Hintergrund
Eine patientenzentrierte Versorgung (PCC) ist ein Schlüsselprinzip einer hochwertigen
Gesundheitsversorgung [1]. Sie wird mit
einer höheren Patientenzufriedenheit, einem besseren Gesundheitszustand, einem
verbesserten Gesundheitsverhalten und weiteren wünschenswerten Ergebnissen in
Verbindung gebracht [2]
[3]
[4]. In den letzten Jahren hat PCC in der Gesundheitspolitik und der
Gesundheitsversorgung in vielen Ländern der Welt zunehmend an Bedeutung gewonnen
[5].
Patientenzentrierung fördert Gleichheit, Gerechtigkeit und Respekt in der
Patientenversorgung [6]
[7], die zentrale Ziele der
panamerikanischen Gesundheitsorganisation darstellen [8]. Daher ist die Umsetzung von
Patientenzentrierung auch ein Ziel für lateinamerikanische Länder. Allerdings sind
in diesen Ländern unterschiedliche Grade der Umsetzung zu beobachten [9]
[10]
[11]
[12]. Chile ist ein Vorreiter bei der
Förderung von PCC. Seit 2006 hat das Land die Umsetzung der PCC gefördert, indem es
diese zu einem der Grundprinzipien des chilenischen Gesundheitssystems erklärt hat
[13]. Dennoch hat sich die Umsetzung
der PCC in der Routineversorgung als schwierig erwiesen [14] und hinkt in Chile hinterher [15]. Einige der Faktoren, die dazu
beitragen, sind
-
die Komplexität des Konzepts [6]
[16],
-
die Interdependenz zwischen Gesundheitsversorgungsaktivitäten und politischen
Regelungen und
-
die Notwendigkeit eines kulturellen Wandels in der Gesundheitspolitik und
-versorgung.
Wir werden diese drei Faktoren im Folgenden näher beschreiben. In Anbetracht dieser
komplexen Faktoren ist die Umsetzung von PCC ein langwieriger und komplexer
Prozess.
Herausforderungen bei der Umsetzung von PCC
Herausforderungen bei der Umsetzung von PCC
PCC ist ein komplexes Konzept, das mehrere Dimensionen umfasst [6]
[16]. Eine zentrale Dimension der PCC ist die partizipative
Entscheidungsfindung (shared decision-making, SDM), d. h. die aktive Beteiligung von
Patienten und Angehörigen der Gesundheitsberufe an einem gemeinsamen
Entscheidungsprozess [17]. Die
PCC-Implementierung kann durch verschiedene Mittel und auf verschiedenen Ebenen
adressiert werden, z. B. durch die Überzeugungen und die Selbstwirksamkeit des
Einzelnen auf der individuellen Ebene, durch strukturelle Merkmale von
Krankenhäusern im inneren Umfeld und durch externe Maßnahmen im äußeren Umfeld [18].
Gesundheitspolitische Regelungen sind Kontextbedingungen, die das
professionelle Verhalten der Angehörigen der Gesundheitsberufe beeinflussen, z. B.
die Zeit, die ein professioneller Behandler mit einem Patienten verbringen kann.
Kürzlich wurde in Chile eine neue Verordnung erlassen, die vorsieht, dass alle
Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen 45 Minuten lang von zwei
medizinischen Fachkräften beraten werden können. Damit soll sichergestellt werden,
dass sie angemessen beurteilt werden und ihr Behandlungsplan gemeinsam erstellt
wird. Die Neuregelung der Zeit, die ein Arzt mit einem Patienten verbringen kann
(d. h. die Erhöhung von etwa sieben Minuten auf 45 Minuten), wird wahrscheinlich die
Art und Tiefe des Arzt-Patienten-Gesprächs während der Konsultation verändern. Dies
zeigt, dass politische Regelungen das Potenzial haben, das Verhalten der
medizinischen Fachberufe substantiell zu beeinflussen.
Eine wichtige Voraussetzung für die Implementierung der PCC in die Routineversorgung
ist ein Kulturwandel. In Deutschland werden Ärzte manchmal noch als
„Halbgötter in Weiß“ bezeichnet, in Chile gibt es eine ähnliche Bezeichnung
„God-tors“ (Diostor) [19].
