PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(4): 406-411
DOI: 10.1055/s-0028-1090072
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Warum sollten TherapeutInnen etwas über den Körper wissen?

Jürgen  Neuser im Gespräch mit , Volker  Köllner
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Publication Date:
11 December 2008 (online)

In den letzten Jahren hat sich im Bereich der Prüfungen einiges verändert. Junge Kolleginnen und Kollegen werden anders geprüft, als dies der Mehrzahl der PiD-Leserschaft aus ihrem Studium bekannt ist.

Im Medizinstudium heißt das Physikum nun Erster Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, ansonsten hat sich hier nichts Grundlegendes verändert. Die bisherigen Ersten und Zweiten Abschnitte der Ärztlichen Prüfung wurden jedoch abgeschafft. Stattdessen vergeben nun die Universitäten benotete Leistungsnachweise in jedem einzelnen Fach (also auch „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie” sowie „Psychiatrie und Psychotherapie”), die im Abschlusszeugnis aufgeführt werden. Wenn man alle „Scheine” zusammen hat, wird man ohne weitere staatliche Prüfung zum PJ zugelassen.

Nach dem PJ folgt als Abschluss des Studiums der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung. Weil es das gesamte klinische Studium auf einmal abprüft, wird es von den Studierenden auch „Hammerexamen” genannt. Es besteht aus einer zweitägigen mündlich-praktischen Prüfung, zu der auch eine vom Studierenden abzufassende Epikrise über den untersuchten Patienten zählt, und einer schriftlichen MC-Prüfung. Diese umfasst 320 Fragen, geprüft wird bundesweit an drei Tagen über je fünf Stunden. Neu ist hierbei, dass sich mehr als die Hälfte der Fragen auf Fallvignetten beziehen. Damit stehen nicht mehr die Fächer, sondern die Krankheitsbilder und Gesundheitsstörungen im Vordergrund. Auf eine Fallgeschichte folgen jeweils mehrere Fragen, die sich sowohl auf die Pathophysiologie und andere klinisch-theoretische Fächer wie auch auf die Klinik, psychosoziale Aspekte oder Prävention, Rehabilitation und Sozialmedizin beziehen können. Dies bedeutet für die Psychosozialen Fächer einerseits die Chance, durch eine solche Vernetzung verstärkt berücksichtigt zu werden, andererseits aber auch die Gefahr, bei der Formulierung der Fragen außen vor zu bleiben. Es gibt ebenso wenig bestimmte Fragen-Claims für bestimmte Fächer, wie es verbindliche Pflichtstunden pro Fach im Curriculum gibt.

Für die Psychologischen Psychotherapeuten und die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten hat das Psychotherapeutengesetz ebenfalls eine staatliche Prüfung gebracht. Diese wird ebenfalls bundesweit durchgeführt, allerdings nur an einem Tag über zwei Stunden, in denen 80 Fragen beantwortet werden müssen. Zusätzlich zu den bei den Mediziner-Prüfungen üblichen Fragentypen gibt es auch Fragen, die mit der Angabe von Schlüsselbegriffen als Freitext zu beantworten sind.

Zuständig für diese Prüfungen ist das Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) in Mainz. Das IMPP ist auch für die Auswahl und Erstellung der Prüfungsfragen zuständig. Auf seiner Homepage (www.impp.de) sind die Gegenstandskataloge der Prüfungen und Musterfragen öffentlich zugänglich. Sein Direktor, Prof. Dr. Jürgen Neuser, ist Arzt und Diplom-Psychologe mit einer Weiterbildung als Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Um herauszufinden, was ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen über Gesundheit wissen müssen und welche weiteren Neuerungen bei den Prüfungen zu erwarten sind, hat PiD Herrn Prof. Neuser interviewt.

PiD: Das IMPP ist ja seit der Einführung des Psychotherapeutengesetzes auch für die Psychologischen Psychotherapeuten zuständig. Was sollten Psychologische Psychotherapeuten Ihrer Meinung nach über Medizin wissen?

Jürgen Neuser: Hier muss ich vorweg schicken, dass das IMPP nicht die Institution ist, die bestimmt, was Psychologische Psychotherapeuten wissen müssen. Wir sind eine Behörde mit der Aufgabe, die einschlägigen Rechtsvorschriften, die sich auf die Staatsprüfung beziehen, umzusetzen. Dabei haben wir zwar – wie jede Behörde – bei der Umsetzung von Rechtsvorschriften einen Ermessensspielraum. Das IMPP ist aber nicht die Einrichtung, die das Curriculum für die Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten festlegt.

