Nervenheilkunde 2025; 44(07/08): 444-452
DOI: 10.1055/a-2569-9588
Schwerpunkt

Bonner Ärzte und Menschen mit Epilepsie im Nationalsozialismus

Doctors from the Bonn Asylum and people with epilepsy during National Socialism
Timo Baumann
1   Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln, Medizinische Fakultät und Universitätsklinikum Köln
2   Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Centre for Health and Society, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
,
Axel Karenberg
1   Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln, Medizinische Fakultät und Universitätsklinikum Köln
,
Heiner Fangerau
2   Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Centre for Health and Society, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Zusammenfassung

Für die Neurologie und Psychiatrie stellte im Nationalsozialismus die Epilepsie ein zentrales Forschungsthema dar. Allem voran war vor dem Hintergrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zu entscheiden, welche Epilepsieformen als erblich einzustufen und welche Patientinnen und Patienten nach dem Gesetz für eine (Zwangs-) Sterilisation zu melden waren. Bislang liegen nur wenige Arbeiten vor, die eine Synthese der Perspektiven von medizinischer Forschung, Gutachten für Erbgesundheitsgerichtsverfahren und klinischer Behandlung versucht haben. Anhand von Krankenakten aus der Heil- und Pflegeanstalt Bonn soll hier rekonstruiert werden, wie sich der Umgang von Ärzten mit Menschen mit Epilepsie im Deutschland der 1930er- und 1940er-Jahre veränderte – und wie Patient(in-n)en sowie ihre Angehörigen darauf reagierten. Bonn war ein für die Epileptologie entscheidendes Forschungs- und Diagnosezentrum. Die dort angelegten Akten enthalten neben Anamnesebögen und Pflegeberichten auch Briefe von Erkrankten und deren Angehörigen, die für die Analyse von Betroffenenwahrnehmung und -handeln hier ergänzend analysiert werden.

Abstract

Epilepsy was a central research topic for neurology and psychiatry during National Socialism. In particular, against the background of the “Law for the Prevention of Hereditarily Diseased Offspring”, it had to be decided which forms of epilepsy were to be classified as hereditary and which patients were to be registered for (forced) sterilisation in accordance with the law. To date, only a few studies have attempted to synthesise the perspectives of medical research, expert witness testimonies for hereditary health court proceedings and clinical treatment. Using medical records from the Bonn Asylum, the aim is to reconstruct how doctors’ treatment of people with epilepsy changed in Germany in the 1930 s and 1940 s – and how patients and their families reacted to this. Bonn was a key research and diagnostic centre for epileptology. In addition to medical history forms and nursing/care reports, the files kept there also contain letters from patients and their relatives, which are analysed here as a complement to the analysis of patients’ perceptions and actions.



Publication History

Article published online:
16 July 2025

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Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany

 
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