Wahrscheinlich würde man sich mit Halbgöttern über nichts streiten, auch nicht über
die eigene Gesundheit. In Übereinstimmung mit diesem Argument haben Bravo und
Kollegen darauf hingewiesen, dass die relativ passive Rolle der Patienten, die es
vorziehen, gesundheitliche Entscheidungen an das medizinische Fachpersonal zu
delegieren, anstatt sich aktiv am Entscheidungsprozess zu beteiligen, ein großes
Hindernis für die Umsetzung von PCC in Chile darstellt [15]. Wenn Patientenzentrierung umgesetzt
werden soll, muss sich die Kultur dahingehend ändern, dass Personen als Experten für
ihre eigene Gesundheit und ihr Leben wahrgenommen werden, während die Ärzte Experten
für die medizinische Versorgung sind. Den Ideen von PCC und SDM folgend kann die
beste medizinische Versorgung nur geleistet werden, wenn sowohl Patienten als auch
Ärzte ihr Wissen einbringen, um gemeinsam eine Entscheidung zu treffen.
In unserem Projekt haben wir versucht, einige der genannten Herausforderungen zu
überwinden, indem wir ein Netzwerk aufgebaut haben, das einen spezifischen
Wissensaustausch und Schulungen anbietet. Dieser Artikel beschreibt die Meilensteine
des Aufbaus eines Forschungsnetzwerks sowie wichtige Erfahrungen in diesem
binationalen Kooperationsprojekt.
Methoden
Einrichtung des Internationalen Netzwerks für patientenzentrierte
Versorgung
Ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (FKZ 01DN20005, Laufzeit
2020-2024) gefördertes Kooperationsprojekt wurde gemeinsam von Forschern und
Klinikern aus Chile und Deutschland durchgeführt. Das Projekt zielte darauf ab,
langfristige kooperative und internationale Forschungsstrukturen mit exzellenten
Forschungseinrichtungen zwischen Deutschland (Universität Hamburg und
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) und Chile (Universidad Católica,
Santiago de Chile) zu entwickeln und auszubauen, die die patientenzentrierte
Versorgung (PCC) und die partizipative Entscheidungsfindung (SDM) für Menschen
mit chronischen Erkrankungen fördern. Die Hauptziele dieses Projekts waren
-
der Aufbau eines Netzwerks, einschließlich einer Webseite, die sowohl
deutschen als auch chilenischen Forschern im Gesundheitswesen oder
Forschern auf dem Gebiet der PCC und SDM aus verschiedenen Disziplinen
(z. B. Medizin, Krankenpflege, Psychologie, Gesundheits- und
Sozialwissenschaften) relevante Informationen zur Verfügung stellt;
-
die Bedarfe für PCC, einschließlich der Barrieren und fördernden
Faktoren, zu verstehen und das PCC-Modell [siehe 6, 16] an den
lateinamerikanischen Kontext im Gesundheitswesen anzupassen;
-
ein Workshop-Programm zu PCC-Forschung, -Ausbildung und klinischer Praxis
in Chile zu entwickeln und umzusetzen; und
-
den internationalen Austausch von jungen Forschern zwischen Deutschland
und Chile zu erleichtern.
Darüber hinaus sollte Chile durch Wissenstransfer in den folgenden Bereichen
unterstützt werden: Forschung zu Patientenzentrierung, Ausbildung in PCC und
klinischer patientenzentrierter Arbeit. Neben dem Austausch zwischen Chile und
Deutschland ist es die Aufgabe des Netzwerks (PCC NET), den Erfahrungsaustausch
und die Zusammenarbeit in Forschung, Klinik und Lehre in diesen Bereichen zu
fördern. Das PCC NET nutzt verschiedene Mittel, um diese Ziele zu erreichen, die
sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, z. B. eine Website und Newsletter,
Online-Seminarreihen, Workshops und eine wissenschaftliche Konferenz.
Ergebnisse
Die binationale Gruppe von Wissenschaftlern aus diesem Kooperationsprojekt hat das
Internationale Netzwerk für Patientenzentrierte Versorgung (PCC
NET; https://www.pcc-network.org) ins Leben gerufen, das 63 Mitglieder und
2024 weitere 69 interessierte Personen, hauptsächlich aus Chile und Deutschland,
aber auch aus anderen Ländern, z. B. Argentinien, umfasst. PCC NET hat erfolgreich
eine stabile und dauerhafte Zusammenarbeit zwischen Forschern aus Chile und
Deutschland etabliert und erleichtert den Wissensaustausch über PCC und SDM durch
verschiedene Maßnahmen.
Der erste Schritt war die Entwicklung und der Start einer spezifischen
Website, die als Plattform für den Wissensaustausch dient. Hier wurden
Informationen über das Konzept der PCC [6]
[16], frühere und kommende
Veranstaltungen sowie Kurzbiografien der Mitglieder des PCC NET aufgenommen. Später
entwickelten wir einen regelmäßigen Newsletter, der an die Mitglieder
verschickt wurde und eine Kommunikationsplattform für die Mitglieder des PCC NET
schuf, die den Austausch unter den Mitgliedern förderte. Nach und nach sind wir dazu
übergegangen, alle Inhalte der Webseite und des Newsletters in Englisch und Spanisch
sowie teilweise in Deutsch anzubieten, um die Sprachbarriere abzubauen. Die Webseite
gab uns die Möglichkeit, Informationen in mehreren Sprachen zugänglich zu
machen.
