Psychiatr Prax 2008; 35(6): 309
DOI: 10.1055/s-0028-1086196
Serie ˙ Szene ˙ Media Screen
Medica Screen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Psychische Störungen im Spielfilm

Further Information

Publication History

Publication Date:
30 September 2008 (online)

 

Die Idee ist glänzend: Ein Fast-Lehrbuch der Psychiatrie mit einem Gang durch die ICD-10 von F0-F8, abgehandelt an zumeist bekannten Spielfilmen und ihren Hauptdarstellern. Die Herausgeber sind keine Psychiater, sondern haben andere Arbeitsschwerpunkte. Stephan Doering leitet den Bereich Psychosomatik in der Zahnheilkunde an der Universität Münster, Heidi Möller leitet einen Fachbereich für Sozialwesen an der Universität Kassel. Unter den 35 übrigen Autoren sind einige bekannte Psychiater bzw. Psychosomatiker wie Dulz, Förstl, Hirsch, Pfäfflin, Rauchfleisch, Sachsse und Schneider, daneben aber auch Medizinhistoriker, klinische Psychologen, Medienwissenschaftler, Literaturwissenschaftler u.a. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf der Psychoanalyse und entsprechenden Interpretationen. Entsprechend der Vielzahl der Autoren ist die Bearbeitung der Filme erwartungsgemäß unterschiedlich ausgefallen, gelegentlich wird der psychiatrische Leser auch einmal die Stirn runzeln. Insgesamt handelt es sich aber um eine außergewöhnlich anregende und vergnügliche Lektüre. Meistens werden nicht nur die Filme anschaulich, oft geradezu spannend und mit vielen Details geschildert, sondern es erfolgen häufig auch Hintergrundinformationen zur Entstehungsgeschichte, zum Regisseur und den Schauspielern. In fast allen der 30 Abhandlungen gibt es einen Abschnitt, der formal auf die ICD-10 Bezug nimmt und die Diagnose nach ICD-10 erläutert. Häufig folgen Überlegungen zur Ätiologie und Deutungen. Nicht alles gibt den aktuellen Stand des Wissens über psychische Störungen wieder, besonders wenn Autoren über Krankheiten schreiben, die sie nie behandeln. Da kann man schon einmal Sätze lesen wie "je stärker und primitiver diese unbewusste sadistische Komponente ist, umso maligner verläuft die Suchtkrankheit. Eine gefährliche Substanz wird gewählt, wie entsprechend der Projektion des infantilen Sadismus des Individuums die Elternobjekte einst als gefährlich erfahren wurden. Die Drogeneinnahme repräsentiert Kontrolle über die gefährliche Substanz durch Inkorporation". Auch wenn es um die Schizophrenie geht, liest man einmal mehr über die Theorien Ronald Laings aus den 1960er Jahren und über "Familiengeheimnisse und Psychose" als vermeintliche Entschlüsselung der Ätiologie. Das mag der Psychiater ärgerlich finden, damit ist der Kritik aber fast auch schon Genüge getan. Wie man mit aus heutiger Sicht obsoleten psychoanalytischen Theorien auch als Psychoanalytiker souverän umgehen kann, zeigt etwa Ullrich Sachsse am Beispiel von Polanskis "Ekel". Didaktisch wunderbar gelungen ist z.B. auch "Reine Nervensache" in der Bearbeitung von Wolfgang Schneider, sehr lesenswert mit der Herausarbeitung des politisch-historischen Gesamtkontextes "Die Caine war ihr Schicksal" von Stephan Doering, geradezu von lehrbuchartiger und überaus einprägsamer Qualität die Fallschilderung "Kalifornia" von Thomas Ross, vielschichtig changierend "Citizen Kane" von Birger Dulz. Viele weitere könnte man hervorheben. Die Entdeckungsreise durch das Kaleidoskop der psychischen Störungen im Film macht interessante Fundstellen in bemerkenswerter Breite aus: Nicht nur die häufigen und vergleichsweise bekannten Krankheitsbilder sind vertreten, sondern man findet unter den Film-Persönlichkeiten auch die schizotype Störung (Frankenstein), den monosymptomatischen Wahn, die psychogene Dysmenorrhoe, die anankastische Persönlichkeitsstörung, Transsexualismus, sexuellen Masochismus und andere mehr. Interessant deshalb auch, was fehlt: die Manie. Gerade eines der schillerndsten psychischen Krankheitsbilder, das in Klinik und Praxis viel Stoff für außergewöhnliche Geschichten liefert, fehlt hier. Tatsächlich gibt es vergleichsweise wenig Spielfilme, in denen manische oder wenigstens hypomanische Episoden herauszuarbeiten sinten. d. Auch in die Belletristik hat die Manie, ganz anders als etwa Schizophrenie und Depression, bemerkenswert wenig Eingang gefunden, trotz (oder wegen?) der Tatsache, dass kunstschaffende und kreative Menschen signifikant gehäuft an Störungen aus dem bipolaren Spektrum leiden. Es ist schwer zu entscheiden, ob dieses Buch interessanter für Psychiater oder für Nichtpsychiater ist, auf jeden Fall aber ist es eine Fundgrube für Cineasten.

Tilman Steinert, Weissenau

Email: tilman.steinert@zfp-weissenau-de

Doering S, Möller H, Hrsg. Frankenstein und Belle de Jour: 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen. Heidelberg: Springer, 2008, 422 S., 64 Abb., 60 Tab., 39,95 €. ISBN 978-3-540-76879-1.

    >