Schlüsselwörter
Versorgungsforschung - Forschungsfelder - Methodische Grundlagen
Einleitung
            In diesem Positionspapier stellt das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung e.V. (DNVF)
               sein aktuelles Selbstverständnis der Versorgungsforschung vor. Wir beschreiben einerseits
               das wissenschaftliche Konzept des Faches und ordnen andererseits die Versorgungsforschung
               im Verhältnis zu benachbarten Wissenschaftsbereichen wie Public Health und Gesundheitsökonomie
               ein.
            Das gemeinsam entwickelte Selbstverständnis wurde zunächst auf der Klausurtagung des
               DNVF-Vorstandes am 26.08.2024 entworfen und danach in einem iterativen Prozess gemeinsam
               mit dem neuen Vorstand (Periode 2024–2026) und den Sprecher:innen der Arbeits- und
               Fachgruppen des DNVF erarbeitet. Diese wissenschaftliche Diskussion verlief engagiert,
               sehr sachbezogen und detailliert. Der geschäftsführende Vorstand würdigte die über
               150 Kommentare aus dem Kreis der 14 Arbeits- und Fachgruppen des DNVF und übernahm
               die Rückmeldungen so weitgehend wie möglich in eine Aktualisierung des Papiers. Diese
               finale Version wurde an alle Kommentierenden versandt und zur Mitzeichnung angeboten.
            Der Prozess zeigte die gute wissenschaftliche Diskussionskultur im DNVF. Gleichzeitig
               ist durch die intensive Abstimmung deutlich geworden, dass es zu manchen Aspekten
               teilweise noch unterschiedliche Standpunkte gibt. Die vorliegende Fassung ist also
               nicht als ein abschließendes Selbstverständnis des DNVF zu verstehen. Vielmehr verstehen
               wir das Positionspapier als ein „living paper“. Die hier vorliegende Fassung stellt
               den aktuellen Zwischenstand dar und soll Ausgangspunkt für die weitere Diskussion
               sein.
            Ziel des Prozesses ist es, ein gemeinsames Verständnis von Versorgungsforschung und
               ihrer Forschungsthemen und -gegenstände sowie ihrer methodischen Grundlagen zu erarbeiten.
               Auf dem 24. Deutschen Kongress für Versorgungsforschung (DKVF) im September 2025 soll
               die Diskussion um die Inhalte dieses Papiers im Rahmen eines Workshops fortgeführt
               werden.
            
               Das hier vorgestellte Selbstverständnis basiert im Wesentlichen auf der Definition
               des aktuellen Lehrbuchs Versorgungsforschung und einer Definition der US-amerikanischen
               Fachgesellschaft für Versorgungsforschung, der Academy Health
               [1]
               [2]
               .
               
         Selbstverständnis Versorgungsforschung des DNVF
         Selbstverständnis Versorgungsforschung des DNVF
            
               Versorgungsforschung ist eine Wissenschaftsdisziplin, die sich mit der Analyse der
                  Gesundheitsversorgung unter Alltagsbedingungen befasst. Ausgangspunkt sind stets präzise,
                  spezifische und operationalisierte Forschungsfragen. Aufgrund ihres Forschungsgegenstandes
                  wird die Versorgungsforschung auch als gesundheitsbezogene Versorgungsforschung bezeichnet.
                  Versorgungsforschung umfasst Grundlagenforschung, deskriptive, analytische und interventionelle
                  Forschung.
               
            
               Grundlagenforschung im Rahmen der Versorgungsforschung zielt darauf ab, fundamentale
                  Erkenntnisse über individuelles und organisationales Verhalten im Versorgungssystem
                  zu gewinnen, die von krankheits- und versorgungsübergreifender Bedeutung sind 
               [3]
               . Im Fokus stehen die Strukturen, Prozesse und Ergebnisse der Gesundheitsversorgung
                  und deren Qualität, welche durch Ärzt:innen, Pflegefachkräfte, Angehörige und beteiligte
                  Akteur:innen der verschiedenen Heil- und Therapieberufe in unterschiedlichen Organisationen
                  und Settings, aus verschiedenen Perspektiven (insbes. der Patient:innen, der Gesellschaft,
                  der Versorgenden, des Gesundheitssystems, der Gesundheitspolitik) beschrieben, analysiert
                  und erklärt werden. Versorgungsforschung untersucht darüber hinaus auch die Voraussetzungen
                  einer wirksamen Politikberatung.
               