Darüber hinaus organisierten wir eine Reihe von Online-Seminaren, die jeweils
von internationalen Experten auf diesem Gebiet geleitet wurden und 60 bis 90 Minuten
dauerten. Zwischen 2021 und 2024 fanden im Durchschnitt drei Online-Seminare pro
Jahr statt, an denen hauptsächlich Teilnehmer aus Chile und Deutschland teilnahmen.
Zu Beginn wurden die Online-Seminare nur für eingeladene Zuhörer angeboten, später
konnten alle am Thema Interessierten daran teilnehmen. Bislang fanden zwölf
Online-Seminare statt. Die ersten sechs Seminare konzentrierten sich auf die
PCC-Forschung, während die letzten sechs Seminare sich auf die Implementierung von
PCC und SDM konzentrierten ([Tab.
1]).
Tab. 1 Inhalt der Online-Seminarreihe.
Fokus
|
Thema
|
Zeitpunkt
|
Forschung
|
Risikokommunikation bei Gesundheitskrisen
|
Juni 2021
|
Forschung
|
Entwicklung, Durchführung und Evaluation eines Trainings zur
patientenzentrierten Kommunikation für Pflegekräfte
|
September 2021
|
Forschung
|
Entwicklung und Verfeinerung des Integrativen Modells für
Patientenzentrierung
|
November 2021
|
Forschung
|
Leitfaden für bewährte Praktiken bei der Risikokommunikation
während einer Gesundheitskrise
|
Januar 2022
|
Forschung
|
Nutzen und Risiken der Patientenbeteiligung an multidisziplinären
Tumorkonferenzen - Ergebnisse der PINTU-Mixed-Methods-Studie
|
Mai 2022
|
Forschung
|
Erforschung der patientenzentrierten Versorgung in
Lateinamerika
|
September 2022
|
Implementierung
|
Die Patientenuniversität zur Förderung von Gesundheitskompetenz
und Empowerment
|
Dezember 2022
|
Implementierung
|
Gesundheitsinformationen und Entscheidungshilfen des Instituts
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
(IQWiG)
|
Januar 2023
|
Implementierung
|
Ein neues Ausbildungskonzept für Shared Decision-Making in der
Grundversorgung
|
Juli 2023
|
Implementierung
|
Partizipative Entscheidungsfindung in der Routinepraxis:
Instrumente, Herausforderungen und Lösungen
|
September 2023
|
Implementierung
|
Gesundheitskompetenz, partizipative Entscheidungsfindung und
gesundheitliche Ungleichheit: Was wissen wir und was können wir
besser machen?
|
Januar 2024
|
Implementierung
|
Ausweitung der partizipativen Entscheidungsfindung durch eine
innovative kollaborative Plattform
|
März 2024
|
Es wurde deutlich, dass Online-Seminare, die sich auf die praktische Umsetzung von
PCC konzentrieren, für Fachpersonen aus Chile viel interessanter waren als
Online-Seminare, die sich auf entsprechende Forschung konzentrierten. Daher haben
wir den Schwerpunkt unserer Online-Seminare von der Forschung auf die Umsetzung
verlagert. Im Durchschnitt nahmen zwischen 20 und 30 interessierte Forscher bzw.
Kliniker an den Seminaren teil. Ab Sommer 2023 war ein starker Anstieg der
Teilnehmerzahlen zu beobachten: 100 Teilnehmer, 255 Teilnehmer und 390 Teilnehmer
bei drei verschiedenen Seminaren. Für diese drei Seminare wurde eine
Simultanübersetzung ins Spanische angeboten, während die Seminare zuvor nur auf
Englisch angeboten wurden. Sehr wahrscheinlich hat das Angebot der
Simultanübersetzung ins Spanische für qualitativ hochwertige Inhalte von
internationalen Experten das Interesse an den Seminaren geweckt und zu den sehr
hohen Teilnehmerzahlen geführt.