Wer genau legt das fest?

Das sind natürlich zu allererst die Ausbildungsinstitute, die Rechtsvorschriften bestimmen allerdings den Rahmen, in dem sich die Ausbildung bewegen soll. Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung führt als Anlage 1 eine Liste auf, in der zusammengestellt ist, was Gegenstand der Prüfung sein soll. Durch die Festlegung in § 16 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (PsychTh-APrV), dass in der schriftlichen Prüfung Grundkenntnisse geprüft werden sollen, entsteht ein Entscheidungsproblem in der Weise, was noch Prüfungsstoff im Psychologie-Diplom ist und was schon Stoff für den approbierten Psychotherapeuten sein soll; hier liegt ein enger Ermessensspielraum des IMPP, das entscheiden muss, welche Inhalte im Rahmen der Anlage 1 der PsychTh-APrV als Grundkenntnisse gelten sollen. – Ich habe das deshalb vorweggeschickt, weil für die Ausgestaltung des Curriculums, wie gesagt, das IMPP nicht zuständig ist. Aus meinem Amt als Direktor des IMPP heraus würde ich meine Kompetenzen überschreiten, wenn ich dazu Ausführungen machen würde.

Dann frage ich Sie ausdrücklich als Privatperson mit viel Erfahrung auf diesem Gebiet …

Ich denke, dass das Psychotherapeutengesetz die Chance geboten hat, den Psychologischen Psychotherapeuten und den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten im Ensemble der Gesundheitsberufe in Deutschland zu etablieren. Dabei muss man für den Arbeitsalltag voraussetzen können, dass ein Psychologischer Psychotherapeut mit den anderen Gesundheitsberufen kommunizieren kann. Über Pathophysiologie etwa muss ein Psychologischer Psychotherapeut zu diesem Zweck vielleicht nicht so viel wissen, aber er sollte in der Lage sein, einen Arztbrief, der ihm von einem Allgemeinmediziner im Zusammenhang mit der Zuweisung geschickt wird, zu verstehen, ohne jedes einzelne Wort nachschlagen zu müssen. Das sollte meines Erachtens schon deshalb notwendig sein, damit man als Profi in diesem System mitspielen und mitreden kann. Darüber hinaus ist vertieftes medizinisches Wissen für einen Psychologischen Psychotherapeuten möglicherweise eher von untergeordneter Bedeutung, zumal ja auch die Untersuchung der Patienten durch den Allgemeinmediziner oder Facharzt bei der Erstellung des Konsiliarberichts erfolgt.

Vielleicht gibt es über die Kommunikation hinaus zwei Bereiche, in denen medizinisches Wissen relevant ist: zum einen die Differenzialdiagnostik. Die Erfahrung zeigt z. B. bei Angststörungen, dass viele Patienten medizinisch überdiagnostiziert sind, bei anderen aber organische Ursachen der Symptome nicht hinreichend abgeklärt wurden – z. B. bei Frauen mit thorakalen Beschwerden. Sollte ein Psychologischer Psychotherapeut das Wissen haben, um notfalls Diagnostik nachfordern zu können? Der andere Bereich wäre die Prävention von Volkskrankheiten, wie z. B. KHK und Diabetes, wo ja verhaltensbezogene Faktoren eine große Rolle spielen.

Um mit der Prävention zu beginnen, da kann man vielleicht das große Wort von der Volksgesundheit bemühen: Hier kommt dem Psychologischen Psychotherapeuten als Mitglied eines Gesundheitsberufs natürlich auch die Funktion zu, im Rahmen der Volksgesundheit zu wirken. Wenn z. B. jemand während der Psychotherapie einschläft, muss das nicht immer eine Frage von Übertragung oder Abwehr sein, sondern es kann auch ein Diabetes vorliegen. Insofern, da gebe ich Ihnen schon recht, müsste auch ein differenzierteres medizinisches Wissen vorhanden sein. Nur, ob man das von einem Psychologischen Psychotherapeuten im Rahmen der Grundkenntnisse verlangen kann, das steht auf einem anderen Blatt, das glaube ich eher nicht. Ich denke, dass man mit zunehmender Berufserfahrung und durch Weiterbildung lernt, solche Sachverhalte einzuschätzen und zumindest wachsam zu sein, wann man einen ärztlichen Kollegen einbeziehen muss. Wichtig ist hier die Fähigkeit zur Kooperation.

Also eher Kooperation als umfassendes Wissen bei jedem?

Das würde ich so sehen. Das ist ja ein zentrales Merkmal der Spezialisierung im Gesundheitswesen.

