Psychother Psychosom Med Psychol 2025; 75(06): 228-230
DOI: 10.1055/a-2578-6445
Editorial

Warum Wissenschaft Freiheit braucht – und weshalb dies besonders für psychosoziale Disziplinen gilt

Why science needs freedom and why academic freedom must be particularly relevant for psychosocial disciplines!
Stephan Zipfel
1   Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Tübingen
,
Andreas Heinz
2   Abteilung für Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Tübingen
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Seit einigen Wochen haben renommierte medizinische und wissenschaftliche Fachzeitschriften verstärkt Alarm geschlagen und darauf hingewiesen, dass die Wissenschaft vor politischer Einflussnahme geschützt werden muss. In zahlreichen Leitartikeln und Kommentaren wird der Schutz der wissenschaftlichen Integrität und Forschungsfreiheit betont, wobei häufig aktuelle und frühere Fälle staatlicher Einmischung – darunter auch Maßnahmen der Trump-Regierung – als warnende Beispiele angeführt werden. Diese aktuellen Ereignisse werfen ihre Schatten voraus und drängen auch uns die Frage zu beantworten: Warum Wissenschaft Freiheit braucht und warum dies insbesondere für psychosoziale Fachgebiete relevant sein muss? Man könnte versucht sein, diese Frage vorschnell mit einem einfachen Ja zu beantworten um dabei aber zu verpassen, zentrale Eckpunkte dieser Bejahung zu reflektieren und die Problematik auf andere Länder und deren aktuelle politische Diskurse zu beschränken. Mit diesem Editorial möchten wir im Folgenden den Versuch unternehmen einige zentrale Argumente zu sammeln, warum diese Frage für uns Wissenschaftler*innen und insbesondere für uns in den psychosozialen Disziplinen von so hoher Relevanz ist.

Im April 2025 veröffentlichte The Lancet einen eindringlichen Leitartikel mit dem Titel „Supporting medical science in the USA“ [1]. Darin wird gewarnt, dass „Wissenschaft und Medizin in den USA vor den Augen der Welt gewaltsam zerstört werden“, und hinzugefügt, dass „Tyrannen durch Nachgiebigkeit oder Gleichgültigkeit nur noch ermutigt werden“. Der Artikel kritisiert eine „falsch informierte Darstellung“ innerhalb der US-Regierung, wonach bestimmte Kürzungen der Forschungsgelder „die Gesundheit der Amerikaner verbessern“ würden. In Wirklichkeit, so argumentieren die Herausgeber, handelt es sich um einen Trick, um wissenschaftliche Einrichtungen zu untergraben – „eines der Ziele autoritärer Regierungen ist es, die unabhängige Wissenschaft in staatlichen Institutionen zu zerstören und die akademische Welt zum Schweigen zu bringen. Die Wissenschaft wird zu einem Instrument staatlich geförderter Propaganda.“ The Lancet bezeichnet solche Taktiken als direkte Bedrohung der wissenschaftlichen Freiheit und fordert aktiven Widerstand gegen politischen Druck statt Schweigen oder Nachgiebigkeit. Der Leitartikel verweist insbesondere auf die jüngsten Versuche von Regierungsvertretern, Fachzeitschriften einzuschüchtern. Tatsächlich sandte ein von Trump ernannter US-Staatsanwalt zu dieser Zeit vage drohende Briefe an führende medizinische Fachzeitschriften, in denen er nach angeblicher „Voreingenommenheit“ forschte, was weithin als Angriff auf die redaktionelle Unabhängigkeit angesehen wurde.

Auch das New England Journal of Medicine (NEJM) hat sich mit der Bedeutung der wissenschaftlichen Freiheit angesichts politischer Druckausübung befasst. Im Februar 2025 veröffentlichte das NEJM einen Perspektivbeitrag mit dem Titel „Facing Political Attacks on Medical Education — The Future of DEI in Medicine“. Darin beschreiben Guerra et al. [2] eine „Flut von legislativen und politischen Angriffen“ auf Bemühungen um Diversität, Gerechtigkeit und Inklusion (DEI) an US-amerikanischen medizinischen Fakultäten. Solche politisierten Angriffe, die oft von parteipolitischen Agenden auf staatlicher Ebene getrieben werden, „gefährden die Integrität des Gesundheitspersonals“ und werden letztendlich die Ergebnisse im Bereich der öffentlichen Gesundheit verschlechtern.