            
               Zu den Aufgaben der Versorgungsforschung gehört insbesondere die Generierung und Bereitstellung
                  von Evidenz, auf deren Grundlage die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung und/oder
                  bestimmter Gruppen von Patient:innen verbessert werden kann. In der interventionellen
                  Versorgungsforschung entwickeln Wissenschaftler:innen deshalb Versorgungsinnovationen
                  partizipativ mit Patient:innen, Angehörigen, Versorgenden und weiteren beteiligten
                  Akteur:innen. Sie testen die Umsetzbarkeit, Wirksamkeit und Sicherheit dieser Innovationen
                  unter realistischen Bedingungen und evaluieren deren Akzeptanz sowie fördernde und
                  hindernde Faktoren bei möglichst allen Beteiligten und auf der Systemebene. Ziel ist
                  es, erfolgreiche Versorgungsmodelle in die Versorgungspraxis zu implementieren, um
                  die Effektivität, Effizienz und Sicherheit der gesundheitlichen Routineversorgung
                  zu optimieren und so die Ergebnisse für die Patient:innen zu verbessern und die Widerstandsfähigkeit
                  (Resilienz) des Gesundheitssystems zu steigern.
               
            
               Versorgungsforschung steht für ein an der Gesundheit der Bevölkerung orientiertes,
                  bedarfs- und zugangsgerechtes Gesundheitssystem mit förderlichen Arbeitsbedingungen
                  für die Fachkräfte in der Gesundheitsversorgung. Dabei werden ein fairer und chancengleicher
                  Zugang zu Innovationen der Gesundheitsversorgung, soziale, ökonomische und Nachhaltigkeits-Aspekte
                  ebenso berücksichtigt wie Diversität und Inklusion.
               
            
               Versorgungsforschung nutzt das gesamte Spektrum quantitativer und qualitativer Methoden
                  der empirischen Sozialforschung, der (klinischen) Epidemiologie, Psychologie, Soziologie
                  und Gesundheitsökonomie und entwickelt auch selbst Modelle und Theorien, um Evidenz
                  für die Gesundheitsversorgung der Zukunft zu schaffen.
               
