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DOI: 10.1055/a-2674-6737
Zum 100. Geburtstag von Franco Basaglia

Zum 100. Geburtstag von Franco Basaglia
Es gibt nicht viele Psychiaterinnen und Psychiater, zu deren 100. Geburtstag Veranstaltungen stattfinden und Sammelbände herausgegeben werden. Noch seltener werden wahrscheinlich Interviews erneut abgedruckt, und dies auch noch im Ausland. Nicht nur das jetzt im Psychiatrie-Verlag erschiene Buch über Basaglias „radikales Denken und optimistisches Handeln“ weist daraufhin, dass er einen Platz als ein „Großer“ in der Psychiatriegeschichte hat. Wofür steht er heute? Den Beiträgen dieses Buches zufolge für seine Ideen, die er immer auch ganz praktisch in eigenes Handeln umsetzte. Die zahlreichen Autorinnen und Autoren, die hier jeweils in Kurzbeiträgen zu Wort kommen, rekrutieren sich ganz überwiegend aus den damals jungen Freiwilligen, die Basaglias Reformprojekt in Triest mit viel Enthusiasmus begleitet hatten und durch ihr jahrelanges Engagement sicher auch wesentlich zu seinem Erfolg beitrugen. Die bedeutsamste Revolution des Denkens, die Basaglia zugeschrieben werden kann, war vielleicht, dass er Patientinnen und Patienten vom Objekt zum Subjekt machte und ihnen eine Stimme und ein Gesicht gab. Diese Entwicklung hat sich, teilweise aber deutlich später, auch in vielen anderen europäischen Ländern vollzogen, teils auch unter anderen Vorzeichen. Aber Bewegungen wie Recovery, Empowerment und Trialog sind ohne Zweifel bei Basaglia unmittelbar anschlussfähig. Die in den einzelnen Beiträgen des Buchs dargestellten Perspektiven greifen häufig die damaligen Debatten wieder auf, so etwa die Auseinandersetzung mit dem „biomedizinischen Krankheitsmodell“, die großzügig alle Erkenntnisse und Weiterentwicklungen der Psychiatrie in den letzten 50 Jahren ausblendet, sich aber erstaunlicherweise heute wieder in Positionen der WHO finden lässt. Man versteht sehr gut, dass Basaglia eine charismatische Gestalt war, die sowohl durch Ideen als auch durch Taten zu beeindrucken wusste. Dies klingt in den rückschauenden Würdigungen zurecht durch. Dennoch vermisst man als Leser etwas Bedeutsames. Die Versorgungswirklichkeit der Psychiatrie wird sicher auch durch Ideen, praktisch aber noch mehr durch Gesetze und Finanzierung bestimmt. Und Basaglia war sicher der einzige Psychiater, dem es je gelungen ist, sein gesamtes Reformprojekt gleich selbst in ein Gesetz zu gießen, das von einer heute kaum mehr vorstellbaren überparteilichen Allianz verabschiedet wurde und bis heute Bestand hat. Dieses Gesetz Nr. 180 regelt weit mehr als ein PsychKHG deutscher Bundesländer, nämlich nicht nur Unterbringungsmodalitäten, sondern auch die Zahl und Gestaltung stationärer Betten und gemeindepsychiatrischer Wohneinrichtungen. Dass dieses Gesetz bis heute gültig ist und trotz des allmählich entstandenen Reformbedarfs an einigen Stellen von Professionellen, Patienten- und Angehörigenverbänden weiterhin hoch geschätzt wird, weist es offensichtlich als gelungenen großen Wurf aus (während niemand die deutschen Psychiatriegesetze der 1980er Jahre zurückhaben wollte). Dem Buch hätte es also sehr gut getan, wenn dieses Gesetz nicht nur implizit immer wieder erwähnt würde, sondern sein Zustandekommen (wobei Basaglias Frau auch eine maßgebliche politische Rolle spielte) und seine Inhalte ausführlich beleuchtet worden wären. Ohne diesen zentralen Erfolg ist die historische Leistung Basaglias nicht angemessen zu würdigen. Einen guten Blick auf die aktuelle Versorgungswirklichkeit gibt der letzte Beitrag von Verena Perwanger, der Leiterin der Psychiatrischen Dienste in Meran, zu „Überwindung von Zwang und Gewalt in der Akutpsychiatrie“. Dabei zeigt sich auch die dialektische Kehrseite von Basaglias Erfolgsgeschichte: Gute Ideen und Gesetze können eine auskömmliche Finanzierung psychiatrischer Versorgung nicht ersetzen, und diese ist in Italien im europäischen Vergleich inzwischen mangelhaft. Auch hätte man sich damit auseinandersetzen können, dass einige Aspekte des Basaglia-Gesetzes vor dem Hintergrund heutiger ethischer und menschenrechtlicher Diskussionen manchen durchaus bedenklich paternalistisch erscheinen mögen, zum Beispiel, dass eine Zwangsbehandlung allein aufgrund von ärztlich eingeschätztem „dringendem Behandlungsbedarf“, ohne zusätzliche Gefährdungstatbestände, ermöglicht wird. Viele Psychiaterinnen und Psychiater mögen dies für wünschenswert und richtig halten, in Deutschland würde ein derartiges Gesetzesvorhaben aber sicher große Empörung auslösen. Aus derartigen Gründen hätte die Frage „Was bedeutet Basaglia für uns heute?“ sicher wenigstens ein weiteres halbes Buch verdient gehabt.
Tilman Steinert, Weissenau
Tilman.Steinert@zfp-zentrum.de
Publication History
Article published online:
16 September 2025
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