PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(4): 319-323
DOI: 10.1055/s-0028-1090056
Standpunkte

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gesundheit und Anti-Aging[1]

Über Risiken und Nebenwirkungen einer neuen ReligionManfred  Lütz
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Publication Date:
11 December 2008 (online)

„… und das höchste Gut ist doch die Gesundheit!” – kaum eine Geburtstagsansprache kommt ohne diesen Satz aus, und doch ist er blanker Unsinn. Niemals in der gesamten philosophischen Tradition des Ostens und des Westens ist etwas so Zerbrechliches wie die Gesundheit der Güter höchstes gewesen. Noch bei Kant war das höchste Gut die Einheit von Heiligkeit und Glückseligkeit oder Gott. Doch heute ist alles anders. Wir leben im Zeitalter der real existierenden Gesundheitsreligion. Alle Üblichkeiten der Altreligionen sind inzwischen im Gesundheitswesen angekommen. Halbgötter in Weiß, Wallfahrten zum Spezialisten, Krankenhäuser als die Kathedralen unserer Zeit, die das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit” erzeugen, das nach Friedrich Schleiermacher Religion charakterisiert. Wir erleben den bruchlosen Übergang von der katholischen Prozessionstradition in die Chefarztvisite. Diätbewegungen gehen als wellenförmige Massenbewegungen über Land, in ihrem Ernst die Büßer- und Geißlerbewegungen des Mittelalters bei Weitem übertreffend. Ein durchschnittlicher Hausarzt kann heute ohne mit der Wimper zu zucken seinen Patienten Pflichten im Stile strengster mittelalterlicher Ordensregeln auferlegen. Und der Patient nimmt solche Bußwerke klaglos auf sich, jeden Misserfolg nicht der eventuell mangelhaften ärztlichen Weisung, sondern der eigenen schuldhaften Inkonsequenz anlastend. Unbewusst, aber umso machtvoller, richtet sich die religiöse Ursehnsucht der Menschen nach ewigem Leben und ewiger Glückseligkeit heute an Medizin und Psychotherapie. Bei Nichterfüllung Klage, versteht sich.

Doch mit solchen Begehrlichkeiten ist das Gesundheitswesen völlig überfordert. Verschärft wird die Lage noch dadurch, dass im Grunde niemand genau weiß, was Gesundheit eigentlich ist. „Völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden” hatte die Weltgesundheitsorganisation einst dekretiert. Wer aber wäre dann noch gesund? Und ein berühmter Internist stellte augenzwinkernd fest, ob jemand gesund sei, das hänge davon ab, wie viele Untersuchungen man mache. Gesund wäre also ein Mensch, der nicht ausreichend untersucht wurde. Damit wird der Gesundheitsbegriff vollends utopisch und alle müssen sich irgendwie krank fühlen. Schon Karl Kraus hatte geunkt, die häufigste Krankheit sei die Diagnose und Aldous Huxley bemerkte: „Die Medizin ist so weit fortgeschritten, dass niemand mehr gesund ist.” Auf diese Weise produziert die Gesundheitsgesellschaft nicht Gesundheit, sondern Unglück.

Die Unerreichbarkeit des Ziels zusammen mit seiner religiösen Verklärung sind der Treibstoff für den gewaltigen und jedes Maß sprengenden Gesundheitsboom unserer Tage. Gesundheit bestimmt das ganze Leben. Staatlich geförderte gesundheitsreligiöse Missionskampagnen überschlagen sich, Bonus-Malus-Systeme der Krankenkassen beruhen auf der unbelegten Behauptung, ungesundes Leben belaste die Solidargemeinschaft, sind in Wirklichkeit aber volkspädagogische Maßnahmen. Man möchte die Deutschen zwingen, gesund zu sein. Es geht um Fitness, Wellness, gesunde Ernährung. Der Slogan „Fit for fun” ist dabei wenigstens ehrlich. Dass Fitness Spaß mache, wird da ausdrücklich gar nicht behauptet. Man will sich vielmehr fit machen, um anschließend Spaß zu haben. Doch die meisten Menschen haben nach Beruf, Familie und Fitnessstress zum Spaß einfach keine Zeit mehr. Was sich im Gesundheitsbereich abspielt, ist anstrengende Realsatire pur.