Im Rahmen des PCC NET wurden mehrere Workshops entwickelt und im Januar 2023
in Chile angeboten. Ein Workshop ist definiert als „ein üblicherweise kurzes,
intensives Bildungsprogramm für eine relativ kleine Gruppe von Personen, das sich
insbesondere auf Techniken und Fähigkeiten in einem bestimmten Bereich konzentriert“
[21]. Das Format der Workshops wurde
gewählt, da es der von Powell und Kollegen [22] beschriebenen Umsetzungsstrategie bei der Durchführung von
Schulungsangeboten entspricht und gleichzeitig die Möglichkeit bietet, zusätzliche
Umsetzungsstrategien, wie den Aufbau einer Kooperation und die Verteilung von
Schulungsmaterialien einzubeziehen. Die Workshops fanden am 30. und 31. Januar 2023
in Santiago de Chile statt. Die Workshops dauerten zwei Tage zu je vier Stunden. Die
Moderatoren der Workshops waren international anerkannte Experten für PCC und SDM
aus Deutschland und Chile. Für alle Workshops wurde eine Simultanübersetzung vom
Englischen ins Spanische angeboten. Die Workshops kombinierten verschiedene
Lehrtechniken, wie Präsentationen, Gruppenarbeit für Diskussionen und
Rollenspiele.
Die Workshop-Teilnehmer wurden vom chilenischen Gesundheitsministerium zu den
Workshops eingeladen. Etwa 200 Personen aus dem Ministerium wollten sich für die
Workshops anmelden, aber aus Kapazitätsgründen beschränkten wir die Workshops auf
50
Teilnehmer. Die Auswahl erfolgte durch das Ministerium, um Vertreter der meisten
Gesundheitsregionen des Landes dabeizuhaben. Insgesamt nahmen 51 Teilnehmer (76,5%
Frauen) an den Workshops teil. Sie waren entweder Gesundheitsfachkräfte, die für die
Umsetzung der PCC im Land verantwortlich waren, die für das Gesundheitsministerium
oder in der Primärversorgung in Chile arbeiteten. An den Workshops nahmen Vertreter
von 23 der 29 in Chile bestehenden Gesundheitsdienstregionen teil. Einige Teilnehmer
waren derzeit sowohl in der klinischen Praxis als auch in der Gesundheitspolitik
tätig.
Das Ziel der Workshops wurde gemeinsam mit der für die Umsetzung der PCC in
Chile zuständigen Gruppe des Gesundheitsministeriums, der chilenischen Abteilung für
Primärversorgung, festgelegt. Auf diese Weise konnten wir auf diesem Wissen aufbauen
und die Fortschritte berücksichtigen, die das Land hier bereits gemacht hat, so dass
die Workshops auf die tatsächlichen Bedarfe der chilenischen Ärzte und
Interessengruppen abgestimmt waren. Dies führte zu einer großen Zahl von Teilnehmern
(etwa 200), die an den Workshops im Jahr 2023 teilnehmen wollten, und zu vielen
Fragen und Diskussionen während der Workshops. Ziel war es, den Beteiligten das
Thema näher zu bringen. Der Schulungsplan und die Durchführung der Workshops
umfassten vier Hauptthemen und eine Übung:
-
Konzepte und Praktiken von PCC und SDM,
-
Kommunikation zwischen Arzt und Patient,
-
Evaluation von PCC und SDM und
-
Umsetzung und Anwendung von SDM.
Ergänzt wurden sie durch eine praktische Übung mit Rollenspielen zwischen Patienten
und Ärzten.
Das Konzept und die Praxis der Patientenzentrierung wurden anhand des
Integrativen Modells der Patientenzentrierung erläutert, das 16
Dimensionen umfasst [6]
[16] und im Allgemeinen mit der
Konzeptualisierung von PCC in Lateinamerika übereinstimmt [23]. Die partizipative Entscheidungsfindung
wurde gemäß der von Elwyn und Kollegen vorgeschlagenen Definition eingeführt [24]. In Bezug auf die Kommunikation
zwischen Arzt und Patient wurden allgemeine Vorschläge formuliert, wie die
Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten in Richtung einer stärkeren
Patientenzentrierung verändert werden kann, z. B. durch Techniken wie aktives
Zuhören [25]. Darüber hinaus wurde eine
typische Struktur einer patientenzentrierten Kommunikation gemäß dem Enhanced
Calgary Cambridge Guide
[26] und
dem Three-Talk-Modell für SDM
[27]
[28] vorgestellt. In einem Workshop wurde die Bedeutung einer validen und
zuverlässigen Messung von PCC und SDM betont [29]. Außerdem wurden Instrumente zur
Messung von PCC (z. B. der Experienced Patient-Centeredness Questionnaire (EPAT
[30]) und SDM (z. B. der SDM-Q-9 [31]) vorgestellt. Das Consolidated
Framework for Implementation Research (CFIR) wurde als theoretische
Grundlage für die Umsetzung von Veränderungen im Gesundheitswesen vorgestellt [18]. Wie Aspekte des CFIR für die Umsetzung
von SDM in der Praxis genutzt werden können, wurde anhand von Erfahrungen aus der
deutschen PREPARED-Studie [32]
veranschaulicht. Die Rollenspiele wurden in kleinen Gruppen von ca. 10
Teilnehmern durchgeführt. In jeder Gruppe erhielt ein Teilnehmer eine kurze
Rollenbeschreibung, um einen Arzt während einer medizinischen Begegnung zu spielen;
ein zweiter Teilnehmer spielte einen Patienten mit Bluthochdruck. Die übrigen
Teilnehmer wurden gebeten, den SDM-Prozess nach dem Three-Talk-Modell [27]
[28] zu beobachten und zu bewerten. Diese praktische Übung simulierter
Arzt-Patienten-Begegnungen zielte darauf ab, eine patientenzentrierte Beratung mit
einer partizipativen Entscheidung von Patient und Arzt zu üben.