Welchen Beitrag können Psychologische Psychotherapeuten im Gesundheitssystem insgesamt leisten? Denken Sie, dass sie ihre Position schon gefunden haben oder sehen Sie Veränderungen für die nächsten Jahre?

Das ist eine sehr komplexe Frage. Es ist Aufgabe der Gesundheitspolitik, festzulegen, welche Funktion der Psychologische Psychotherapeut haben soll. Dies sollte natürlich erst einmal die Versorgungsfunktion für die psychisch Kranken sein. Die aktuellen Statistiken zeigen, dass da ein großer Bedarf besteht und eine starke Zunahme an psychischen Störungen zu verzeichnen ist. Insofern würde ich sagen, dass die primäre Aufgabe des Psychologischen Psychotherapeuten im Gesundheitssystem die psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung ist. Wenn Sie mich fragen, ob da jetzt schon eine endgültige Position gefunden wurde, muss ich passen, vom Feld der Psychologischen Psychotherapeuten in der Praxis bin ich zu weit entfernt. Die kürzlich in der Diskussion vertretene Auffassung mit dem Tenor, man könne gar nicht erkennen, dass die Psychologischen Psychotherapeuten irgendetwas zur Volksgesundheit beitragen würden, ist natürlich eine scheinpräzise Aussage. Man weiß ja nicht, was wäre, wenn es die Psychologischen Psychotherapeuten nicht gäbe. Die (präzisere) Psychotherapieforschung belegt hingegen unzweideutig die Effizienz der Psychotherapie. Es spricht also doch einige Evidenz dafür, dass die Psychotherapeuten einen großen Beitrag leisten.

Wenn man sich die Fragenkataloge des IMPP anschaut, haben Prävention und Rehabilitation sowohl bei den Psychologischen Psychotherapeuten als auch bei den Medizinern eher einen geringen Stellenwert. Ist geplant, diesen Stellenwert zu erhöhen z. B. wenn demnächst ein Präventionsgesetz kommen sollte?

Das Präventionsgesetz ist ja für uns als Prüfungsbehörde nicht maßgebend. Natürlich ist es wichtig, dass wir im Rahmen der Umsetzung der Prüfungsordnungen auch die aktuellen Entwicklungen miteinbeziehen. Um mal ein ganz fachfremdes Beispiel zu nehmen: Wir wissen, dass der Klimawandel auch zu einer Veränderung der Infektionsrisiken durch Krankheiten übertragende Insekten führt, die bisher nur in tropischen Ländern vorkamen. Natürlich müssen das IMPP und die medizinischen Fakultäten diesem Sachverhalt Rechnung tragen und die Lehre und die Prüfungen entsprechend anpassen. Solche Beispiele gibt es auch für den Psychologischen Psychotherapeuten, das ist ja klar.

Prävention ist ein Querschnittsfach im Medizinstudium, das kein eigenständiger Gegenstandsbereich des Staatsexamens ist. Das Staatsexamen ist eine Prüfung, bei der die Aufteilung in Fächer mit Einführung der neuen Approbationsordnung für Ärzte fallen gelassen worden ist. Sie sieht vor, dass das Staatsexamen mit interdisziplinären Fallstudien ausgestattet sein soll. Auch für die Einzelfragen ist die Fachbezogenheit teilweise aufgegeben worden. Wenn Sie jetzt z. B. die Fallstudien betrachten, die im Zweiten Abschnitt eingesetzt werden, dann werden Sie sehen, dass darin doch einiges zu Prävention und Rehabilitation enthalten ist, auch wenn das Fachgebiet Prävention und Rehabilitation nicht explizit als Prüfungsgegenstand aufgeführt ist. Dies ist vor allem dann von Bedeutung, wenn es um ein Krankheitsbild geht, bei dem Prävention und Rehabilitation ein bedeutsames Wissenselement des Examenskandidaten darstellen, z. B. beim Herzinfarkt.

Vielleicht sehe ich das aus meiner Position einseitig, aber eigentlich würden diese fallbezogenen Fragen ja eine hervorragende Möglichkeit bieten, Prävention und Rehabilitation und vor allem auch psychosoziale Aspekte stärker zu berücksichtigen. Unser Eindruck ist aber, dies geschieht in eher geringem Maße.

Das kann ich verstehen, auch wenn überprüft werden müsste, inwieweit der Eindruck wirklich den Tatsachen entspricht. Aber ich unterstelle einmal, dass dem so ist.