Es ist Zeit, die Absurdität dieses ganzen Treibens zu entlarven. Doch da sei Gott vor! Genauer gesagt: Der Blasphemieschutz ist inzwischen von den Altreligionen auf die Gesundheitsreligion übergegangen. Über Jesus Christus kann man die albernsten Scherze machen, doch bei der Gesundheit, da hört der Spaß auf. Der Spruch eines Rauchers „Warum soll meine Lunge eigentlich älter werden als ich?” löst bei gesundheitsgläubigem Publikum alle Reaktionen aus, die im Mittelalter auf Gotteslästerung zu erwarten waren. Gesundheit ist die einzige satirefreie Zone in unserer Gesellschaft. Hier herrschen strenge Regeln der political correctness. Als Politiker offen und ehrlich zu sagen, man könne nicht mehr sicherstellen, dass alles medizinisch Mögliche und Sinnvolle für alle getan werde, klänge geradezu irgendwie gotteslästerlich. Warum aber diese Ehrfurcht, warum die Angst, was ist geschehen?

Unmerklich ist die Lebenszeit der Menschen drastisch zusammengeschmolzen. Während der mittelalterliche Mensch seine diesseitige Lebenszeit plus ewiges Leben vor sich hatte, sind die Altreligionen den westlichen Gesellschaften zunehmend abhanden gekommen. Nicht durch ein schlagendes Argument, durch eine brillante intellektuelle Attacke oder durch eine überzeugende Alternative sind Gott und ewiges Leben ins Abseits geraten. Sie sind einfach irgendwie nicht mehr modern. „Man” glaubt so was nicht mehr und hat sich der Einfachheit halber einige Klischees vor allem von Christentum und Kirche zusammengezimmert, die geeignet sind, das eigene Weltbild um die Nierentische von heute sauber zu halten. Das Ergebnis aber ist: Dem heutigen Menschen bleibt nur noch unendlich weniger Lebenszeit übrig: sein begrenztes Leben auf dieser Welt. Doch je mehr man das merkt, desto mehr bricht im Wartesaal des Lebens Unruhe aus. Der Tod ist ausgebrochen im Wartesaal, der endgültige Tod ohne Wenn und Aber. Es hat sich herumgesprochen, dass alle sterben werden an der Vogelgrippe, an BSE, an AIDS, am Leben, ohne Ausnahme und dass kein Zug mehr fährt, noch nicht einmal nach Nirgendwo. Panik herrscht bei vielen, rette sich wer kann. Mit dem ewigen Leben rechnet zwar keiner mehr, aber wenigstens sterben möchte man nicht.

„Gesundheit” heißt das Zauberwort. Man muss etwas tun, um gesund zu bleiben, zu werden, wieder zu werden. Und die Inbrunst, mit der man sich darum bemüht, sich dafür aufopfert und andere dazu animiert, erinnert an Religion. Die Gesundheitsreligion herrscht schichten-, partei- und konfessionsübergreifend in jedem Winkel unserer Gesundheitsgesellschaft. Selbst in den kleinen Raucherreservaten, die es noch gibt, raucht man mit schlechtem Gewissen. Denn auch der Begriff Sünde wird heute eigentlich nur noch gesundheitsreligiös verwendet, zum Beispiel im Zusammenhang mit Sahnetorte. Nur die Gesundheitspäpste können sich jede offensichtliche Unwahrheit erlauben: „Young forever” heißt der Titel eines neueren Gesundheitskatechismus. Das ist glatt gelogen, aber dennoch will es jeder glauben und hat ein verteufelt schlechtes Gewissen, wenn er nicht alles tut, was der Katechismus vorschreibt. Wo früher an Wegekreuzen Marienkapellen standen, da schießen heute Fitnessstudios aus dem Boden, die Gesundheitsseiten in den Journalen schwellen von Jahr zu Jahr an, es mehren sich die Gesundheitssendungen im Fernsehen, die Diäten, die Städtemarathons, die Verehrung von Gesundheitspropheten und Fitnessgurus. Gesundheit genießt maximale religiöse Verehrung.

