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DOI: 10.1055/a-2633-8873
Interview mit Prof. Dr. med. Jochen Schmitt, Direktor des Zentrums für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (ZEGV), Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus, TU Dresden

Könnten Sie bitte einen kurzen Überblick über Ihren Werdegang geben?
Nach meinem Medizinstudium in Würzburg, Hamburg und Leipzig habe ich zunächst in der Dermatologie klinisch und wissenschaftlich gearbeitet und parallel in den USA an der Johns Hopkins University die Methoden der Versorgungsforschung gelernt und angewandt. Dann war ich als Facharzt und Oberarzt in der Dermatologie noch einige Jahre klinisch tätig. 2011 wurde ich zum Professor für Sozialmedizin und Versorgungsforschung an der TU Dresden berufen. Im Jahr 2012 erfolgte die Gründung des Zentrums für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (ZEGV). Unser Ansatz ist es, klinische und methodische Expertise zusammenzuführen.
Was bedeutet dies konkret?
Wir kooperieren sehr eng mit Kliniken, weil die fachliche Expertise aus der Klinik so entscheidend für gute Versorgungsforschung ist. Die Kliniker kennen die Fragestellungen, die in der Praxis wichtig sind. An meinem Zentrum arbeiten inzwischen rund 65 Mitarbeitende im Austausch mit den Praktikern an den Kliniken zusammen. Anhand von statistischen, gesundheitsökonomischen und qualitativen Forschungsmethoden werden unterschiedliche Fragestellungen bearbeitet. Besonders erfolgreich war dieses Konzept im Bereich Versorgungsforschung muskuloskelettaler Erkrankungen. An dieser Stelle möchte ich insbesondere Herrn Prof. Klaus-Peter Günther hervorheben, Geschäftsführender Direktor des UniversitätsCentrums für Orthopädie, Unfall- und Plastische Chirurgie am Universitätsklinikum Dresden, der bereits früh die Zusammenarbeit mit uns gesucht hat. In der Folge wurden diverse Projekte auf den Weg gebracht. Bald kam zudem die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) und die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) mit ins Boot. Seit Gründung des ZEGV – also seit mehr als 10 Jahren – bearbeiten wir gemeinsam wissenschaftliche Fragestellungen in diesem Bereich.
Um welche Projekte handelt es sich konkret?
Prof. Günther kam mit der Frage auf mich zu, wie können wir es schaffen, dass die Indikation für einen Knie- oder Hüftgelenkersatz auf einer sichereren wissenschaftlichen Grundlage steht? Hier geht es also um das Thema Indikationsqualität. Das heißt, es gilt die Frage zu beantworten, welche Patientin und welcher Patient einen solchen Gelenkersatz erhalten soll und wann der richtige Zeitpunkt dafür ist. Eine systematische Literaturrecherche und -auswertung erbrachte keine spezifischen, evidenzbasierten Handlungsvorgaben. Wir haben daraufhin einen Prozess initiiert, um gemeinsam mit Orthopädinnen und Orthopäden, Schmerztherapeutinnen und Schmerztherapeuten, Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, Allgemeinärztinnen und Allgemeinärzten, aber auch den Krankenkassen und Patientenvertretern Indikationskriterien zu erarbeiten. Die Ergebnisse dieses Delphi-Prozesses wurden in der Folge publiziert und in eine Leitlinie gegossen – die erste Leitlinie speziell zur Indikationsstellung in Deutschland überhaupt.
Welche Indikationskriterien für einen Gelenkersatz haben Sie definiert?
Zunächst muss ein Knieschmerz auf Basis einer Arthrose vorliegen. Weiterhin wurde festgelegt, dass ein nicht ausreichendes Ansprechen auf eine Kombination von medikamentöser und nicht medikamentöser konservativer Therapie über mindestens 3 Monate eine Voraussetzung ist, um die Indikation Gelenkersatz zu stellen. Ein weiteres Indikationskriterium betrifft starke Einschränkungen bei Tätigkeiten des täglichen Lebens im Sinne eines hohen Leidensdrucks. Der strukturelle Gelenkschaden der Patientinnen und Patienten ist ebenso ein Indikationskriterium, welcher mittels eines Scores quantifiziert wird.