Das IMPP hat eine deutliche Kürzung der Fragenzahlen im zweiten Staatsexamen hinnehmen müssen bei gleichzeitiger Ausweitung des Gegenstandes. Wir haben früher in einem ersten Abschnitt des Staatsexamens die klinisch-theoretischen Fächer geprüft. Diese Prüfung ist weggefallen und deshalb mussten große Bereiche wie Pathologie, Mikrobiologie und Pharmakologie mit in den neuen Zweiten Abschnitt integriert werden, und dies bei einer Kürzung der Fragenzahl von 580 auf 320. Das führt notgedrungen dazu, dass die Fächer nicht mehr mit der gleichen Fragenhäufigkeit repräsentiert sein können, wie das früher der Fall war.

Es gibt aber noch einen anderen Grund für variierende Repräsentation einzelner Fächer in der Prüfung: Ich kenne das auch noch aus meiner eigenen Vergangenheit als Prüfungskandidat und Student. Wenn man weiß, dass ein Fach in der Prüfung nur mit einer geringen Fragenzahl vorkommt, führt man intuitiv eine Kosten-Nutzen-Rechnung durch. Wenn diese „ungünstig” ausfällt, lässt man das Fach in der Vorbereitung vielleicht weitgehend aus. Aus diesem Grunde erscheint es uns sinnvoller, bei der geringen Gesamt-Fragenzahl, bei der wir vielleicht fünf Fragen für ein Gebiet zur Verfügung stellen könnten, Examina vorzubereiten, bei denen mal das eine und mal das andere Fachgebiet stärker gewichtet ist, wobei die Auswahl nach dem Zufallsprinzip erfolgt. Wir versuchen so, die Einschätzbarkeit des Nachteils, den man als Prüfungskandidat hätte, wenn man dieses Gebiet in der Prüfungsvorbereitung auslassen würde, zu reduzieren. Sinn eines Staatsexamens muss sein, dass die Studierenden sich in allen vorgegebenen Bereichen angemessen vorbereiten. Dies führte zu einer Runde von Examina, in der tatsächlich relativ wenige Fragen aus dem psychosozialen Feld enthalten waren, aber das wird sich auch wieder ändern. Dafür werden andere Bereiche dann reduziert werden müssen. Mittelfristig halten wir es für erforderlich, dass die Fragenzahl wieder erhöht wird, zumal die Approbationsordnung uns vorschreibt, dass wir ein zuverlässiges Prüfungsergebnis liefern sollen und dazu ist eine angemessene Anzahl an Prüfungsfragen erforderlich.

Da die IMPP-Ergebnisse zunehmend für leistungsorientierte Mittelvergabe herangezogen werden, ist es natürlich auch für die psychosozialen Fächer wichtig, hier angemessen vertreten zu sein.

Ja, natürlich. Das Problem ist aber, dass die Ergebnisse des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung nur dann zuverlässige Daten liefern können, wenn zu den jeweiligen Fächern auch eine hinreichende Zahl an Fragen gestellt wurde. Das IMPP ist deshalb dazu übergegangen, den Fakultäten Zurückhaltung bei der Interpretation der Ergebnisse anzuraten, wenn so weitreichende Konsequenzen damit verknüpft sind.

Wer bestimmt denn, wie die Fragen unter den Fächern aufgeteilt werden? Versucht man da, die Relevanz für die Versorgung der Bevölkerung abzubilden? Was gibt es da für Kriterien?

Nach der alten Approbationsordnung hatte sich im Laufe der Jahre ein Konsens zwischen den Fachvertretern herausgebildet. Das ist nie explizit verhandelt worden. Hier hat das IMPP zunächst Vorgaben gemacht, die in der Diskussion mit den verschiedenen Sachverständigen-Kommissionen zu einem praktikablen Konsens geführt haben.

Das IMPP muss dafür Sorge tragen, dass alle Fächer nach ihrer Bedeutung vertreten sind. Nur, Sie werden es sich denken können, der Nabel der Welt liegt in subjektiver Sicht an ganz unterschiedlichen Stellen und das führt natürlich dazu, dass sich immer irgendwelche Bereiche benachteiligt fühlen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass das Examen im Anschluss an die Fragenauswahl noch wenigstens einer Kommission vorgelegt wird, die die Aufgabe hat, das Examen nach Ausgewogenheit zu beurteilen. Es ist also nicht so, dass wir die Examina ex cathedra festlegen, sondern es handelt sich bei der Erstellung jeder einzelnen Prüfung um einen interaktiven Prozess.

Wird dabei versucht, epidemiologische Häufigkeit abzubilden, denn das ist ja eine schwierige Frage, welche Krankheitsbilder wie relevant sind?

