psychoneuro 2008; 34(9): 395
DOI: 10.1055/s-0028-1091307
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81. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) - Off-Label-Use in der Neurologie

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19 November 2008 (online)

 
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Noch immer wird ein erheblicher Teil aller Medikamente trotz guter Wirksamkeit in einer rechtlichen Grauzone verschrieben. Dieser sogenannte Off-Label-Use kann Kassenpatienten jedoch finanziell erheblich belasten und Ärzte für kunstgerechtes Verhalten mit Haftungsrisiken bestrafen. Dem Gebrauch von Arzneimitteln außerhalb ihrer eigentlichen Zulassung wurde deshalb auf dem Jahreskongress DGN in Hamburg erstmals ein komplettes Symposium gewidmet. "Ziel ist es, unseren Patienten auch unter diesen erschwerten Umständen wissenschaftlich bewiesene Behandlungswege zu erschließen und die Neurologen rechtlich abzusichern", erläuterte Kongresspräsident Prof. Günther Deuschl, Kiel.

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Ein Urteil mit Folgen

"... die Verschreibung und Anwendung von Medikamenten, die für eine bestimmte Krankheit oder Bedingung keine Zulassung haben, zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ist grundsätzlich ausgeschlossen …" Die Folgen dieses Urteils des Bundessozialgerichts vom 19. März 2002 erschweren Neurologen, aber auch Pädiatern und Onkologen die Berufsausübung noch heute. Ob Epilepsien oder Neuropathien, Migräne oder Multiple Sklerose, der Cluster-Kopfschmerz oder die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Erwachsenen: Es gibt Dutzende von Beispielen dafür, dass Neurologen aufgrund nachgewiesener Wirksamkeit wirksame Medikamente verordnen und deren Kosten aufgrund des obigen Urteils nicht erstattet werden dürfen. "Es ist schwer nachvollziehbar, dass der Neurologe mit Regressen bedroht wird, wenn er Medikamente leitlinienkonform einsetzt."

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Korrekturen zeigen Wirkung

Zwei Jahre sind vergangen, seit der Gesetzgeber das Problem erkannt und durch einen Erlass des Bundesministeriums für Gesundheit den Off-Label-Use neu geregelt hat. Seine Umsetzung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), das Gremium der Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen, hat mittlerweile erste positive Veränderungen gebracht, bilanziert Prof. Hans-Christoph Diener, Essen. Auch beim Off-Label-Use dürfen Medikamente nun zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verschrieben werden, wenn 3 Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Eine Off-Label-Expertengruppe des jeweiligen Fachbereichs, die beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte angesiedelt ist, gibt auf der Grundlage von Gutachten und Anhörungen eine positive Empfehlung ab.

  • Das herstellende Unternehmen gibt seine Zustimmung zum Off-Label-Gebrauch.

  • Das betreffende Arzneimittel mit seiner Off-Label-Indikation wird durch den G-BA veröffentlicht und ist ab diesem Zeitpunkt erstattungsfähig.

"Für uns Ärzte ist dies eine bedeutsame Neuerung, weil wir aus einer haftungsrechtlichen Grauzone herauskommen", so Diener, der selbst Mitglied in der Off-Label-Expertengruppe Neurologie und Psychiatrie ist. Wichtiger noch sei es, dass die Patienten die umstrittenen Medikamente nicht mehr selbst zahlen müssen.

Bis zu 12 000 Euro pro Therapiezyklus kosten z. B. intravenöse Immunglobuline, die bei der Multiplen Sklerose (MS), der chronisch-inflammatorisch demyelisierenden Polyneuropathie (CIDP), der multifokalen motorischen Neuropathie (MMN), bei Myastenia gravis, Polymyositis und bei der Dermatomyositis zum Einsatz kommen. Neben den Immunglobulinen beschäftigt sich die Expertengruppe derzeit auch mit der Anwendung von Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter, mit Verapamil zur Prophylaxe des Clusterkopfschmerzes, mit Amantadin bei Fatigue und Gabapentin bei Spastiken im Rahmen einer MS, sowie mit Valproinsäure zur Migräneprophylaxe.

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Anträge von Patientenorganisationen haben besonderes Gewicht

Dabei steht die Valproinsäure exemplarisch für den Großteil der Off-Label-Anwendungen in der Neurologie. Ursprünglich als Antiepileptikum entwickelt, wurde die Substanz in mehreren placebokontrollierten Studien zur Migräneprophylaxe untersucht, hat sich dabei als wirksam erwiesen und wurde in den USA in dieser Indikation auch zugelassen. Als jedoch einige Jahre später das Zulassungsverfahren in Deutschland eröffnet werden sollte, war der Patentschutz gerade abgelaufen. Wegen der zu erwartenden Konkurrenz durch die Hersteller von Generika und den hohen Kosten für klinischen Studien, die Voraussetzung sind für eine reguläre Zulassung, erlosch das Interesse der ursprünglichen Patentinhaber. Die Anträge zum Off-Label-Use kommen deshalb sowohl von Ärzteorganisationen als auch von Selbsthilfegruppen, auf die der G-BA recht sensibel reagiert.

"Die Situation wird sich ganz deutlich bessern, wenn die anstehenden Einzelfälle abgearbeitet sind", so Diener. Gleichzeitig stellt der Neurologe klar, dass die neue Vorgehensweise keineswegs eine Hintertür für die Erstattung fragwürdiger Medikamente darstellt. Es müssen für jeden einzelnen Fall Gutachten eingeholt werden, die von den jeweiligen Sachverständigen zusätzlich in einer mündlichen Anhörung zu vertreten sind. Zudem müssen die Mitglieder der Ausschüsse die gesamte Literatur lesen, die es dazu gibt. "Das Verfahren stellt sicher, dass nur diejenigen Substanzen für den Off-Label-Use freigegeben werden, für die auch eine hinreichende medizinische Evidenz zur Wirksamkeit vorhanden ist", bilanziert Diener.

Quelle: Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie e. V. vom 12. September 2008