psychoneuro 2008; 34(8): 375-377
DOI: 10.1055/s-0028-1087118
Serie
Berufliche Wiedereingliederung psychisch Kranker
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Chronifizierung vermeiden – Stigmatisierung vorbeugen,Wiedereingliederung fördern

Avoiding chronification – Preventing stigmatization, promoting reinstatementMarius Poersch1
  • 1Dr. von Ehrenwall'sche Klinik, Bad Neuenahr–Ahrweiler(Ärztlicher Direktor: Dr. C. Smolenski)
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Korrespondenz

Dr. med. Marius Poersch

Dr. von Ehrenwall'sche Klinik

Walporzheimerstraße 2

53474 Bad Neuenahr–Ahrweiler

Email: Marius.Poersch@Ehrenwall.de

Publication History

Publication Date:
28 August 2008 (online)

Table of Contents

Die zeitgemäße berufliche Wiedereingliederung psychisch kranker Erwerbstätiger – mit und ohne Behinderung – ist dringend reformbedürftig, da unter anderem die Arbeitsunfähigkeitstage und die Frühberentungszahlen gerade bei den psychisch erkrankten Menschen überproportional ansteigen. Obwohl die Ursachen kontrovers diskutiert werden, gibt es zunehmend Hinweise darauf, dass depressive Störungen häufiger und früher auftreten als noch vor einigen Jahren.

So far, no special ”return–to–work” concepts exist in Germany, although there is an undeniable increase in the number of mentally ill employees and employers. The possible reasons for this phenomenon are multiple and complex, but the dominance of classical therapeutic strategies (diagnosis of pathogenicity, and therapy derived therefrom) may be important. Patients and physicians may be following these classical strategies too often, too early and for too long in the course of development from individual ”not being well” to illness, finally leading to complex interactions. In this context, Norman Sartorius points out that ”the iatrogenic stigma of mental illness begins with the behavior and attitude of medical professionals, especially psychiatrists”. This article encourages physicians to change their therapeutic attitudes earlier and more often to update strategies promoting individual self–expectancy of effectualness, resilience, etc. It may be that mentally ill employees and employers are more often able to learn their individual resilient style of working than is generally assumed. These processes to individual recovery require a carefully planned mixture of classical psychiatric therapies and update coaching strategies and, last but not least, psychiatrists who have changed their usual attitudes and approaches. While doing so, medical professionals and psychiatrists are generally also strongly engaging themselves against chronification and stigmatization of mentally ill employees and employers.

Für eine gelingende berufliche Wiedereingliederung und vorzeitige Berentungen bei unterschiedlichen psychischen Erkrankungen sind krankheitsferne Faktoren – wie die Lage auf dem lokalen Arbeitsmarkt sowie psychische Faktoren wie etwa eine positive Selbstwirksamkeitserwartung oder eine noch nicht abgeschlossene Erwerbsprognose – möglicherweise von größerer Bedeutung als störungsspezifische [8]. Dies bedeutet, dass eine große und wahrscheinlich zunehmende Anzahl leicht– bis mittelgradig depressiver/somatoformer Störungen [13] einen bedeutenden Anteil sowohl an den überproportional zunehmenden Arbeitsunfähigkeitstagen als auch an der steigenden Frühberentungsquote hat [12]. Diese Aussage findet sich in ähnlicher Form in vielen sozialmedizinischen Untersuchungen. Demnach werden psychisch kranke und „kränkelnde” Erwerbstätige sowie auch „kranke Gesunde” (Stichwort: Präsentismus) [3] z.B. für eine berufliche Wiedereingliederung unzureichend diagnostiziert, klassifiziert und behandelt. Entsprechend gibt es in den Behandlungsleitlinien depressiver Störungen noch immer keine Hinweise, wie z.B. mit Konflikten am Arbeitsplatz, resultierenden Vermeidungsstrategien therapeutisch umgegangen werden kann [9]. Kliniker vermuten zunehmend, dass die unscharfen Begriffe 'Chronifizierung' und 'Stigmatisierung' eine größere Rolle spielen als bisher angenommen. Allerdings wird noch überwiegend von Krankheitschronifizierung gesprochen, nicht von einem chronifizierenden Lebensweg eines psychisch kränkelnden oder erkrankten Menschen.

Der klinisch, sozial– und gesundheitspolitisch geläufige Begriff der Chronifizierung ist nicht einheitlich definiert [5] und ist somit weder messbar noch mit den in der evidenzbasierten Forschung üblichen Methoden zu untersuchen. Entsprechend gibt es keine direkte „Chronifizierungsforschung” depressiv gestörter Menschen – allerdings weltweit eine zunehmende Recovery–Bewegung psychisch gestörter Menschen und deren Unterstützer [1] [7].