Epidemiologie – was bedeutet das? Ist das die Zahl der Fälle insgesamt, sind es Letalitäts- oder Mortalitätsstatistiken, Inanspruchnahmeziffern oder komplexere epidemiologische Maßzahlen? Man kann sehr viele verschiedene Kriterien heranziehen und wird immer zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. In § 1 der Approbationsordnung für Ärzte ist festgelegt, dass die Ausbildung grundlegende Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten in allen Fächern vermitteln soll, die für eine umfassende Gesundheitsversorgung der Bevölkerung erforderlich sind. Dies sind natürlich auch für uns verbindliche Kriterien. Allerdings enthält diese Umschreibung auslegungsbedürftige Begriffe, die nicht 1 : 1 umzusetzen sind.

Nun wieder eine Frage an Sie als Privatperson mit großer Kompetenz in diesem Bereich: Was sollten Mediziner über Psychologie und Verhaltensmedizin wissen?

Die Prüfung ist der Endpunkt eines Prozesses und nicht der Anfang. Auf der anderen Seite ist mir natürlich auch klar, dass die Prüfung auf die Lehre zurückwirkt.

Es heißt: „The assessment drives the curriculum!” Die Studierenden lernen, was geprüft wird. Auch wenn wir sagen, das ist für die Praxis später wichtig – wenn es nicht geprüft wird, wird es meist nicht gelernt …

Ja, das ist sicherlich ein zutreffender, aber pointierter Satz. Es ist ja nicht so, dass die Prüfungsinhalte völlig losgelöst von den Entwicklungen der Wissenschaft, der Lehre und der publizierten Literatur sein könnten. Wenn ein Prüfer so vorgehen würde, dass er seine Prüfung ohne Rückbezug auf das fachliche und gesellschaftliche Umfeld gestalten würde, dann liefe er Gefahr, keine zuverlässigen Prüfungsergebnisse zu bekommen.

Kann über Prüfungsinhalte die Vernetzung unterschiedlicher Disziplinen oder Berufsgruppen gefördert werden?

Davon bin ich fest überzeugt. Gerade die interdisziplinär angelegten Fallstudien, auf die sich nun ein Großteil der Fragen des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung beziehen, zwingen dazu, einen Fall aus der Perspektive verschiedener Fächer zu betrachten. Ich glaube, das ist der Weg, wie man das Verständnis für ein anderes Denken, für einen anderen Ansatz oder auch für die Sichtweise des Patienten herstellen kann.

Ich gehe davon aus, dass man sich durch die Fallstudien ganz anders auf das Examen vorbereiten muss, als wir das noch getan haben. Zu unserer Zeit hat man eben ein Buch durchgearbeitet und konnte z. B. eine Pharmakologiefrage mit dem so erlangten oder aus dem Unterricht in der Pharmakologie erworbenen Wissen beantworten. Das ist heute nicht mehr so, man muss sein Wissen zu einer Krankheitsgeschichte in Beziehung setzen und hierauf anwenden können. Das ist, glaube ich, eine der wichtigsten Veränderungen des Staatsexamens.

Gibt es denn langfristig die Planung, von reinen MC-Prüfungen wegzukommen und z. B. standardisierte Patienten auch in den staatlichen Prüfungen einzusetzen, so wie das in den USA teilweise geschieht?

Auch in den USA wird, wie in Deutschland, eine zentrale schriftliche Prüfung abgenommen. Die mündliche Prüfung am Krankenbett als Teil des Staatsexamens wird bei uns von den Fakultäten organisiert. Das, denke ich, wird auch in Zukunft so sein. Es ist die Frage, was man mit den verschiedenen Prüfungsmodalitäten eigentlich prüfen will und es ist heute allgemein akzeptiert, dass Wissen zuverlässig und ökonomisch über Multiple-Choice-Prüfungen abgefragt werden kann. Allerdings hat die MC-Prüfung ihre Grenzen da, wo es um praktische Fertigkeiten geht. Wir haben an dieser Stelle aber auch keinen Spielraum, weil die ÄAppO uns auf MC-Prüfungen festlegt (§ 14 I ÄAppO): Es ist z. B. möglich, schriftlich abzufragen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit beim Blutabnehmen die Nadel eingestochen werden kann, aber das Blutabnehmen selbst lässt sich schlechterdings schriftlich nicht prüfen.