Welchen Platz in diesem Gefüge nehmen die Patientinnen und Patienten ein?
Die Patientinnen und Patienten sollten immer im Zentrum all unserer Überlegungen stehen. Wir haben beispielsweise intensive Gespräche mit Betroffenen geführt, um herauszufinden, welche Ziele und Erwartungen diese mit einem Gelenkersatz verknüpfen. Es stellte sich heraus, dass diese mitunter sehr unterschiedliche Ziele verfolgen. Meine Mitarbeitenden und ich haben basierend auf Erwartungen und Hoffnungen, die von mindestens 70% der Patientinnen und Patienten geteilt wurden, Therapieziele definiert. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass es beim Gelenkersatz als elektivem Eingriff nicht um das pure Überleben geht, sondern um Aspekte wie Lebensqualität, Alltagsbewältigung, Schmerzreduktion, Selbstständigkeit usw. Diese Aspekte müssen die Therapieziele widerspiegeln. Es sollten nur solche Patientinnen und Patienten operiert werden, die eine realistische Chance besitzen, diese Ziele auch zu erreichen. Wir haben dann innerhalb des Innovationsfonds erfolgreich einen Projektantrag gestellt, um gemeinsam mit den klinisch tätigen Kollegen ein technisches Tool zu entwickeln und dies wissenschaftlich zu evaluieren. Das EKIT-Tool bereitet die individuellen Therapieziele von Patientinnen und Patienten auf, ebenso wie deren Angaben zur Symptombelastung und bisherigen Therapien. Mit diesen Informationen unterstützt das EKIT-Tool die Indikationsstellung gemäß Leitlinie sowie die gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient. Es folgte eine kontrollierte Studie mit mehreren Hundert Patientinnen und Patienten. Diese konnte zeigen, dass sich Patientinnen und Patienten bei Verwendung dieses Tools besser informiert fühlen und auch die Indikationsqualität steigt. Unser nächstes Ziel ist die Implementierung dieser Forschungsarbeit in die Regelversorgung.
Wo liegen aktuell die Hauptprobleme im deutschen Gesundheitssystem? Welche Rolle kann hier die Versorgungsforschung spielen?
Ich war in der Vergangenheit Teil der Regierungskommission zur fachlichen Beratung und Ausarbeitung der Krankenhausreform. In Deutschland ist aktuell ein Nebeneinander von Über- und Unterversorgung feststellbar. Was meine ich damit? In Ballungsräumen existiert häufig ein Überangebot an bestimmten Versorgungsdienstleistungen, hier brauchen wir eine stärkere Konzentration, vor allem bei Leistungen mit klarem Volume-Outcome-Zusammenhang wie etwa in der Endoprothetik. Parallel dazu müssen wir dafür sorgen, dass auch in dünner besiedelten Regionen eine adäquate medizinische Versorgung sichergestellt ist. Es geht hier im Prinzip um Gerechtigkeit, ein Thema, das mich persönlich sehr stark umtreibt. Also etwa die Frage, wie können wir einen gerechten Zugang zu einer hochwertigen medizinischen Versorgung in den verschiedenen Landesteilen sicherstellen. In einem reichen Land wie Deutschland sollte nicht das Einkommen oder der soziale Status über die Qualität der individuellen medizinischen Versorgung entscheiden. Das ist auch wichtig für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Im Rahmen unserer Forschung versuchen wir, diesem Anspruch gerecht zu werden.
Wie lässt sich aus Ihrer Sicht die Versorgungssituation gerechter gestalten?
Wir müssen zunächst für mehr Transparenz sorgen. Es ist wichtig, rascher zu erfahren, auf welchem Niveau sich die Versorgungsqualität regional befindet. Ein übermächtiger Datenschutz, aber auch das Bestreben mancher Kliniken, Geschäftsgeheimnisse zu wahren, verhindern das. Den Patientinnen und Patienten fällt es aufgrund des begrenzten Zuganges zu Informationen und einer dünnen Datenlage schwer, zu beurteilen, wie ihre persönliche Versorgungssituation tatsächlich ist. Wie gesagt, hier fehlt es an Transparenz.