            Die folgenden Abschnitte beschreiben theoretische und methodische Grundlagen der Versorgungsforschung,
               ordnen die Versorgungsforschung im Verhältnis zu benachbarten Wissenschaftsdisziplinen
               ein und beschreiben Aufgaben, Themen und Arbeitsweise der Versorgungsforschung anhand
               einer Auswahl aktueller Themenschwerpunkte.
         Kontrollierte Interventionsstudien in der Versorgungsforschung
         Kontrollierte Interventionsstudien in der Versorgungsforschung
            Die Untersuchung der Effektivität, Effizienz und Sicherheit sowohl neuer als auch
               bereits etablierter Versorgungskonzepte erfordert deren Testung in prospektiven und
               kontrollierten Interventionsstudien. Die interventionelle Versorgungsforschung untersucht
               möglichst umfassend die Auswirkungen der meist komplexen Interventionen auf relevante
               gesundheitsbezogene Endpunkte in möglichst realistischen und praxisnahen Settings
               (sog. Pragmatic Trials). Hierdurch unterscheidet sie sich von der klinischen Forschung,
               bei der der Einfluss einzelner oder einiger weniger spezifischer Maßnahmen auf i.d.R.
               wenige exakt definierte gesundheitliche Endpunkte untersucht wird. Studiendesigns
               der klinischen Forschung streben in der Regel an, Komplexität zu minimieren, und setzen
               deshalb auf möglichst einheitliche Patient:innengruppen. Doppelblinde randomisierte
               kontrollierte Interventionsstudien bieten eine sehr hohe interne Validität, können
               jedoch – insbesondere, wenn sie in einem experimentellen und versorgungsfernen Setting
               stattfinden – bzgl. ihrer externen Validität (Generalisierbarkeit) limitiert sein.
               Die interventionelle Versorgungsforschung zielt auf eine möglichst hohe interne Validität
               bei gleichzeitig möglichst hoher externer Validität ab. Fokus der interventionellen
               Versorgungsforschung ist daher die Ermittlung der Effektivität, Effizienz und Sicherheit
               häufig komplexer Interventionen in möglichst versorgungsnahen Settings bei gleichzeitiger
               Minimierung von Bias und Confounding durch geeignete Studiendesigns. In Versorgungssettings
               ist häufig eine Verblindung/Maskierung der Studienteilnehmenden und Durchführenden
               bzgl. der Intervention nicht möglich. Auch eine Randomisierung auf individueller Ebenen
               der Teilnehmenden kann schwierig sein. In vielen Fällen kann jedoch eine gruppenbezogene
               Randomisierung (sog. Cluster-Randomisierung) zur Baseline oder eine sequentielle Randomisierung
               der Intervention (Stepped-Wedge-Design) realisiert werden, z. B. auf der Ebene einzelner
               Versorgender oder Einrichtungen.
            In der interventionellen Versorgungsforschung müssen oft mögliche Limitationen bei
               der internen Validität in Kauf genommen werden. So kann bspw. der Effekt einer spezifischen
               Komponente einer komplexen Versorgungsintervention häufig nicht sicher vom Einfluss
               anderer Komponenten und dem Einfluss von Kontextbedingungen abgegrenzt werden. Dafür
               werden unter realistischen Praxisbedingungen Aussagen zur summativen Wirkung der untersuchten
               Intervention auf oft sehr relevante gesundheitliche Endpunkte gewonnen (effectiveness).
               Die Ergebnisse von pragmatic trials sind leichter auf ähnliche Settings übertragbar
               (externe Validität) und ermöglichen idealerweise eine belastbare Abschätzung des unter
               den Bedingungen der realen Versorgung erreichbaren Nutzens der Intervention.
         Evidenzbasierte Versorgungsforschung als Beitrag zur Resilienz des Gesundheitswesens
         Evidenzbasierte Versorgungsforschung als Beitrag zur Resilienz des Gesundheitswesens
            
               Versorgungsforschung spielt eine entscheidende Rolle in einem resilienten Gesundheitsforschungs-
               und Gesundheitsversorgungssystem, indem sie die Fähigkeit des Systems stärkt, auf
               Gesundheitsbedrohungen zu reagieren und gleichzeitig wesentliche Gesundheitsleistungen
               aufrechtzuerhalten
               [4]
               .
               
            
               Krisen wie die COVID-19-Pandemie haben gezeigt, dass neben klassischen Studiendesigns
               der evidenzbasierten Medizin ein breiteres Methodenspektrum unter Berücksichtigung
               von pragmatischen Designs, prädiktiver Modellierung sowie der Anwendung von empirisch
               belegten Theorien notwendig ist, um kurzfristig wissenschaftlich abgesicherte Handlungsempfehlungen
               geben zu können (Vermeidung des sog. EbM-lag)
               [5]
               .
               
            
               Mit „EbM-lag“ wird die Tatsache bezeichnet, dass klassische doppelblinde randomisiert-kontrollierte
               Interventionsstudien und systematische Reviews von Interventionsstudien keine kurzfristigen
               Ergebnisse liefern können, da sie designbedingt erst mit einer Latenz von mindestens
               einigen Monaten oder noch längeren Zeiträumen verfügbar sind
               [6]
               . In Deutschland wie auch international wird daher gefordert, das Methodenspektrum
               zur Vorbereitung auf und zur Bewältigung von zukünftigen Krisen zu erweitern
               [5]
               [7]
               und gleichzeitig den Zugang und die Verknüpfbarkeit von versorgungsnahen Daten zu
               verbessern
               [8]
               . Dies würde auch die Umsetzung von registerbasierten Studien ermöglichen, wie sie
               in unseren Nachbarländern bereits erfolgreich durchgeführt werden
               [9]
               .
               