Nach dem Vier-Ebenen-Modell von Kirkpatrick evaluierten wir die Workshops,
indem wir die erste Evaluierungsebene bewerten ließen, d. h. die Reaktionen der
Teilnehmer erfassten [33]. Am Ende des
zweiten Tages wurde allen Teilnehmern ein Fragebogen (in spanischer Sprache) zur
Bewertung der Workshops auf Papier ausgehändigt, den 46 Teilnehmer ausfüllten. Der
Fragebogen umfasste 16 Fragen, die auf einer vierstufigen Bewertungsskala (von
1=„stimme überhaupt nicht zu“ bis 4=„stimme sehr zu“) bewertet wurden und Themen wie
Zufriedenheit mit den Workshops, Aspekte von PCC und SDM, Verständnis und Aussagen
zu bestimmten Sitzungen abdeckten.
Die Ergebnisse der Bewertung sind in [Tab.
2] dargestellt. Der Fragebogen enthielt auch drei offene Fragen: „Was hat
Ihnen besonders gut gefallen?“; „Was können wir beim nächsten Mal besser machen?“
und „Sonstige Anmerkungen“. Die ersten beiden offenen Fragen wurden mittels einer
qualitativen Inhaltsanalyse unter Verwendung induktiver Kodierung analysiert; die
Ergebnisse sind in [Abb. 1] dargestellt.
Wenn ein Teilnehmer mehrere Kommentare zu einer Frage abgab, wurden alle Kommentare
gezählt und einzeln kategorisiert. Um die Anonymität der Teilnehmer zu
gewährleisten, haben wir im Fragebogen nicht nach Alter und Geschlecht gefragt.
Abb. 1 Zusammenfassungen der Antworten zu a) „Was hat Ihnen besonders
gut gefallen?“ und b) „Was können wir beim nächsten Mal besser machen?“.
Hinweis: Die Reihenfolge der Kommentare innerhalb jeder Kategorie
richtet sich nach der Häufigkeit, d. h. die häufigsten Kommentare werden
zuerst genannt. PCC=Patientenzentrierte Versorgung; SDM=Partizipative
Entscheidungsfindung
Tab. 2 Ergebnisse der Workshop-Evaluation.
Items
|
n
|
M
|
SD
|
Insgesamt war ich mit dem Workshop zufrieden.
|
45
|
3.8
|
0.37
|
Mein Interesse an einer patientenzentrierten Versorgung ist
groß.
|
46
|
4.0
|
0.00
|
Mein Interesse an partizipativer Entscheidungsfindung ist
groß.
|
46
|
3.9
|
0.28
|
Das Hauptthema „patientenzentrierte Versorgung“ ist für meine
Arbeit relevant.
|
46
|
4.0
|
0.15
|
Das Hauptthema „partizipative Entscheidungsfindung“ ist für meine
Arbeit relevant.
|
46
|
3.9
|
0.28
|
Ich habe durch den Input zu den Konzepten der
patientenzentrierten Versorgung und der partizipativen
Entscheidungsfindung neue Dinge gelernt.
|
46
|
3.8
|
0.38
|
Ich habe neue Dinge darüber gelernt, wie man eine
patientenorientierte Versorgung messen kann.
|
46
|
3.7
|
0.50
|
Ich habe eine Vorstellung davon, welche Schritte/Aktionen die
Umsetzung und Annahme einer partizipativen Entscheidungsfindung
erleichtern.
|
46
|
3.5
|
0.55
|
Insgesamt war ich mit dem interaktiven Teil, der auf dem
Rollenspiel basierte, zufrieden.
|
45
|
3.5
|
0.63
|
Das Rollenspiel hat meine Fähigkeiten zur gemeinsamen
Entscheidungsfindung verbessert.