Ich gehe davon aus, dass das Abprüfen von Wissen relevant ist für die Qualität der Versorgung der Bevölkerung im Sinne des § 1 der Approbationsordnung für Ärzte. Die Kollegen aus den medizinischen Fakultäten beklagen seit der Abschaffung des „alten” Zweiten Staatsexamens vor dem Praktischen Jahr, dass die Studierenden ein geringeres Wissen haben, wenn sie ins PJ gehen, als das früher der Fall war, als sie vor dem PJ eine Wissensprüfung beim IMPP ablegen mussten.

Bei den Prüfungen für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten setzen wir auch Aufgaben mit Freitextantworten ein. Allerdings war es hier schon so, dass bei 150 Kandidaten 134 verschiedene Antworten gegeben werden. Sie können sich vorstellen, dass das sehr schwer und nur mit einem enorm hohen Aufwand auszuwerten ist und bei einer größeren Zahl an Kandidaten – wie etwa in der Medizin – nicht mehr geleistet werden könnte.

Wie viele Psychologische Psychotherapeuten wurden bisher geprüft?

Wir prüfen jetzt etwa 1 000 Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten pro Jahr. Dies entspricht der früheren Erwartung. Dabei handelt es sich um ca. 250–300 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten jährlich – also etwa 25 % KJP und 75 % PP.

Das war mir gar nicht klar, dass in dieser Prüfung Freitextantworten vorkommen.

Die Fragen sind so gestaltet, dass man sie mit einem Fachbegriff oder mit zwei oder drei Worten beantworten kann. Also keine langen Abhandlungen.

Wie wird die zukünftige Entwicklung der Prüfungen aussehen?

Die zukünftige Entwicklung wird mit hoher Wahrscheinlichkeit so aussehen, dass die Staatsexamina PC-gestützt durchgeführt werden. Daran arbeitet dass IMPP gerade und ist auch schon relativ weit vorangekommen. Wir wollen im kommenden Jahr erste Anwendungstests fahren, davon wird die weitere Planung abhängen. Für die ersten Prüfungen am Computer steht daher noch kein Zeitpunkt fest. Da die Prüfungen für PP und KJP unsere kleinsten Prüfungskohorten umfassen, werden wir aus logistischen Gründen wohl zunächst diese Prüfungen auf den Computer bringen.

Danach werden wir als nächstgrößere Gruppe die Prüfung für die Pharmazeuten umstellen. – Wir haben nicht den Ehrgeiz, von vornherein alle Möglichkeiten des Computers auszunutzen, sondern wir wollen eigentlich zunächst die bisherige Papier-Bleistift-Prüfung computerbasiert durchführen und damit Erfahrungen sammeln. Erst nach und nach sollen auch Features eingeführt werden, die in einer Papier-Bleistift-Prüfung nicht einsetzbar wären. Auch die Kandidaten werden davon einen Vorteil haben, weil es dann möglich sein wird, sehr schnell ein Ergebnis zu erhalten. Das ist gerade für diejenigen, die nach der Approbation sofort in den Beruf gehen wollen, eine Verbesserung. Insofern denken wir, dass wir damit auch den Psychologischen Psychotherapeuten entgegenkommen.

Darüber hinaus gibt es ja die Möglichkeit, die Prüfung praxisnäher und interaktiver zu gestalten, indem man z. B. in die Fragen kleine Filme einbaut statt einer Fallbeschreibung. Ist daran auch gedacht?

Ich würde sagen, mit Papier und Bleistift ist die Prüfung, so wie sie jetzt ist, in der letzten Ausbaustufe angelangt. Viel mehr kann man daran technisch nicht verbessern. Mit der computerbasierten Prüfung hingegen sind wir am Anfang neuer Entwicklungsmöglichkeiten und dazu gehört natürlich auch die Darstellung von bewegten Bildern, von Tönen und Sprachfolgen. Dabei wird sich für die Psychologischen Psychotherapeuten an Inhalt und Gestaltung der Prüfung zunächst aber nicht sehr viel ändern. Natürlich ist es auch so, dass wir unsere Kapazitäten besser ausnutzen wollen. So etwa kann die Ausnutzung der Prüfungssäle bei computergestützten Prüfungen optimiert werden: Wenn wir Psychologen, Apotheker und Mediziner im gleichen Raum prüfen könnten, gäbe uns das die Möglichkeit, die Säle besser auszunutzen. Außerdem vermeidet der Kandidat durch den Einsatz des Computers mögliche Fehler, wie sie jetzt beim Übertragen der Lösungen auf den Antwortbeleg vorkommen können.

Das ist in der Tat eine spannende Entwicklung.