            
               Ein resilientes Gesundheitssystem muss in der Lage sein, Schocks zu absorbieren, sich
               anzupassen und zu transformieren. Dazu ist zunächst eine stärker koordinierte und
               evidenzbasierte Gesundheitsversorgung wesentlich, wofür die Versorgungsforschung die
               Grundlagen legt. Über-, Unter- und Fehlversorgung müssen kontinuierlich erkannt und
               vermieden werden. Dies ist Aufgabe der Qualitäts- und Patientensicherheitsforschung
               als ein wesentliches Teilgebiet der Versorgungsforschung. Insbesondere in einer Krise
               müssen Versorgungs- und Forschungssystem eng miteinander und gemeinsam mit der Gesundheitspolitik
               interagieren, so dass drängende Fragen aus der Versorgung rasch durch die Forschung
               priorisiert, bearbeitet und entsprechende Handlungsempfehlungen in die Versorgung
               implementiert werden können. Die Bereitstellung von Evidenz ist notwendig, bedeutet
               allerdings noch nicht, dass Politik und Versorgende sogleich danach handeln. Tatsächlich
               reagiert keines der beteiligten Systeme deterministisch und linear (Complex Adaptive
               Systems)
               [10]
               . Die Versorgungsforschung untersucht deshalb die Bedingungen, unter denen Gesundheitssystem
               und Gesundheitspolitik auf wissenschaftlichen Input reagieren, um die Wirksamkeit
               der wissenschaftlichen Politikberatung zu verbessern.
               
            
               Ein weiterer entscheidender Faktor für ein resilientes Gesundheitssystem ist eine
               Forschungsinfrastruktur, die kontinuierlich relevante sowie aktuelle Daten zur Qualität
               und Sicherheit der Versorgung, zu den vorhandenen Ressourcen, der Erkrankungslast
               und dem Zugang zu Versorgung erfasst (sog. Monitoring) und daraus mit wissenschaftlichen
               Methoden Prognosen erstellt und Handlungsempfehlungen ableitet
               [11]
               [12]
               . Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit innerhalb des Systems entscheidend, um Flexibilität
               und Stabilität in der Reaktion auf Krisen zu fördern. Dies umfasst die Einbindung
               der unterschiedlichen Akteur:innen und die Schaffung von Beziehungen und Vertrauen
               zwischen den verschiedenen Ebenen des Gesundheitssystems. Die Versorgungsforschung
               nutzt Methoden und Konzepte für die rasche Konsentierung von Handlungsempfehlungen
               in heterogenen Expert:innengruppen (z. B. Delphi-Studien).
               
         Versorgungsforschung und Implementierungsforschung
         Versorgungsforschung und Implementierungsforschung
            
               Die Ergebnisse aus der Versorgungsforschung sollen für gesundheitspolitische Entscheidungen
               eine verlässliche Basis für die Verbesserung der Versorgung bieten. Die Versorgungsforschung
               will evidenzbasiertes Wissen aber nicht nur verfügbar machen, sondern dieses auch
               qualitätswirksam in der Versorgungspraxis verankern. Auf welche Art und Weise die
               Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse effektiv (Verwirklichung der Implementierungsziele)
               sowie effizient (zielgerichteter und sparsamer Ressourceneinsatz bei zielerfüllender
               Implementierung) gestaltet werden kann, untersucht die Implementierungsforschung.
               Sie ermittelt und systematisiert empirisches Wissen darüber, wie in Abhängigkeit von
               den (lokalen) Rahmenbedingungen die Wirksamkeit einer Innovation in der Patient:innenversorgung
               gewährleistet werden kann
               [13]
               . Damit sind Implementierungs- und Versorgungsforschung eng verbunden.
               