Welche Beispiele für eine transparente Datenbereitstellung und -nutzung fallen Ihnen ein?
Ich bin beispielsweise sehr aktiv im Netzwerk Universitätsmedizin. Hier suchen wir nach Lösungen, um zu erreichen, medizinische Daten schneller und effizienter nutzbar zu machen. Jedes Universitätsklinikum verfügt über ein Dateninformationszentrum. Solche Zentren haben Zugriff auf standardisierte Datensätze, die zu Forschungszwecken herangezogen werden. An dieser Stelle sei noch die Initiative Qualitätsmedizin (IQM) genannt, die sicherlich in Deutschland Vorreiter für das Thema Qualitätstransparenz ist. Hier spielen routinemäßig erhobene Daten eine zentrale Rolle, mit dem Ziel, die Behandlungsqualität der Patientinnen und Patienten zu verbessern. Weiterhin führen wir gemeinsam mit der AOK, der DGOOC und dem Berufsverband Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU) ein Projekt zur Wirbelsäulenchirurgie durch. Hier kommen anonymisierte Krankenkassendaten zum Einsatz. Genutzt werden Daten von allen Patientinnen und Patienten, die während eines bestimmten Zeitraums eine Wirbelsäulendiagnose erhalten haben. Es zeigt sich, dass auch bei der Arbeit mit diesen Daten die Zusammenarbeit aus Versorgungsforschung und Klinikern entscheidend ist, um verlässliche Ergebnisse zu erhalten.
Wie sieht das ideale Gesundheitssystem der Zukunft aus Perspektive der Versorgungsforschung aus?
Meiner Einschätzung nach liegt die Zukunft in Gesundheitsregionen. Die Idee dahinter ist folgende: Es existieren zukünftig regionale Kooperationen, die gemeinsame Ziele verfolgen und versuchen, diese Ziele in der jeweiligen Region zu erreichen. Eine erfolgreiche Umsetzung dieses Konzeptes setzt eine gemeinsame Budgetierung voraus, d. h., die Budgetverantwortung sollte idealerweise in den Händen regionaler Netzwerke liegen.
Wie könnte die praktische Umsetzung eines solchen Konzeptes aussehen?
Nehmen wir die Beispiele Orthopädie oder Endoprothetik: Es müssten regionale Konsortien gebildet werden, etwa bestehend aus Ärztinnen und Ärzten aus den Bereichen Orthopädie und Allgemeinmedizin sowie Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten und ggf. Schmerzmedizinerinnen und Schmerzmedizinern. Das Konsortium verständigt sich auf klare Versorgungspfade und folgt gemeinsam festgesetzten Versorgungszielen, die anhand von Qualitätsindikatoren gemessen und transparent kommuniziert werden. Die Qualitätsindikatoren müssen möglichst ohne Zeitverzug sichtbar werden und eine kontinuierliche Optimierung der Versorgungspfade induzieren.
Sie beschäftigen sich im Rahmen Ihrer Forschung auch mit dem Thema Pandemiemanagement. Wie blicken Sie auf die COVID-19-Pandemie in Deutschland zurück?
Während der Pandemie haben wir das Modell der „Value-Based Healthcare“ in der Region praktisch umgesetzt. Hier wird der Patientennutzen einer medizinischen Behandlung in den Mittelpunkt gestellt. Der Freistaat Sachsen hat bereits im 1. Pandemiemonat den Städten Dresden, Chemnitz und Leipzig die Verantwortung für die regionalen Krankenhäuser übertragen. Diese Städte hatten die Aufgabe, die gesamte Versorgung mit jeweils rund 20–30 regionalen Krankenhäusern zu steuern. Mein Institut hat unter Verwendung von Daten der Gesundheitsämter unter anderem modelliert, wie viele Klinik- und Intensivbetten in den kommenden Wochen benötigt werden. So sind über 20000 Coronapatientinnen und -patienten zielgerichtet an die Krankenhäuser verwiesen worden, ohne die medizinische Infrastruktur zu überlasten.
Die Fragen stellte Dr. Frank Lichert.
Publication History
Article published online:
08 August 2025
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