Das hat allerdings katastrophale politische Folgen. Ein Politiker, der die Absicht hat, auch weiterhin gewählt zu werden, muss Sätze ausstoßen, die dem Sinne nach bedeuten: Wir wollen für die Gesundheit nicht weniger als alles tun. Solche Sätze gehören zum Ritus. Jeder weiß zwar, dass eine solche Maxime, einmal ernstgenommen, zum sofortigen finanziellen Zusammenbruch des Gesundheitssystems führen würde. Maximale Diagnostik und maximale Therapie sind schon jetzt nicht finanzierbar und würden übrigens das Leben zur Hölle machen. Dennoch, die religiöse Aufladung des Gesundheitsbegriffs macht eine sachgerechte öffentliche Diskussion unmöglich. „Alles medizinisch Notwendige für jeden Bundesbürger muss selbstverständlich geschehen”, dieser Satz gehört für jeden Politiker zum Pflichtprogramm. Sobald ein Politiker aber sagen würde, was nach seiner Ansicht „medizinisch notwendig” ist, und infolgedessen, was nicht „medizinisch notwendig” ist, ist er nicht mehr wählbar. Und so steigen die Gesundheitskosten weitgehend ungebremst, die Gesamtausgaben der Krankenkassen haben in diesem Jahr den Bundeshaushalt übertroffen. Nimmt man die Kosten für Fitness, Wellness und sonstige gesundheitsfördernde Maßnahmen hinzu, könnte man auf die Idee kommen, die gesamte Volkswirtschaft sei ein Unternehmen zur Herstellung von etwas, das man nie erreicht, nämlich von Gesundheit. Doch jeder Eingriff in die grenzenlose Expansion des Gesundheitswesens steht letztlich unter Tabu.

Da man dennoch Aktivitäten vorweisen muss, wird in regelmäßigen Abständen der Schwarze Peter den Apothekern, den Ärzten, der Pharmaindustrie, den Krankenkassen oder den Politikern zugeschoben. An den Kern des Problems, die absurde pseudoreligiöse Aufladung des Gesundheitsbegriffs, wagt sich niemand. Selbstverständlich ist eine maximale Kostenersparnis zu erzielen, wenn man Medikamente bei Aldi verkauft, ärztliche Honorare auf Mindestlohnniveau begrenzt, die Pharmaforschung in Deutschland auf Null reduziert, die Krankenkassen auflöst und die Probleme im Gesundheitswesen einfach verbietet, wie es die Ministerin neulich tat. Doch dann hat man keine Medikamentensicherheit, keine Ärzte, keine pharmakologischen Innovationen, keine Mindestabsicherung. Bei den Ärzten hat man die bürokratischen und ökonomischen Daumenschrauben bereits überdreht: Schon jetzt gibt es einen dramatischen Ärztemangel. Und der Ruf der deutschen Pharmaforschung sinkt. Der Verweis auf die üblichen Verdächtigen löst nichts und ist bloß ein Ritual zur Vertuschung der Ratlosigkeit. Fernsehdiskussionen von vor vier Jahren über Gesundheitspolitik sind genauso wenig von aktuellen Diskussionen unterscheidbar wie die dazumal irrtümlich ausgestrahlte ritualisierte Neujahrsansprache von Helmut Kohl aus dem Vorjahr.

Dennoch, das alles liegt nicht an den Politikern, sondern an einer im Gesundheitswahn dahintreibenden Gesundheitsgesellschaft, die die Politik immer wieder zu halsbrecherischen Kapriolen aufs Hochseil scheucht. Jede demokratische Gesellschaft hat die Politiker, die sie verdient, und solange wir in allen Geburtstagsreden von Flensburg bis Passau Gesundheit als „höchstes Gut” preisen, müssen wir uns nicht wundern, dass Gesundheitspolitik seit mindestens 20 Jahren in Deutschland nicht mehr stattfindet. Denn Politik ist die Kunst des Abwägens. Ein höchstes Gut kann man gar nicht abwägen, dafür muss man immer alles tun. So also treibt der gewaltige Ozeanriese Gesundheitswesen dahin und beim Blick auf die Kommandobrücke stellt man fest – dass sie leer ist. Niemand steuert das Gesundheitswesen, solange es niemand wagen kann, in der aufgeheizten gesundheitsreligiösen Atmosphäre auch einmal für wirklich einschränkende Eingriffe zu plädieren. Erst durch tabulose, nüchterne und realistische Abwägung des hohen, freilich nicht höchsten Gutes Gesundheit würde Gesundheitspolitik endlich wieder möglich. Dazu aber bedarf es zunächst einer breiten gesellschaftlichen Debatte.