            
               Gleichzeitig bietet die Versorgungsforschung die Möglichkeit, frühzeitig erste Erkenntnisse
               zur Implementierung neuer Versorgungskonzepte zu gewinnen, z. B. durch die Analyse
               zu Determinanten der Implementierung in primär versorgungswissenschaftlich ausgerichteten
               Studien. Darüber hinaus kann die Versorgungsforschung aufzeigen, welche Themenfelder
               in der Gesundheitsversorgung gesellschaftlich und/oder politisch priorisiert werden
               und damit den Fokus auf die Untersuchung des sog. Efficacy-Effectiveness-Gaps in diesen
               Bereichen legen
               [14]
               .
               
            Diese Überlappungen und synergistischen Effekte gemeinsamer Forschungsaktivitäten
               sind aus Sicht der Autor:innengruppe für beide Forschungsbereiche vorteilhaft. Eine
               umfassende Evidenzbasis zur Einführung, Umsetzung und Verstetigung neuer Versorgungskonzepte
               kann jedoch nur dann fundiert aufgebaut werden, wenn die eingesetzten Methoden auch
               auf die Erforschung implementierungswissenschaftlicher Fragestellungen (z. B. die
               Wirksamkeit von Implementierungsstrategien) ausgerichtet sind. Für die Weiterentwicklung
               der gesundheitlichen Versorgung betrachten wir Implementierung als eigenständiges
               Forschungsthema innerhalb der Versorgungsforschung.
         Versorgungsforschung und die Implementierung von Leitlinien
         Versorgungsforschung und die Implementierung von Leitlinien
            Versorgungsforschung spielt auf verschiedenen Stufen der Leitlinienentwicklung eine
               wichtige Rolle. Leitlinien und die darin enthaltenen Behandlungsempfehlungen werden
               nicht im „luftleeren Raum“ erarbeitet, sondern sind grundsätzlich in einen Versorgungskontext
               eingebunden. Zahlreiche Leitlinien nehmen darauf explizit in eigenen Kapiteln Bezug,
               wie z. B. die acht Nationalen VersorgungsLeitlinien oder die S3-Leitlinie „Psychosoziale
               Therapie bei schweren psychischen Erkrankungen“. Der Versorgungskontext liefert oft
               Schlüsselfragen für Leitlinien. Die vorhandene Evidenz zu den vorab definierten klinischen
               Schlüsselfragen einer Leitlinie wird im Rahmen systematischer Literaturrecherchen,
               idealerweise von randomisiert-kontrollierten Studien (RCTs) und ihrer Metaanalysen
               aufbereitet. Diese Evidenz wird einem bestimmten Evidenzlevel zugeordnet und bildet
               die Grundlage für die Empfehlungsstärke (hohes Evidenzlevel Ia führt im Allgemeinen
               zu einem hohen Empfehlungsgrad A), die dann in der Leitliniengruppe konsentiert wird.
               Dabei können Empfehlungen nach GRADE (Grading of Recommendations, Assessment, Development
               and Evaluation) herauf- oder herabgestuft werden. Im GRADE-Kriterienkatalog spielen
               auch Präferenzen von Patient:innen und der Ressourcenverbrauch eine Rolle. Hier fließen
               unmittelbar Ergebnisse aus der Versorgungsforschung ein. Somit spielen Ergebnisse
               der Versorgungsforschung sowohl bei der Generierung von Schlüsselfragen, als auch
               als Evidenzgrundlage und bei der Graduierung der Empfehlung nach GRADE eine wichtige
               Rolle in der Leitlinienentwicklung.
            
