Nervenheilkunde 2025; 44(07/08): 484-488
DOI: 10.1055/a-2568-3863
Schwerpunkt

Ein „jüdischer“ Patient in der Psychiatrie des Nationalsozialismus

Ein vielschichtiges FallbeispielBeing a ”Jewish” patient in National Socialist psychiatry – a multi-layered case report
Thomas Müller
Forschungsbereich Geschichte und Ethik in der Medizin, ZfP Südwürttemberg/Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm
,
Bernd Reichelt
Forschungsbereich Geschichte und Ethik in der Medizin, ZfP Südwürttemberg/Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm
› Institutsangaben
Preview

Zusammenfassung

Jüdische Patientinnen und Patienten in der Psychiatrie des Nationalsozialismus waren doppelt stigmatisiert; sie waren psychisch krank und jüdisch. Im Verlauf der Vernichtung der deutschen Judenheit wurden auch separate Sammeleinrichtungen für die Genannten etabliert. Der vorliegende Beitrag zeigt jedoch, dass diese Menschen, jenseits dieser, auch in der zentralen „Euthanasie“ getötet wurden, und dass sie vor Verfolgung und Tod auch dann nicht sicher waren, wenn sie zum Teil christliche Eltern hatten oder Ehen mit Christen geschlossen hatten. An einem ungewöhnlichen Fallbeispiel aus Württemberg wird darüber hinaus die besondere antisemitische Stigmatisierung deutlich, denen jüdische Patientinnen und Patienten ausgesetzt waren, wie auch die Nichtbeachtung vermeintlich bindender NS-Richtlinien.

Abstract

Jewish patients in National Socialist psychiatry were doubly stigmatized; they were mentally ill and Jewish. In the course of the extermination of German Jewry, separate collection facilities were also established for these patients. However, this article shows that these people were also killed in the central “euthanasia” programme and that they were not safe from persecution and death even if some of them had Christian parents or had married Christians. An unusual case study from Wuerttemberg also highlights the particular anti-Semitic stigmatization to which Jewish patients were subjected, as well as the non-obedience of supposedly binding Nazi guidelines.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
16. Juli 2025

© 2025. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany

 
  • Literatur

  • 1 Habermas J. Statt eines Vorworts. In: Friedländer S, Frei N, Steinbacher S. et al. Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkung zum neuen Streit über den Holocaust. München: C. H. Beck Verlag; 2022: 7-14
  • 2 Friedlander H. Jüdische Anstaltspatienten im NS-Deutschland. In: Aly G. Hrsg. Aktion T4 1939–1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Berlin: Berlin; 1989: 34-44
  • 3 Friedlander H. Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin: Berlin; 1997
  • 4 Hinz-Wessels A. Jüdische Opfer der „Aktion T4“ im Spiegel der überlieferten „Euthanasie“-Krankenakten im Bundesarchiv. In: Rotzoll M. et al. Hrsg. Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart. Paderborn u. a.: 2010: 143-146
  • 5 Hinz-Wessels A. Antisemitismus und Krankenmord. Zum Umgang mit jüdischen Anstaltspatienten im Nationalsozialismus. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2013; 61: 65-92
  • 6 Kingreen M. Jüdische Patienten in der Gießener Anstalt und deren Funktion als »Sammelanstalt« im September 1940. In: George U. Hrsg. Psychiatrie in Gießen. Facetten ihrer Geschichte zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, Forschung und Heilung. Gießen: Psychosozial-Verlag; 2003: 251-289
  • 7 Kingreen M. Jüdische Kranke als Patienten der Landesheilanstalt Hadamar (1909–1940) und als Opfer der Mordanstalt Hadamar (1941–1945). In: George U. et al. Hrsg. Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum. Marburg: Jonas-Verlag; 2006: 189-215
  • 8 Lilienthal G. Der NS-Anstaltsmord an jüdischen Patientinnen und Patienten. In: Wille I. Hrsg. Transport in den Tod. Von Hamburg-Langenhorn in die Tötungsanstalt Brandenburg. Lebensbilder von 136 jüdischen Patientinnen und Patienten. Berlin: Metropol; 2017: 17-40
  • 9 Lilienthal G. Jüdische Patienten als Opfer der NS-„Euthanasie“-Verbrechen. Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 2009; 5: 1-16
  • 10 Reichelt B, Müller T. „Nun bleibt weiter recht tapfer und habt Gottvertrauen“. Die Verfolgung und Ermordung jüdischer Patientinnen und Patienten der Heilanstalt Zwiefalten zur Zeit des Nationalsozialismus. In: Karenberg A, Haack K. Hrsg. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde, Bd. 26. Würzburg: Königshausen & Neumann; 2020: 180-208
  • 11 Reichelt B, Müller T. Verfolgt und Ermordet. Jüdische Patientinnen und Patienten in der Heilanstalt Zwiefalten zur Zeit des Nationalsozialismus. In: Müller T, Kanis-Seyfried U, Reichelt B. Hrsg. Psychiatrie und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten und angrenzenden Gebieten (I). Zwiefalten: Verlag Psychiatrie und Geschichte; 2022: 91-119
  • 12 Naeve D. Geschichte der Pflegeanstalt Heggbach und des Kinderasyls Ingerkingen im Nationalsozialismus 1933–1945. Eitorf: Gata-Verlag; 2000
  • 13 Schabow D. Die Israelitische Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke (Jacoby’sche Anstalt, 1869–1942) und die spätere Verwendung der Gebäude. In: Rheinisches Eisenkunstguss-Museum Bendorf-Sayn. Hrsg. Die Heil- und Pflegeanstalten für Nerven- und Gemütskranke in Bendorf. Bendorf: 2008: 54-95
  • 14 Schwoch R. Jüdische Ärzte als Krankenbehandler in Berlin zwischen 1938 und 1945. Frankfurt a.M.: Mabuse; 2018
  • 15 Bouresh B, Sparing F. „Diagnose: Jude“. Jüdische Psychiatriepatienten zwischen NS-Euthanasie und Holocaust. Köln: LVR; 2017
  • 16 Benz W. Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung. München: C. H. Beck; 2013
  • 17 Müller T. Remembering psychiatric patients in Germany murdered by the Nazi regime. The Lancet – Psychiatry 2018 10. 789 f. (web appendix)