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Recovery und Chronifizierung

Recovery kann man als das Gegenteil von Chronifizierung betrachten, als den intrapsychischen Prozess eines psychisch gestörten Menschen, seine krankhaften und gesunden Anteile gleichzeitig und ggf. auf verschiedenen Ebenen so in seine Persönlichkeit zu integrieren, dass er sich möglichst „gut” in seinen zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen bei möglichst hoher Lebensqualität zurechtfinden und weiterentwickeln kann.

Recovery bedeutet demnach nicht immer die vollständige Gesundung im herkömmlichen Sinn. Sie besitzt große inhaltliche Überschneidungen mit den Begriffen Empowerment, Resilienz, Antistigmatisierung und Integration sinnvoller, positiver und kreativer Bewältigungserfahrungen der Betroffenen. Obwohl die überwiegende Anzahl der Forschungsbemühungen bezüglich Resilienz und Recovery primär durch die beeindruckenden Erfahrungen schizophren erkrankter Menschen (und insbesondere deren gesunden Kindern) angestoßen wurde, breitet sich die Bewegung zunehmend auf alle psychisch kränkelnden und erkrankten Menschen aus.

Die Stigmatisierung ist im Vergleich dazu länger und intensiver erforscht [10]. Der Titel einer Arbeit von Norman Sartorius provoziert und macht sehr nachdenklich [11]: „Iatrogenic stigma of mental illness begins with behavior and attitudes of medical professionals, especially psychiatrists”. Einen kurzen Überblick über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Begriffe 'Chronifizierung' und 'Stigmatisierung' versucht [Tab. 1].

Jeder Kliniker kennt Geschichten depressiver Menschen in subjektiv und auch objektiv verzweifelten Situationen, in denen es sogenannte negative Turning points gab [7], d.h. Situationen, Gespräche, Erfahrungen, Kränkungen, welche nach unserer und/oder der Einschätzung des Patienten den Lebensweg und die Erwerbsbiografie entscheidend verändert haben. Wir kennen alle auch positive Turning points, in denen sich die Lebenswege und ggf. auch die Erwerbsbiografien psychisch erkrankter Menschen in eine positive Richtung veränderten bzw. diese selber die Kraft zu einer Veränderung bekamen. Die Recovery–Bewegung hat eine Vielzahl von Menschen mit erfolgreichen Lebenswegen – ähnlich wie in der Resilienzforschung – retrospektiv befragt und immer ähnliche hilfreiche Faktoren gefunden [Tab. 2]. Die wissenschaftliche Arbeitshypothese in der Unterstützung psychisch kranker Erwerbstätiger und –fähiger lautet dementsprechend: Wenn diese Faktoren in eine therapeutisch–coachende Beleitung mit eindeutigen Zielen integriert werden (z.B. durch zufriedenstellende Erwerbsbeziehungen und eine zufriedenstellende Erwerbstätigkeit trotz und ggf. auch mit störenden Symptomen), dann kann sich die objektiv messbare berufliche Wiedereingliederungsquote erhöhen.

Dies bedeutet, dass zusätzlich zur kurativen Behandlung von Krankheitssymptomen und zusätzlich zur rehabilitativen Förderung allgemeiner Bewältigungsfähigkeiten (Stressreduktion, Zunahme der Kontaktfähigkeit etc.) relativ bald und schrittweise zunehmend eine individuelle resiliente Persönlichkeitsentwicklung (Recovery) mit weitgehend neuen Interventionsfaktoren und Interaktionsstilen gefunden und gefördert werden sollte.

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Tab. 1 Chronifizierung vs. Stigmatisiereng – Der Versuch eines Begriffsvergleichs aus der aktuellen psychiatrischen Sicht.

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Tab. 2 Eine Auswahl verschiedener Recovery–Faktoren.

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Ausblick

Da persönliche Recovery–Prozesse automatisch antichronifizierend und antistigmatisierend wirken, erscheint es aus salutogenetischer und resilienzorientierter Sicht kaum nötig, eine zusätzliche pathogenetische Forschung mit objektiv messbaren Chronifizierungs– und Stigmatisierungseffekten aufzubauen. Viel sinnvoller wäre es, auch unter Berücksichtigung knapper Ressourcen, ohne „pathogenetische Umwege” direkte Resilienz– und Recovery–Strategien für klare sozialmedizinische Ziele, wie etwa die berufliche Wiedereingliederung, zu fördern und ergebnisorientiert wissenschaftlich zu untersuchen.