|
45
|
3.2
|
0.71
|
Ich konnte den Präsentationen leicht folgen.
|
45
|
3.8
|
0.39
|
Manchmal habe ich nicht verstanden, was die Referenten gesagt
haben.
|
46
|
1.3
|
0.57
|
Die Simultanübersetzung hat mir sehr geholfen, den Inhalt der
Präsentationen zu verstehen.
|
43
|
3.9
|
0.52
|
Insgesamt wurden meine Erwartungen an die Workshops erfüllt.
|
46
|
3.8
|
0.38
|
Hinweis: Die Werte liegen zwischen 1=stimme gar nicht zu und
4=stimme sehr zu.
Insgesamt bewerteten die Teilnehmer die Workshops positiv. Die Teilnehmer bewerteten
beide Konzepte, PCC und SDM, als relevant für ihre Arbeit. Die Teilnehmer schätzten
vor allem die theoretische Erläuterung der Konzepte und die in den Workshops
vorgestellten spezifischen Instrumente (z. B. Messinstrumente, SDM-Instrumente,
Umsetzungsinstrumente). Sie hätten sich mehr praktische Beispiele, mehr Zeit zur
Wiederholung von Themen oder Übungen und klarere Anweisungen für die Rollenspiele
gewünscht.
Im Januar 2024 fand im Rahmen des PCC NET die 1. Lateinamerikanische Konferenz zur
Personenzentrierten Versorgung (1º Congreso Latinoamericano sobre el Cuidado
Centrado en las Personas, 23.-24.01.2024, Universidad Católica, Santiago de Chile)
statt, die von Experten aus Deutschland, Chile, den Vereinigten Staaten und
Argentinien ausgerichtet wurde. An zwei Tagen fanden vier Hauptvorträge, zwei
Rundtischgespräche, fünf Workshops, 31 Vorträge und 19 Posterpräsentationen aus
Forschung und klinischer Praxis statt. Insgesamt haben 196 Personen persönlich an
der Konferenz teilgenommen, darunter viele Vertreter aus Chile, aber auch aus
anderen lateinamerikanischen Ländern. Darüber hinaus haben weitere 1.000 Personen
die Konferenz virtuell besucht, indem sie die Veranstaltung per Live-Streaming
verfolgt haben. Diese Konferenz hat den Wissenstransfer über PCC vorangetrieben,
indem sie vielen Personen Informationen über PCC zugänglich gemacht und Raum für
Diskussionen über das Thema geschaffen hat.
Wir haben die Konferenz evaluiert, indem wir die Reaktionen der Teilnehmer, d. h.
die
erste Evaluierungsebene nach dem Vier-Stufen-Modell von Kirkpatrick [33], über eine Online-Umfrage ausgewertet
haben, die am Ende der Konferenz veröffentlicht wurde und vier Wochen lang entweder
auf Spanisch oder Englisch ausgefüllt werden konnte.
Insgesamt haben 113 Personen (81% Frauen) an der Umfrage teilgenommen. Die
Umfrageteilnehmer waren im Durchschnitt 41 Jahre alt (SD=10,9). Die Mehrheit
(n=107) gab ihre Nationalität als chilenisch an. Etwa die Hälfte der
Umfrageteilnehmer gab ihren Beruf als Kliniker (49%) und etwa ein Drittel als
technische Referenten (36%) an. Nur wenige Personen gaben an, Wissenschaftler (11%)
oder in der Gesundheitspolitik tätig zu sein (8%). Es konnten mehrere Antworten
ausgewählt werden. 21 Personen gaben an, einen anderen Beruf zu haben, z. B. Lehrer
(n=7). Die Umfrageteilnehmer gaben an, derzeit in der klinischen Praxis
(34%), in der Politik (31%), in der Lehre (31%) oder in der Forschung (19%) tätig
zu
sein; Mehrfachnennungen waren möglich.
Der Fragebogen enthielt Fragen, die auf einer 5-Punkte-Skala bewertet wurden (von
1=„stimme überhaupt nicht zu“ über 3=„weder noch“ bis 5=„stimme voll und ganz zu“).
Die Umfrageteilnehmer gaben an, dass ihr Interesse an SDM und PCC groß war
(M=5,0, SD=0,2; n=109) und dass die Themen für ihre Arbeit
relevant waren (M=4,9, SD=0,3; n=109). Im Allgemeinen waren die
Teilnehmer der Meinung, dass die Konferenz ihr Verständnis von PCC und SDM
verbessert hat (M=4,7, SD=0,6; n=109) und dass sie nun einige
der Herausforderungen bei der Umsetzung von PCC kennen (M=4,6, SD=0,6;
n=108). Insgesamt waren sie mit der Konferenz zufrieden (M=4,8,
SD=0,5; n=108) und die Simultanübersetzung hat ihnen geholfen, den
Inhalt der Präsentationen zu verstehen (M=4,8, SD=0,4; n=92;
nicht zutreffend=16).