Eine solche Ernüchterung würde das Ende des salbungsvollen Tons bei Reden über die Gesundheit bedeuten und die Chance für einen realistischen Gesundheitsbegriff: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen” (Friedrich Nietzsche). Das ist viel näher an der alten hippokratischen Tradition der Medizin. Für Hippokrates gab es nicht Krankheit oder Gesundheit, das prägt erst später die platonische Tradition. Für Hippokrates gab es nur den individuellen kranken, leidenden Menschen und jede Diagnose hatte schon nach Aristoteles ausschließlich den Sinn der Therapie für leidende Menschen. Eine Diagnose war kein Wert an sich. Hans Georg Gadamer, Nestor der Philosophie in Deutschland, hat gegen Ende seines langen Lebens ein Büchlein publiziert mit dem Titel „Über die Verborgenheit der Gesundheit”. Und da weist er – von den Griechen her argumentierend – darauf hin, dass für die Griechen Gesundheit ein Geheimnis war, ein Göttergeschenk, das gestört werden konnte durch Krankheiten. Diese Störungen zu beseitigen, das war die Aufgabe der Ärzte, damit sie dann wieder wirken könne, jene geheimnisvolle Kraft der Gesundheit, für die man den Göttern nur danken könne. Die Herstellbarkeit von so etwas wie Gesundheit wäre für ein solches Denken völlig absurd. Und so kann dann vielleicht auch leise der nachdenkliche Satz des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard ans Ohr dringen: „Der Spaß, eines Menschen Leben für einige Jahre zu retten, ist nur Spaß, der Ernst ist: Selig sterben.”

Die Kostensteigerung im Gesundheitswesen hat also letztlich religiöse Gründe. Radikal egoistisch ist diese neue Religion und unsolidarisch. Jeder kämpft verbissen für sich, denn es geht um nicht mehr und nicht weniger als um Leben und Tod. Irrsinnige zynische Kampfparolen schwirren umher: „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.” Das aufbegehrende Volk vor dem Kanzleramt der Republik wird in seiner Not nicht nach Brot rufen, wie dazumal in Versailles, Gesundheit wird es fordern, sofort und für alle.

Jeder Kundige weiß, dass das nicht geht, aber wer sagt es dem Volk? Die Lage ist explosiv, zweifellos. Ängstlich betreibt man Pseudoaktivitäten, erfindet Scheinlösungen für Scheinprobleme, budgetiert, beschuldigt, entschuldigt, kündigt an, weist zurück, mahnt, droht, geht auf die Barrikaden, schießt zurück, tritt zurück. Doch das alles ändert nichts am Ergebnis: Das ewige Leben auf Krankenschein gibt es nicht. Und die Gesundheitsreligion ist definitiv nicht mehr finanzierbar.

Vor 50 Jahren konnten die damaligen medizinischen Errungenschaften vielleicht noch wenigstens annähernd „solidarisch” für alle ermöglicht werden. Bei den rasanten und unvergleichlich kostspieligeren medizinischen Fortschritten unserer Tage ist eine solidarische Bereitstellung des medizinisch Sinnvollen für alle eine Illusion. Natürlich ist dieses Thema voller sozialer Brisanz. Zwar verdrängen die westlichen Industriegesellschaften schon seit Jahrzehnten, dass medizinische Solidarität gegenüber den Menschen der Dritten Welt, die schließlich über die gleiche Menschenwürde verfügen wie wir, nicht stattfindet. Doch ist es eine neue Situation, dass diese Ungerechtigkeit nun inmitten unserer Gesellschaften zunehmend erlebbar sein wird. Man hat sich in über 200-jährigen blutigen Kämpfen und vor allem nach dem Scheitern des kommunistischen Experiments einigermaßen daran gewöhnt, die Ungerechtigkeit zu ertragen, die in den unterschiedlichen Vermögensverhältnissen liegt. Warum kann der faule Millionärssohn in Saus und Braus leben und der fleißige Arbeitersohn muss sich plagen? Diese Frage hat heute an Brisanz verloren. Die Frage aber, warum der Arme weniger medizinische Chancen hat als der Reiche, wird zweifellos der soziale Sprengstoff der kommenden Jahrzehnte sein. Doch noch wird sie durch political correcte Nebelkerzen verdeckt.

