern auch über ARE insgesamt treffen. Dies
findet sich im wöchentlichen ARE-Bericht des NLGA bereits wieder [20].
Fazit
Mit der 7-Tage-AU-Inzidenz wurde ein simpler Surveillance-Indikator für das
syndromische Infektionsgeschehen akuter respiratorischer Erkrankungen und
insbesondere von COVID-19 entwickelt. Der Indikator zur 7-Tage-AU-Inzidenz von
COVID-19 ermöglichte bisher auch postpandemisch eine zuverlässige Einschätzung der
Höhe des Infektionsgeschehens. Zudem ist er für eine Surveillance einfach zu
etablieren, da aktuell verfügbare Sekundärdaten in einem Routineverfahren
übermittelt werden können. Somit zeigt sich auch hier, wie in anderen medizinischen
Versorgungsbereichen, die Relevanz anonymisierter Krankenkassendaten für den
Infektionsschutz. Zeitgleich muss die AU-Surveillance fortlaufend vor dem
Hintergrund von Änderungen im Kodier- und Testverhalten interpretiert werden.
In Niedersachsen hat sich die AU-Surveillance bewährt und der wöchentliche
ARE-Bericht gewinnt einen spezifischen COVID-19-Indikator sowie einen übergeordneten
ARE-Indikator, die in der Zusammenschau mit den etablierten Indikatoren die
Lageeinschätzung des postpandemischen Infektionsgeschehens erweitern.
Dieser Artikel ist Teil des DNVF Special Issues „Health Care
Research and Implementation“