Aus den Ergebnissen dieser Umfrage lässt sich ableiten, dass eine vielfältige Gruppe
von Personen mit unterschiedlichen Berufen und aus unterschiedlichen Bereichen an
der ersten lateinamerikanischen Konferenz über PCC teilgenommen hat und dass die
Teilnehmer insgesamt mit der Konferenz zufrieden waren, die ein Thema von großer
Bedeutung und Relevanz für das chilenische Fachpublikum behandelt hat.
Diskussion
Das Internationale Netzwerk für Patientenzentrierte Versorgung (PCC NET) hat sich
zum
Ziel gesetzt, den Wissenstransfer und den Austausch von Erfahrungen im Zusammenhang
mit PCC und SDM zu fördern, um den Wissenstransfer in diesem Bereich zu
unterstützen. Im Rahmen von PCC NET wurden verschiedene Formate für den
Wissenstransfer zwischen Ländern mit unterschiedlichen Kulturen unterschiedlicher
Kontinente durchgeführt, spezifisch eine neu entwickelte Webseite, eine Reihe von
Online-Seminaren, Workshops in Präsenz und die Durchführung einer Fachkonferenz.
Diese Formate erleichterten den Wissenstransfer zwischen den Ländern und boten Raum
für den Austausch, wodurch die Herausforderungen bei der Umsetzung von PCC
adressiert wurden.
Die Komplexität der Patientenzentrierung erfordert einen vielschichtigen Ansatz zur
Umsetzung. Das PCC NET ist dieser Forderung nachgekommen, indem es Aktivitäten
angeboten hat, die sich an verschiedene Interessengruppen auf unterschiedlichen
Ebenen richten, z. B. an Fachkräfte im Gesundheitswesen und Vertreter der
Gesundheitspolitik.
Die Interdependenz zwischen Gesundheitsversorgung und Politik unterstreicht die
Notwendigkeit, die politischen Akteure einzubeziehen. PCC NET ist dieser Forderung
nachgekommen, indem es die Inhalte seiner Aktivitäten in enger Zusammenarbeit mit
dem chilenischen Gesundheitsministerium entwickelt hat, das für die Umsetzung der
PCC in Chile verantwortlich ist, und indem es sich mit seinen Aktivitäten direkt an
Vertreter des Gesundheitsministeriums wendete. Erste Erfolge sind bereits zu
verzeichnen, so wurde z. B. die Ausbildung zur partizipativen Entscheidungsfindung
in Chile verpflichtend [34].
Kultureller Wandel ist ein Prozess, der eine längere Zeit in Anspruch nehmen wird.
Wir sind jedoch der Meinung, dass dieser Prozess vorangetrieben werden kann, wenn
Personen aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Kulturen zusammenkommen und
die Möglichkeit haben, ihre Ansichten und Perspektiven systematisch auszutauschen.
Das PCC NET hat diesen Austausch durch verschiedene Mittel gefördert, z. B. durch
runde Tische auf der Konferenz und ausreichende Diskussionszeiten während den
Online-Seminaren.
Hinweise zur guten Praxis
Hinweise zur guten Praxis
Die Erfahrungen, die wir während der Einrichtung von PCC NET gesammelt haben, haben
unser Verständnis darüber bereichert, was die Umsetzung von Patientenzentrierung in
Chile und vermutlich auch in anderen Ländern fördern kann. Aus unseren Erfahrungen
haben wir einige Tipps zur guten Praxis abgeleitet.
Gegenseitige Besuche in den kooperierenden Ländern
Der Gedanken- und Meinungsaustausch bei persönlichen Treffen sowohl in
Deutschland als auch in Chile hat das Verständnis für Bedürfnisse und
potenzielle Hindernisse beim Wissenstransfer in Bezug auf PCC erheblich
verbessert.
Maßgeschneiderte Angebote
Durch die gemeinsame Zielplanung für die Workshops im Jahr 2023 und auch des
Umfangs der Konferenz im Jahr 2024 in enger Zusammenarbeit mit der chilenischen
Abteilung für Primärversorgung, die für die Implementierung von PCC in Chile
verantwortlich ist, wurden die inhaltlichen Angebote auf die Bedürfnisse und
Interessen der Zielgruppe zugeschnitten, was vermutlich zu einem hohen Interesse
an den Workshops und der Konferenz führte.