Und schließlich „Ganzheitlichkeit”! Allüberall wabert dieser Ausdruck durchs Gesundheitswesen. In keiner Festrede in keinem Krankenhaus darf er fehlen. Ganzheitliche Gesundheit, das ist der absolute Overkill. Auch hier wäre ein Plädoyer für Nüchternheit angebracht. Solange es um eine diagnostische und therapeutische Berücksichtigung der verschiedenen medizinischen Aspekte des Menschen geht, insbesondere auch von psychischen Störungen und körperlichen Leiden, hat eine Sicht aus verschiedenen Perspektiven ihr Gutes. Aber das Ganze, die gesamte ganzheitliche Existenz des Menschen in den Blick zu nehmen, das ist niemals ein wissenschaftlich-medizinisches, wohl aber ein religiöses Unterfangen. Das ganzheitliche Krankenhaus überfordert seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Viele Krankenschwestern sind heute trotz ihrer aufopferungsvollen Arbeit und ihrer hohen Fachkompetenz zutiefst frustriert, weil sie nicht die Zeit haben, die sie glauben für einen „ganzheitlichen” Umgang mit dem Patienten zur Verfügung haben zu müssen, um eine gute Krankenschwester zu sein. Aber Hand aufs Herz: Unsere Krankenhäuser, auch unsere Hausärzte und unser sonstiges Gesundheitswesen können nicht ersetzen, was es in den Familien und andernorts zu wenig an persönlicher Zuwendung gibt. Die Sehnsucht nach ganzheitlicher Zuwendung ist eine religiöse Sehnsucht, die dem Menschen zutiefst innewohnt. Die Medizin hat dazu absolut nichts zu sagen.

Die Gesundheitsreligion ist eine gigantische Anleitung zum Unglücklichsein. Sie suggeriert unerreichbare Utopien und unterhält eine gigantische Industrie, die ihren trügerischen Versprechungen die sehnsüchtigen Massen zutreibt. Wer immer strebend sich bemüht … von nichts kommt nichts … man muss schon etwas tun für die Gesundheit: Mit verbissenem Ernst und ohne jeden Humor, die Todesdrohung im Nacken und schuldgebeugt hetzen die Menschen bei den Städtemarathons durch die Straßen hässlicher Städte, laufen von Arzt zu Arzt und essen unschmackhafte Sättigungsbeilagen zu einem Leben voller Verzicht und Kasteiung. Um den Tod zu vermeiden, nehmen sie sich das Leben, nämlich unwiederholbare Lebenszeit. Es gibt Menschen, die leben von morgens bis abends nur noch vorbeugend, um dann gesund zu sterben. Doch auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot.

Einsam und untröstlich stirbt der Gesundheitsgläubige in seiner kalten Gesundheitsgesellschaft. Denn die Gesundheitsreligion ist radikal egoistisch, sie hat keine gesellschaftlichen Konzepte, mit ihr ist kein Staat zu machen. Während die Hochreligionen Judentum, Christentum und Islam immer auch einen sozialen Aspekt hatten, interessiert sich der Gesundheitsgläubige nur für seine Laborwerte, seine Prognose, seine Zukunft. Das macht die Kämpfe in der Gesundheitspolitik oft so hart und rücksichtslos. Wer stirbt, hat verloren.

Unmerklich, aber umso wirkungsvoller hat die Gesundheitsreligion das Menschenbild unserer Gesellschaft verändert. Wenn der gesunde Mensch der eigentliche Mensch ist, dann ist der chronisch Kranke oder gar der Behinderte ein Mensch zweiter oder dritter Klasse, dem man den Eingang zum Leben fürsorglich verwehrt oder den Ausgang mitfühlend erleichtert. Und so hat die Gesundheitsreligion inzwischen auch schon ihren Fundamentalismus entwickelt.