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Literatur

  • 1 Amering M, Schmolke M.. Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. 2. Aufl. Bonn: Psychiatrie–Verlag 2007
  • 2 Badstreet S, Amering M, Schmolke M.. Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Bonn: Psychiatrie–Verlag 2007: 100-101
  • 3 Badura B, Walter U.. Lohnen Investition in die Gesundheit der Mitarbeiter.  Dtsch Ärztebl. 2008;  105
  • 4 Corrigan PW.. Recovering from schizophrenia and the role of evidence based psychosocial interventions.  Expert Rev Neurother. 2006;  6 993-1004
  • 5 Eikelmann B, Zacharias B.. Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Krankheiten. In : Möller HJ, Laux G, Kampfhammer HP, Hrsg. Psychiatrie und Psychotherapie. 2. Aufl. Heidelberg: Springer 2003: 208-224
  • 6 Mead S, Copeland ME.. What recovery means to us. In: Davidson L, Harding C, Spaniol L, eds. Recovery from severe mental illnesses: Research evidence and implications for practice. Boston: Boston University Center for Psychiatric Rehabilitation 2005
  • 7 Mezzich JE.. Psychiatry for the Person: articulating medicine's science and humanism.  World Psychiatry. 2007;  6 1-3
  • 8 Poersch M.. Wiedereingliederungstherapie psychisch kranker Erwerbstätiger: Erfahrungen aus dem Case Management im Auftrag privater Krankenversicherer.  Versicherungsmedizin. 2006;  58 174-180
  • 9 Poersch M.. Wiedereingliederungstherapie in das Erwerbsleben für depressiv/psychosomatisch kranke Erwerbstätige mit initial stabiler Erwerbsbiografie.  Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed. 2007;  42 228-235
  • 10 Rössler W, Lauber C. Psychiatrische Rehabilitation. Heidelberg: Springer 2004
  • 11 Sartorius N.. Iatrogenic stigma of mental illness.  BMJ. 2002;  324 1470-1471
  • 12 Stamm K, Salize HJ.. Volkswirtschaftliche Konsequenzen. In: Stoppe G, Bramsfeld A, Schwartz FW, Hrsg. Volkskrankheit Depression? Heidelberg: Springer 2006: 109-120
  • 13 Wittchen HU, Jakobi F.. Epidemiologie. In: Stoppe G, Bramsfeld A, Schwartz FW, Hrsg. Volkskrankheit Depression? Heidelberg: Springer 2006: 15-38
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Korrespondenz

Dr. med. Marius Poersch

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53474 Bad Neuenahr–Ahrweiler

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Literatur

  • 1 Amering M, Schmolke M.. Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. 2. Aufl. Bonn: Psychiatrie–Verlag 2007
  • 2 Badstreet S, Amering M, Schmolke M.. Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Bonn: Psychiatrie–Verlag 2007: 100-101
  • 3 Badura B, Walter U.. Lohnen Investition in die Gesundheit der Mitarbeiter.  Dtsch Ärztebl. 2008;  105
  • 4 Corrigan PW.. Recovering from schizophrenia and the role of evidence based psychosocial interventions.  Expert Rev Neurother. 2006;  6 993-1004
  • 5 Eikelmann B, Zacharias B.. Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Krankheiten. In : Möller HJ, Laux G, Kampfhammer HP, Hrsg. Psychiatrie und Psychotherapie. 2. Aufl. Heidelberg: Springer 2003: 208-224
  • 6 Mead S, Copeland ME.. What recovery means to us. In: Davidson L, Harding C, Spaniol L, eds. Recovery from severe mental illnesses: Research evidence and implications for practice. Boston: Boston University Center for Psychiatric Rehabilitation 2005
  • 7 Mezzich JE.. Psychiatry for the Person: articulating medicine's science and humanism.  World Psychiatry. 2007;  6 1-3
  • 8 Poersch M.. Wiedereingliederungstherapie psychisch kranker Erwerbstätiger: Erfahrungen aus dem Case Management im Auftrag privater Krankenversicherer.  Versicherungsmedizin. 2006;  58 174-180
  • 9 Poersch M.. Wiedereingliederungstherapie in das Erwerbsleben für depressiv/psychosomatisch kranke Erwerbstätige mit initial stabiler Erwerbsbiografie.  Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed. 2007;  42 228-235
  • 10 Rössler W, Lauber C. Psychiatrische Rehabilitation. Heidelberg: Springer 2004
  • 11 Sartorius N.. Iatrogenic stigma of mental illness.  BMJ. 2002;  324 1470-1471
  • 12 Stamm K, Salize HJ.. Volkswirtschaftliche Konsequenzen. In: Stoppe G, Bramsfeld A, Schwartz FW, Hrsg. Volkskrankheit Depression? Heidelberg: Springer 2006: 109-120
  • 13 Wittchen HU, Jakobi F.. Epidemiologie. In: Stoppe G, Bramsfeld A, Schwartz FW, Hrsg. Volkskrankheit Depression? Heidelberg: Springer 2006: 15-38
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Dr. med. Marius Poersch

Dr. von Ehrenwall'sche Klinik

Walporzheimerstraße 2

53474 Bad Neuenahr–Ahrweiler

Email: Marius.Poersch@Ehrenwall.de

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Tab. 1 Chronifizierung vs. Stigmatisiereng – Der Versuch eines Begriffsvergleichs aus der aktuellen psychiatrischen Sicht.

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Tab. 2 Eine Auswahl verschiedener Recovery–Faktoren.