               Leitlinienwissen findet selten spontan den Weg in die Versorgungspraxis. Es braucht
               daher eigene Anstrengungen der Leitlinienimplementierung. Forschung zur Leitlinienimplementierung
               ist eine Domäne der Versorgungsforschung. Die Versorgungsforschung kann hier von den
               Methoden und Erfahrungen der Implementierungsforschung profitieren (s. o.). Idealerweise
               müssten sich an jede Leitlinienentwicklung Implementierungsprojekte anschließen, so
               dass auch evtl. Veränderungen in der Versorgung und deren Qualität aufgrund der Implementierung
               der Leitlinie dokumentiert werden. Das Leitlinien-Manual von der Arbeitsgemeinschaft
               der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) schlägt daher
               als eines der Qualitätskriterien von Leitlinien vor, dass messbare Kriterien bzw.
               Indikatoren genannt werden, anhand derer der Effekt der Leitlinienanwendung überprüft
               werden kann
               [15]
               . Die Entwicklung und Evaluation solcher leitlinienbasierten Qualitätsindikatoren
               ist eine typische Aufgabe der gesundheitsbezogenen Versorgungsforschung
               [16]
               . Zu beachten ist, dass die Implementierung neben den Leitlinien für Behandler:innen
               auch Patient:innenleitlinien und weitere leitlinienbasierte Produkte, wie leitlinienbasierte
               Online-Wissensplattformen für Betroffene und Angehörige umfassen können.
               
         Versorgungsforschung und Public Health
         Versorgungsforschung und Public Health
            
               Historisch hat sich die Versorgungsforschung in Deutschland u. a. aus den Public Health-Studiengängen
               entwickelt, von denen die Ersten Anfang der 1990er Jahre entstanden. Public Health
               und Versorgungsforschung teilen eine Reihe von Bezugsdisziplinen, wie beispielsweise
               die Psychologie, Soziologie, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie
               [17]
               .
               
            
               Public Health-Forschung und Versorgungsforschung verfolgen sehr ähnliche Ziele, wobei
               sich der Fokus unterscheidet. Das Ziel der Public Health-Forschung und -Praxis besteht
               darin, Krankheiten vorzubeugen, Leben zu verlängern und Gesundheit zu fördern (Acheson
               Report
               [18]
               ). Dies soll durch organisierte Leistungen der Gesellschaft erreicht werden
               [19]
               . Nimmt man noch die Ausgangsdefinition von Winslow (1920) hinzu
               [20]
               , von der die Acheson-Definition abgeleitet wurde, dann findet sich hier zusätzlich
               das Ziel der Effizienz. Damit wird deutlich, dass Versorgungsforschung Teil von Public
               Health ist.
               
            Auch die Versorgungsforschung nimmt eine Populations- bzw. Systemperspektive ein und
               dient dem Ziel, die Versorgung zu optimieren, um die Gesundheit der Bevölkerung bestmöglich
               zu schützen, zu erhalten oder wiederherzustellen. Während die Zielerreichung bei Public
               Health eher durch Prävention und Gesundheitsförderung verfolgt wird, geht es bei der
               Versorgungsforschung im engeren Sinne um die optimale Gestaltung der Gesundheitsversorgung.
            Sowohl Versorgungsforschung als auch Public Health-Forschung sind multidisziplinär
               ausgerichtet und nutzen ein breites Methodenspektrum. Vertreter*innen beider Wissenschaftsdisziplinen
               ist bewusst, dass die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bei
               den Analysen und der Entwicklung von Lösungsvorschlägen Voraussetzung für den Erfolg
               sind. Beide Forschungsbereiche sollten deshalb möglichst eng zusammenarbeiten, um
               gegenseitig von konzeptionellen und methodischen Weiterentwicklungen zu profitieren,
               Synergien zu nutzen und sich eng bei der Politikberatung abzustimmen.
         Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie
         Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie
            Angesichts begrenzter finanzieller Mittel, steigender Gesundheitskosten und einer
               alternden Bevölkerung wird deutlich, dass die vorhandenen finanziellen, personellen
               und zeitlichen Ressourcen effizient eingesetzt werden müssen. Auf Ebene der Selbstverwaltung
               und der Gesundheitspolitik sowie auf Mikro- und Meso-Ebene des Versorgungssystems
               ist deshalb ein fundiertes Verständnis darüber erforderlich, wie die Gesundheitsversorgung
               der Bevölkerung in einem finanziell angemessenen, verhältnismäßigen und zumutbaren
               Rahmen organisiert werden kann. Zudem ist für die Gestaltung und Entwicklung von Gesundheitsversorgung
               Wissen über das Verhalten der involvierten Akteur:innen sowie über eine gerechte Aufbringung
               und Verteilung der Mittel unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen relevant.
            