Der Fundamentalismus der Gesundheitsreligion ist die „Ethik des Heilens”. Die „Ethik des Heilens” ist das Ende der Ethik. Die Ethik war einmal der argumentative kontroverse philosophische Diskurs über Moral. Doch wenn heute jemand „Ethik des Heilens” sagt, ist Ende der Debatte, dann wird es sakral. „Ich weigere mich, einem mukoviszidosekranken Kind zu erklären, aus welchen absurden ethischen Gründen ich ihm nicht helfen soll”, so sinngemäß ein bekannter deutscher Politiker. Weist man aber darauf hin, was die scheinbar so absurden ethischen Gründe sind, dass man einen Menschen am Beginn seiner Existenz – einen Embryo also – opfert, um einen anderen Menschen zu heilen, gilt man als zynisch. Das Ganze wurde damals im Zusammenhang mit der Debatte über embryonale Stammzellen erwähnt und man behauptete damals, über embryonale Stammzellen könne man irgendwann einmal die Parkinson'sche Erkrankung heilen. Das ist zwar aus neurologischer Sicht immer noch eher unwahrscheinlich, aber es war damals ein guter Werbespruch. Wenn wir dennoch einmal für einen Moment davon ausgehen, dass das gelingen würde und man würde morgen Abend im Ersten Deutschen Fernsehen einen Film über eine solche gelungene Heilung senden: Erst Parkinson-Patient, schwer pflegebedürftig, sich kaum bewegen könnend, dann – nach der Therapie – Tennis spielend…. Das wäre das Ende der Debatte über embryonale Stammzellen in Deutschland. Wer heilt, hat recht. Dieser eigentlich gute ärztliche Grundsatz, wird, ethisch genommen, zynisch. Das Menschenbild der „Ethik des Heilens” widerspricht radikal dem Menschenbild des Grundgesetzes, aber es ist inzwischen zweifellos in unserer Gesellschaft mehrheitsfähig.

Was also ist zu tun? Wir brauchen Mut zur Emanzipation! Emanzipation von den totalitären Zumutungen der schwülstigen Gesundheitsreligion. Mut zur Respektlosigkeit vor den Tabus der Gesundheitsgesellschaft, mit Gesundheitsblasphemie wenn nötig, mit Satire, dem bewährten Mittel gegen totalitäre Diktaturen. Gefragt sind nüchterner Atheismus oder seriöse Religiosität und einige kleine Wahrheiten: Dass reiche Menschen immer schon die Möglichkeit hatten, älter zu werden als arme Menschen, dass das auch heute – etwas abgemildert – so ist, und dass das trotz aller Bemühungen so bleiben wird. Dass ein langes Leben nicht unbedingt erfüllter ist als ein kurzes. Dass man lustvoller lebt, wenn man seinen Frieden mit dem Tod macht. Dass Gesundheit ein hohes Gut ist, aber keineswegs das höchste und dass man es daher auch politisch abwägen darf.

Warum kann es nicht sinnvoll sein, auf Kosten der eigenen Gesundheit anderen Menschen zu helfen? Warum kann man nicht für sich auf eine kostspielige Diagnostik und Therapie verzichten, um das dadurch eingesparte Geld für die Ausbildung des Enkelkinds zu spenden? Gewiss, die Notfallmedizin wird man solidarisch finanzieren müssen. Man wird das Unfallopfer auf der Straßenkreuzung nicht nach seinen finanziellen Möglichkeiten und Versicherungsverhältnissen fragen. Aber alles darüber hinaus müsste zur gesellschaftlichen Debatte gestellt werden, ohne Denkverbote. Wie viel Ungerechtigkeit hält die Gesellschaft im Bereich der Gesundheit aus? Darüber muss man politisch streiten – heftig und auch parteiisch. Auf anderen Gebieten wurde oft in jahrhundertelangem Ringen ein erträgliches Maß an Ungerechtigkeit ausgehandelt. Solche Kämpfe stehen bei der Gesundheit erst noch bevor. Oder beginnen sie gerade „und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen” wie Goethe bei der Kanonade von Valmy?