Ja, das sehe ich auch so. Es ist eine Entwicklung, die der gesellschaftlichen Entwicklung entspricht. In allen Lebensbereichen hat sich der Computer als Kulturtechnik etabliert. Für die heutige Generation der Studierenden ist der Umgang damit eine Selbstverständlichkeit.

Wie soll Ihrer Meinung nach ein künftiges Curriculum für die Medizin aussehen und wer schreibt das eigentlich? Müssen wir nicht über die ICD-10 als Gegenstandskatalog hinauskommen? Sie haben sehr viele Erfahrungen mit Prüfungen, wie würden Sie aus Ihrer Sicht ein Curriculum gestalten?

Also zunächst einmal: Warum jetzt ein Auszug aus der ICD-10 als Gegenstandskatalog? Das liegt einfach daran, weil die Approbationsordnung uns vorgibt, dass wir die häufigsten und wichtigsten Erkrankungen und Gesundheitsstörungen zu prüfen haben. Bei der Auswahl der Erkrankungen, die Gegenstand der Prüfung sein können, haben wir nicht die ICD-10 unverändert übernommen. Wir haben vielmehr die Fachvertreter an den deutschen Universitäten seinerzeit gebeten, uns die für ihr Fachgebiet relevantesten zehn Erkrankungen zu nennen. Das Ergebnis haben wir hinterher zusammengestellt. Es ergab sich eine Liste von knapp 1 200 verschiedenen Erkrankungen. Dass die Zahl zu groß sein würde, war uns klar, ich muss jetzt nicht erläutern, warum. Wir haben dann versucht, diese 1 200 Erkrankungen zahlenmäßig auszudünnen. Dabei spielten Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen eine Rolle. Aus der allgemeinmedizinischen Forschung sind zum Beispiel Arbeiten bekannt, die versucht haben, die Krankheitsbilder zu ermitteln, denen ein Allgemeinmediziner in seinem Berufsleben mit einiger Wahrscheinlichkeit begegnen wird. Das ist natürlich ein sehr relevantes Kriterium.

Dann haben wir uns an der Mortalitäts- und Morbiditätsstatistik orientiert. Es gibt Krankheiten mit einer großen Facharztinanspruchnahme, das war zu berücksichtigen. Weiterhin wurden die Daten der Rentenversicherungsträger beigezogen. In diesem Prozess haben wir immer wieder versucht, aus den genannten und weiteren Statistiken Schnittmengen zu bilden. In einem letzten Schritt wurde von uns nach einer Möglichkeit gesucht, wie man das Resultat konsensfähig abbilden kann und nicht einfach als ein Sammelsurium der Erkrankungen auflistet. Dazu hat uns die ICD-10 lediglich einen Bezugsrahmen und ein Ordnungsschema gegeben. Die ICD-10 wäre natürlich insgesamt viel zu umfangreich gewesen, um Grundlage des Gegenstandskatalogs zu sein.

In Bezug auf die Erstellung von Curricula muss man festhalten, dass jede Fakultät für sich auf der Grundlage der Approbationsordnung die Curricula erstellt. Wenn man die verschiedenen Curricula der Universitäten miteinander vergleicht, dann ergibt sich, dass gerade jetzt, nach der Umsetzung der neuen Approbationsordnung, die Unterschiede zwischen den Fakultäten enorm groß geworden sind. Es gibt inhaltliche Schwerpunkte. Genau das war ja auch ein Ziel der Approbationsordnung, dass nämlich die medizinischen Fakultäten die Möglichkeit haben, ein eigenes Gesicht zu schaffen und Alleinstellungsmerkmale zu erarbeiten. Die Fakultäten erstellen also aufgrund eines sehr groben Rahmenplans die Curricula ganz unabhängig vom IMPP.

Es wäre natürlich fatal, wenn das IMPP einen Prüfungskatalog erstellen würde, ohne zu berücksichtigen, was an den Fakultäten gelehrt wird. Es ist allerdings auch schon vor 30–35 Jahren so gewesen, dass die Fakultäten ihre Schwerpunkte gesetzt haben, nur da gab es keinen Konsens, und auch, wenn ich recht informiert bin, kaum ein Gremium, das diesen Konsens hätte herstellen können. Ich meine, es ist ein Verdienst des IMPP, im Laufe der Jahre eine solche Plattform geboten zu haben. Die Tatsache, dass die Sachverständigen zu uns ins IMPP kommen und hier die Prüfungsfragen für ihr Fachgebiet diskutieren, hat ein Forum für inhaltliche Auseinandersetzungen über grundlegende Probleme der Fachgebiete geboten. So wurde nach und nach deutschlandweit ein gewisser Konsens hinsichtlich der Prüfungs- und damit auch der zentralen Lehrinhalte erarbeitet.