               Diese wissenschaftliche Grundlage zu schaffen, ist Kernaufgabe gesundheitsökonomischer
               Analysen in der Versorgungsforschung. Die Gesundheitsökonomie untersucht, wie Gesundheitsleistungen
               finanziert werden, welche Kosten mit verschiedenen Interventionen verbunden sind und
               wie diese Kosten minimiert werden können, ohne die Versorgungsqualität unangemessen
               zu beeinträchtigen. Damit gehört die Gesundheitsökonomie, ähnlich wie z. B. die Umweltökonomie,
               zu den sogenannten „Bindestrichökonomien“, bei der das gesamte Spektrum an ökonomischen
               Theorien und Methoden auf spezifische Fragestellungen in einem Wirtschaftsbereich
               angewendet wird
               [21]
               .
               
            Im Fokus gesundheitsökonomischer Untersuchungen im Rahmen der Versorgungsforschung
               stehen insbesondere Studien, die die sozioökonomische Krankheitslast für definierte
               Erkrankungen abschätzen sowie den Einfluss verschiedener Faktoren auf der Makro-,
               Meso- und Mikroebene auf die Effizienz der Leistungserbringung im Sinne der Vermeidung
               von Über-, Unter- und Fehlversorgung empirisch untersuchen. Dies umfasst häufig komplexe
               Versorgungssituationen mit Kombinationen aus ambulanten und stationären ärztlichen,
               pflegerischen u. a. therapeutischen Leistungen ebenso wie Arzneimittel und Medizinprodukte
               und erfordert deshalb die Anpassung und Weiterentwicklung „traditioneller“ Methoden
               der Gesundheitsökonomie. Darüber hinaus ist die Gesundheitsökonomie bereits im Entwicklungsprozess
               neuer Versorgungskonzepte eine wichtige Partnerin für die Versorgungsforschung, indem
               sie Erkenntnisse zu möglichen Anreizwirkungen der geplanten Elemente eines Versorgungskonzeptes
               liefern kann. Im Rahmen der Evaluation und des Praxistransfers von neuen Versorgungskonzepten
               unterstützt die Gesundheitsökonomie durch Generierung von Erkenntnissen zur Verhältnismäßigkeit
               von Kosten und Nutzen, zur Angemessenheit und zur Zumutbarkeit der einzuführenden
               Versorgungskonzepte sowie deren Implementierungsmaßnahmen. Angesichts der zunehmend
               von Ressourcenknappheit geprägten Bedingungen gewinnen die gesundheitsökonomischen
               Fragen in der Versorgungsforschung an Bedeutung.
         Versorgungsforschung - ein Ausblick
         Versorgungsforschung - ein Ausblick
            Folgende Themenfelder sehen wir als zentrale Aufgaben für die Versorgungsforschung
               in den nächsten Jahren:
            
               Gesundheitliche Herausforderungen durch Megatrends:
               
            
               
               - 
                  
                  Analyse der Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen auf die Gesundheitsversorgung,
                     einschließlich der Bewältigung des Fachkräftemangels und der gesundheitlichen Konsequenzen
                     der demografischen Alterung durch innovative Versorgungsmodelle unter Berücksichtigung
                     interdisziplinärer Ansätze sowie von Themen wie Diversität und Digitalisierung; 
- 
                  
                  Wissenschaftliche Begleitung wichtiger Reformen im Gesundheitssystem, z. B. der Krankenhausreform
                     und der anstehenden Notfallreform; 
- 
                  