Gegen die Tyrannei der Gesundheitsreligion braucht es revolutionären Elan, eine wahrhaftige Befreiungsbewegung, die den Menschen aus den das ganze Leben erfassenden Pflichten des Gesundheitswahns befreit und ihm wieder Zeit und Kraft für das eigentliche Leben erstreitet. Da wäre auch an interessante Seiten der Altreligionen zu erinnern: Man vergleiche eine sinnesfrohe Wallfahrt nach Kloster Andechs inklusive Weihrauch, Starkbier und Schweinshaxen mit einer gesundheitsreligiösen Wallfahrt zum Spezialisten nach Hannover, wohin man – wegen Blutabnahme – nüchtern kommt und nüchtern und blutleer wieder abfährt. Nichts gegen maßvolle Bemühungen um die Gesundheit, aber es geht auch darum, die Kunst wiederzuentdecken, in den von der Gesundheitsreligion bloß defizitär gesehenen Grenzsituationen menschlicher Existenz, wie Karl Jaspers sie nennt, in den unvermeidlichen Krankheiten, Behinderungen und Leiden eines Lebens, im Alter und sogar im Sterben Quellen des Glücks zu finden.

Behinderung kann auch eine Fähigkeit sein. Manch geistig Behinderter hat mehr echte menschliche Herzlichkeit als wir „Normopathen”. Krankheit kann der Aufruf sein, ein dahinplätscherndes Leben zum eigentlich Wichtigen zu lenken. Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt, jede gute Literatur habe mit Leiden zu tun. Und kein Zweifel, eine Gesellschaft, die die Jugend und nicht das Alter ehrt, ist immer eine unglückliche Gesellschaft, denn da schaut schon der 16-Jährige, wenn er in die Zukunft seines Lebens schaut, ins Dunkel seiner Lebenszukunft. Anti-Aging, wenn es trendy und emphatisch angepriesen wird, ist im Grunde lukrative Volksverdummung. Und wie steht es schließlich mit dem Tod, dem Todfeind der Gesundheitsreligion? Freund Hein nannte ihn liebenswürdig eine weisere Zeit. Denn ein unendliches Leben ohne Tod, das wäre die Hölle. Alles wäre korrigierbar, nichts wäre endgültig und damit wäre alles gleichgültig. Ein solches Leben wäre die totale Langeweile, wahrhaftig, es wäre die Hölle. Nur dadurch, dass wir sterben, wird jeder Moment unseres Lebens unwiederholbar wichtig und kostbar. Die unvermeidlichen Grenzsituationen annehmen, das ist wahre Lebenskunst.

Ein auf diese Weise gelingendes Leben kennt Zeiten der Muße, zweckloser, aber höchst sinnvoller Zeit des Genusses und der Lust am Leben, Zeiten in denen man der Welt im Ganzen zustimmen kann. Und Heinrich Schipperges, der große Arzt und Philosoph aus Heidelberg, hat einmal gesagt: „Um gesund zu sein, muss man der Welt im Ganzen zustimmen.”

1 Die Thesen des Artikels sind näher ausgeführt in seinem Buch „Lebenslust – Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult”.

Weiterführende Literatur

  • 1 Bergdolt K. Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens. München; C. H. Beck 1999
  • 2 Gadamer H-G. Über die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt; Suhrkamp Verlag 1993
  • 3 Hauner A, Reichart E Hrsg. Bodytalk. Der riskante Kult um Körper und Schönheit. München; Deutscher Taschenbuch Verlag 2004
  • 4 Lederhilger S J Hrsg. Gott, Glück und Gesundheit. Erwartungen an ein gelungenes Leben. Frankfurt am Main; Verlag Peter Lang 2005
  • 5 Schipperges H. Die Kranken im Mittelalter. 2. Aufl. München; C. H. Beck 1990
  • 6 Schipperges H. Moderne Medizin im Spiegel der Geschichte. Stuttgart; Georg Thieme Verlag 1970
  • 7 Schumpelick V, Vogel B Hrsg. Grenzen der Gesundheit. Freiburg; Verlag Herder 2004

1 Die Thesen des Artikels sind näher ausgeführt in seinem Buch „Lebenslust – Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult”.

Korrespondenzadresse:

Dr. Manfred Lütz

Alexianer-Krankenhaus Köln, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie

Kölner Straße 64

51149 Köln

Email: m.luetz@alexianer-koeln.de

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