Gibt es einen solchen Prozess der Konsensbildung auch bei den Psychologischen Psychotherapeuten? Unsere Leser sind ja sowohl Ärztliche als auch Psychologische Psychotherapeuten …

Auch für die Psychologen existieren Konsensrunden. Wir haben eine große Sachverständigenkommission gemeinsam für die Psychologischen Psychotherapeuten und die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Es gibt eine Schnittmenge von Fragen, die in beiden Bereichen Gegenstand sind und die Kommissionssitzungen werden so gestaltet, dass die Kommissionen sowohl gemeinsam als auch getrennt arbeiten.

Bei den Medizinern werden die Kommissionen ja mit Vertretern der Fakultäten besetzt. Bei den Psychologischen Psychotherapeuten gibt es nun sowohl Aufbaustudiengänge an den Fakultäten als auch private Weiterbildungsinstitute. Sind beide in den Kommissionen vertreten?

Ja, aber mehrheitlich die Fakultäten. Wir werden natürlich immer wieder gefragt, wer die Sachverständigen sind. Das IMPP gibt grundsätzlich die Namen der Mitglieder der Sachverständigenkommissionen nicht bekannt. Das tun wir deshalb nicht, weil wir verhindern wollen, dass auf diese Personen Druck auf diese oder jene Weise ausgeübt wird. Wir geben diese Informationen nicht preis, um unsere Sachverständigen zu schützen. Wenn sich ein Sachverständiger von sich aus „outen” möchte, kann er das allerdings tun. Die PP / KJP-Kommission hat ungefähr ein Dutzend Mitglieder. Und da sind wie gesagt eine ganze Reihe von Vertretern aus den Fakultäten und Ausbildungsinstituten dabei, aber auch Vertreter von den Verbänden. Wichtig ist für uns, dass die Mitglieder der Sachverständigenkommission aktiv in der Ausbildung der Psychotherapeuten tätig sind. Außerdem achten wir darauf, dass sie die fachlichen Inhalte auf präzisem Niveau sprachlich ausdrücken können, z. B. in Lehrbüchern. Das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum eine höhere Zahl der Kommissionsmitglieder von Universitäten kommt: Naturgemäß werden von diesen Personen häufiger Fachbücher verfasst.

Sind es die Kommissionsmitglieder, die die Fragen schreiben?

Ja. Die Sachverständigen formulieren sogenannte Rohfragenentwürfe und reichen diese bei uns ein. Die weitere Bearbeitung durch die Mitarbeiter des IMPP erfolgt in der Weise, dass sie erstens formal an die Standards des IMPP und zweitens sprachlich angepasst werden. Die im IMPP beschäftigten Referenten haben mit der Zeit eine Antenne dafür entwickelt, wo Begriffe doppeldeutig sind oder missverständliche Formulierungen vorliegen. Und schließlich, das ist auch eine Aufgabe der Referenten, müssen die Rohfragen mit den gängigen Lehrbüchern und Übersichtsarbeiten abgeglichen werden. Das ist sehr aufwendig, z. B. müssen zu einer Fallstudie und den einzelnen hieraus abgeleiteten Aussagen und Antwortmöglichkeiten zwischen 1 200 und 2 000 Literaturstellen geprüft werden. Wenn in einem der Standardwerke entsprechende Passagen aktualisiert werden, müssen wir in der Folge auch unsere Fragestellungen entsprechend umarbeiten. Im Übrigen ist natürlich darauf zu achten, dass sich zu unseren Fragen aus den gängigen wissenschaftlichen Lehrbüchern keine abweichenden Antworten ergeben.

Ich kann mir vorstellen, dass das gerade bei den Psychologischen Psychotherapeuten, wo es zwei Grundorientierungen gibt, nicht einfach ist. Wie lösen Sie das Problem?

Wir haben kaum Fragen, die sowohl psychoanalytische als auch verhaltenstherapeutische Inhalte hätten.

Gibt es zwei Arten von Prüfungen?

Nein. Die gibt es deshalb nicht, weil das Gesetz es nicht vorsieht. Das Gesetz schreibt ein gemeinsames schriftliches Staatsexamen unabhängig von der Grundorientierung vor. Ich finde das auch sinnvoll, da ja Grundkenntnisse abgefragt werden sollen. Raum für spezifische Details, etwa auch zur Behandlungstechnik, gibt es im mündlichen Teil des Staatsexamens.

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