Das Bekenntnis des NEJM zur redaktionellen Unabhängigkeit wurde daraufhin auf eine harte Probe gestellt, als die Zeitschrift selbst zum Ziel politischen Drucks wurde. Im April erhielt NEJM-Chefredakteur Eric Rubin einen ungewöhnlichen Brief vom US-Justizministerium, verfasst von Edward R. Martin Jr., einem von Trump ernannten interimistischen US-Staatsanwalt. Der Brief des Staatsanwalts enthielt pointierte Fragen, die eine „Voreingenommenheit“ des NEJM bei der Veröffentlichung unterstellten – eine implizite Infragestellung der wissenschaftlichen Objektivität der Zeitschrift. Rubin empfand die Anfrage als „durchaus bedrohlich“ und gab, anstatt sich dem zu beugen, eine entschiedene Gegendarstellung ab. Wie in STAT und The New York Times berichtet, antwortete das NEJM mit einer unmissverständlichen „Bekräftigung seines Bekenntnisses zu evidenzbasierten Empfehlungen und redaktioneller Unabhängigkeit“.

Anfang 2025 äußerte sich auch H. Holden Thorp [3], Chefredakteur von Science, zu den Gefahren politischer Einmischung – in diesem Fall in Bezug auf die Forschungsfinanzierung. Als die neue Regierung eine drastische Obergrenze für indirekte Forschungskosten vorschlug (eine Maßnahme, die de facto die Budgets des National Institutes of Health für viele Universitäten gekürzt hätte), verfasste Thorp einen sehr eindeutigen Leitartikel, in dem er den Plan als „Verrat an einer Partnerschaft, die amerikanische Innovation und Fortschritt ermöglicht hat“ verurteilte. Seit Jahrzehnten finanzieren die US-Regierung und wissenschaftliche Einrichtungen gemeinsam wissenschaftliche Forschung und teilen die Kosten, was Thorp als einen Sozialvertrag bezeichnet, der unabhängige, bahnbrechende Innovationen fördert. Durch die einseitige Kürzung der Mittel drohten die politischen Entscheidungsträger, dieses erfolgreiche Modell zu zerstören. In seinem Kommentar in Science betonte Thorp, dass solche Maßnahmen die Forschung in den USA gefährden.

Die britische Fachzeitschrift British Medical Journal BMJ fügte 2025 eine internationale Perspektive hinzu und argumentierte, dass die Verteidigung der Wissenschaft keine Grenzen kenne. Ein Kommentar von Kit Yates und Kollegen [4] beschrieb die moderne „Krise der wissenschaftlichen Integrität“ als Teil eines „breiteren transnationalen Konflikts“, in dem politische Kräfte weltweit Fachwissen untergraben. Die Autoren stellen fest, dass die Angriffe auf die Wissenschaft in den USA – wie die Zensur von Forschungsthemen, die Bedrohung der Finanzierung und der Druck auf Wissenschaftler – an historische Angriffe autoritärer Regime auf das Wissen erinnern. Sie warnen davor, dass diese Trends nicht auf ein Land beschränkt sind. Scott Greer von der University of Michigan skizzierte beispielsweise, wie die Angriffe der US-Regierung auf die Wissenschaft weit über die Grenzen Amerikas hinaus Auswirkungen haben. Mitautor Martin McKee stellte die aktuellen Ereignisse in einen historischen Kontext und zog Parallelen zu vergangenen Epochen, in denen autoritäre Regierungen versuchten, wissenschaftliche Stimmen zum Schweigen zu bringen oder zu unterdrücken.

Im Folgenden werden Argumente zusammengefasst, die beantworten sollen, warum Freiheit so relevant für eine nicht nur an wirtschaftlichen Eckpunkten orientierte, erfolgreiche Grundlagen- und angewandte Forschung ist:

  • Offener Diskurs: Wissenschaft lebt vom freien Austausch von Ideen, Theorien und Daten. Ohne Meinungs- und Redefreiheit kann dieser Diskurs nicht stattfinden.

  • Kritik und Selbstkorrektur: Wissenschaftliche Erkenntnis entwickelt sich durch kritische Überprüfung, Widerlegung und Verbesserung. Das funktioniert nur, wenn Forscher*innen auch unbequeme Fragen stellen und bestehende Theorien infrage stellen dürfen.