Bewusstsein für Sprache als Barriere
Es kann eine Herausforderung sein, Menschen für internationale Schulungen zu
gewinnen, wenn eine zweite Sprache in einem Land nicht üblich ist. Das Angebot
einer Simultanübersetzung der Workshops, der Konferenz und einiger
Online-Seminare ins Spanische hat die Sprachbarriere verringert und die
verschiedenen Angebote für die chilenischen Vertreter leichter zugänglich
gemacht.
In diesem Sinne sollte man sich der kulturellen Unterschiede bewusst sein, die
eine Rolle spielen können, und einen lokalen Moderator hinzuziehen, der hilft,
diese Unterschiede zu verstehen. Die Präsentation und Diskussion der
Gesundheitssysteme beider Länder kann ebenfalls dazu beitragen, eine gemeinsame
Basis zu finden. Da es sich bei PCC um ein komplexes Konzept handelt, das bisher
überwiegend in der aus Nordamerika und Europa stammenden Literatur beschrieben
wurde [6], stellt sich die Frage, wie
PCC in den lateinamerikanischen Ländern konzeptualisiert wird und ob dies
speziell berücksichtigt werden muss. Ein kürzlich durchgeführter Scoping Review
[23] hat ergeben, dass die
Konzeptualisierung von PCC in Lateinamerika im Allgemeinen dem Integrativen
Modell der Patientenzentrierung entspricht, das hauptsächlich auf Literatur aus
Nordamerika und Europa basiert [6].
Allerdings scheint die Differenzierung zwischen patientenzentrierter und
familienzentrierter Versorgung in den lateinamerikanischen Ländern ausgeprägter
zu sein [23]. Dies unterstreicht die
Bedeutung der Klärung von Konzepten im internationalen Austausch, auch für
weniger komplexe Konzepte und Begriffe.
Limitationen
Die Mehrheit der Workshop-Teilnehmer war weiblich. Dies spiegelt wahrscheinlich nicht
die geschlechtsspezifische Akzeptanz von Patientenzentrierung wider, sondern eher
die Geschlechterverteilung im Gesundheitssystem, da die meisten medizinischen
Fachkräfte in Chile Frauen sind, z. B. Krankenschwestern. Darüber hinaus haben wir
in Anlehnung an das Vier-Ebenen-Modell von Kirkpatrick nur die erste Ebene, d. h.
die Reaktionen, ausgewertet [33]. Somit
können keine Aussagen darüber getroffen werden, inwieweit die Workshops auch zu
Veränderungen auf den anderen drei Ebenen, d. h. Lernen, Verhalten und Ergebnisse,
geführt haben könnten. Dazu wäre eine umfangreichere Evaluation mit mehreren
Messpunkten notwendig. Nach den Workshops wurden unsere chilenischen Teammitglieder
jedoch eingeladen, sich zu der neuen Politik zu Patientenzentrierung und zum Shared
Decision Making in Chile zu äußern, wo inzwischen Schulungen zu SDM zum Standard
gehören. Daher bewerten wir die Workshops als nützliche und erfolgreiche Schritte
zum Wissenstransfer und zur Förderung der Umsetzung von PCC. Dadurch wurde eine
professionelle Gemeinschaft gestärkt, die im Land weiterbesteht, wobei PCC und SDM
die Hauptthemen der Diskussionen und Schulungen sind. Ein weiterer Indikator für den
Erfolg der Workshops ist die Konferenz zur Patientenzentrierung in Chile im Jahr
2024.
Schlussfolgerung
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das PCC NET zu einem effektiven Netzwerk
zur Verbesserung des Wissenstransfers von PCC und SDM in einem lateinamerikanischen
Land gewachsen ist. Die Einbeziehung lokaler Schlüsselakteure und die Mitgestaltung
von Aktivitäten (einschließlich einer Website, Workshops und einer Konferenz) waren
von entscheidender Bedeutung, um das Netzwerk kulturell angemessen zu gestalten,
indem die spezifischen Bedarfe und Arbeitsfortschritte Chiles in diesem Bereich
berücksichtigt wurden. Diese Initiativen stellen wichtige Schritte zur Förderung der
Patientenzentrierung in Chile dar, auch wenn weitere Anstrengungen erforderlich
sind, um die verbleibenden Herausforderungen zu bewältigen und die Dynamik in
Politik und Praxis aufrechtzuerhalten.
Fundref Information
Chilean Fund for Scientific and Technological Development, FONDECYT — 1221731
Bundesministerium für Bildung und Forschung — http://dx.doi.org/10.13039/501100002347;01DN20005