                  Analyse der Auswirkungen des Klimawandels auf Morbidität, Mortalität und Inanspruchnahme
                     von Gesundheitsversorgung in der Bevölkerung sowie die evidenzbasierte Adaptation
                     der Strukturen und Funktionen des Gesundheitssystems. Entwicklung geeigneter Versorgungsmaßnahmen
                     und -konzepte zur Abmilderung der Effekte des Klimawandels auf die Gesundheit. 
- 
                  
                  Auseinandersetzung mit den sozialen Einflüssen und sozioökonomischen Ungleichheiten
                     auf die Qualität und Inanspruchnahme der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland. 
               Regionale Versorgung:
               
            
               
               - 
                  
                  Konzepte zur Versorgungsverbesserung innerhalb der Sektoren sowie sektor- sowie sozialversicherungs-
                     und systemübergreifend (Integration von Leistungen in verschiedenen Sozialgesetzbüchern); 
- 
                  
                  Entwicklung von Konzepten regionaler kooperativer und arbeitsteiliger interprofessioneller
                     Gesundheitsversorgung und deren Evaluation hinsichtlich Qualität und Zugänglichkeit. 
               Patient:innenzentrierung:
               
            
               
               - 
                  
                  Fokussierung auf die Patientient:innenperspektive, Qualitäts- und Patientensicherheitsforschung,
                     Gefährdung von Patientinnen, Erhebung von Präferenzen, moderne Methoden zur Erfassung
                     von Patient Reported Outcomes (PROM); 
- 
                  
                  Weiterer Ausbau von partizipativer Forschung, angemessene Beteiligung von Patientinnen
                     an Planung, Design, Implementierung, Interpretation und Kommunikation von Forschungsergebnissen
                     (Patient und Public Involvement); 
- 
                  
                  De-Implementierung wenig nutzbringender Versorgung (low value care); 
- 
                  
                  Etablierung eines populationsbezogenen Versorgungsmonitorings (Erreichbarkeit, Inanspruchnahme,
                     Qualität, inkl. PROM, Patient Reported Experience (PREM). 
               Theorieentwicklung:
               
            
               
               - 
                  
                  Entwicklung theoriefundierter Konzepte sowie eigenständiger theoretischer Paradigmen
                     in der Versorgungsforschung; 
- 
                  
                  Entwicklung von theoriefundierten Konzepten für die kausale Inferenz in der Versorgungsforschung; 
- 
                  
                  Kritische Reflexion des bisherigen methodischen State of the Art in der Versorgungsforschung
                     sowie dessen Weiterentwicklung, z. B. bei Untersuchungen zur Bedeutung von Kontext
                     in der Versorgungsforschung; 
- 
                  
                  Health Policy Analyse und Policy Impact Analysis. 
               Interdisziplinarität, Infrastruktur und Nachwuchsförderung:
               
            
               
               - 
                  
                  Zusammenarbeit mit verwandten Fächern, um den großen Herausforderungen aufgrund der
                     o.a. gesellschaftlichen Entwicklungen gemeinsam und abgestimmt begegnen zu können; 
- 
                  
                  Schaffung forschungsunterstützender Rahmenbedingungen, die eine umfassende Versorgungsforschung
                     in Deutschland ermöglichen (gesetzliche Regelungen, Förderprogramme, Weiterentwicklung
                     des Innovationsfonds, Ermöglichung eines umfassenden Datenzugangs und Datenlinkages); 
- 
                  
                  Aufbau einer Forschungsdateninfrastruktur, die kontinuierlich relevante Daten zur
                     Qualität und Sicherheit der Versorgung erfasst und zur Verfügung stellt; 
- 
                  
                  Nachwuchsförderung innerhalb der Versorgungsforschung (Studiengänge, Kerncurriculum,
                     inhaltliche und methodische Standards, Qualifikationen zur Forschung mit versorgungsnahen
                     Daten (Register, Abrechnungsdaten der Krankenversicherungen). 
               
               
                  
                     Dieser Artikel ist Teil des DNVF Special Issue „Health Care
                        Research and Implementation“