  • Unabhängigkeit von Machtinteressen: Wenn Wissenschaft von politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Interessen gelenkt wird, besteht die Gefahr, dass Ergebnisse manipuliert oder unliebsame Forschung unterdrückt wird. Dies bedeutet nicht, dass es keine individuellen oder übergreifenden Machtinteressen, Vorurteile oder Voreingenommenheiten bestehen, sondern dass diese in einem freien Diskurs immer thematisiert und kritisiert werden können.

  • Innovationsfähigkeit: Viele wissenschaftliche Durchbrüche entstehen jenseits des Mainstreams. Freiheit erlaubt es Forschenden, neue Wege zu gehen und kreative, oft unerwartete Lösungen zu entwickeln.

    Die freie Forschung erlaubt es, auch Institutionen oder therapeutische Ansätze zu hinterfragen – z. B. die Pharmaindustrie, überholte psychiatrische Praktiken oder eine rein biologische oder umgekehrt eine die menschliche Biologie komplett ausblendende Sichtweise auf psychische Erkrankungen. Gerade das letzte Argument ist relevant in der Auseinandersetzung mit Repräsentanten und Bewegungen, die gerne von „alternativen Fakten“ sprechen und diese als Scheinargumente in Debatten einbringen.

    Kommen wir nun zur zweiten Teilfrage, warum diese Entwicklung besonders für uns in den psychosozialen Disziplinen so relevant ist oder warum gerade im Bereich der Erforschung der Ursachen, Auswirkungen und Behandlung der mentalen Gesundheit die wissenschaftliche Freiheit besonders relevant ist:

  • Tabuisierte Themen erforschen können: Psychische Erkrankungen sind oft mit Stigma behaftet. Ohne ausreichende Freiheit könnten Forschende unter gesellschaftlichem oder politischem Druck stehen und relevante Themen möglicherweise meiden oder Ergebnisse einseitig interpretieren (z. B. Forschung zu Suizidalität, Traumatisierung, Sexualität, Suchtverhalten).

  • Individuelle Lebensrealitäten berücksichtigen: Mentale Gesundheit ist stark von kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen geprägt. Nur freie Forschung kann diese komplexen Zusammenhänge offen analysieren – etwa den Einfluss von Diskriminierung, Armut oder autoritären Strukturen auf das psychische Wohlbefinden.

  • Empowerment statt Pathologisierung: Nur in einem freien wissenschaftlichen Umfeld kann sich eine Forschung entfalten, die nicht nur „Störungen“ sucht, sondern auch Ressourcen, Resilienz und Selbstbestimmung betont – also dem Menschen mit psychischer Belastung auf Augenhöhe begegnet.

  • Vielfalt der Perspektiven sichern: Mentale Gesundheit betrifft Menschen unterschiedlich – je nach Geschlecht, Alter, Herkunft, sexueller Identität oder Behinderung. Wissenschaftliche Freiheit ermöglicht, all diese Perspektiven einzubeziehen, ohne durch politische oder ideologische Vorgaben eingeschränkt zu sein.

Als weiterführende Lektüre empfiehlt sich hier der Beitrag von Cosgrove & Shaughnessy [5] zur Forderung mentale Gesundheit als ein grundlegendes Menschenrecht zu betrachten, unabhängig von wirtschaftlichen Interessen. Eine solche Betrachtungsweise erlaubt es zudem, die wesentlichen Voraussetzungen für deren wissenschaftliche Erforschung klar zu definieren.

In den aktuellen Beiträgen renommierter Fachzeitschriften herrscht somit große Einigkeit: Die wissenschaftliche Unabhängigkeit ist von grundlegender Bedeutung und muss vor politischer Einflussnahme geschützt werden. Diese Publikationen betonen einhellig, dass Forschung und öffentliche Gesundheit sich an Fakten und deren öffentlicher Kritik orientieren müssen und nicht an der Agenda einer Partei oder eines Regimes. Die Erfahrungen der letzten Jahre sind eindringliche Mahnungen dafür, dass Politik tatsächlich in die Wissenschaft eingreifen kann – mit schwerwiegenden Folgen. Die Wahrung der Freiheit in der wissenschaftlichen Forschung ist daher nicht nur ein Ideal, sondern eine dringende Notwendigkeit. Daher möchten wir uns diesem Aufruf anderer Fachzeitschriften und der wissenschaftlichen Gemeinschaft anschließen und politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit dazu aufrufen, gemeinsam dafür zu sorgen, dass Forschung und Lehre auch in politisch turbulenten Zeiten frei, durch transparente Auswahlverfahren politisch unabhängig und evidenzbasiert bleiben.



Publication History

Article published online:
03 June 2025

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