Z Sex Forsch 2009; 22(1): 67-69
DOI: 10.1055/s-0028-1098835
Kommentar

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Nicht alles kann offen bleiben

Anmerkung zu Sibylle Schlich-Dannenbergs FallberichtBirgit Möller und, Insa Härtel
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Publication Date:
24 March 2009 (online)

Die Falldarstellung greift das wichtige und in deutschsprachigen Veröffentlichungen selten dargestellte Thema der psychoanalytischen Behandlung von Kindern mit so genannten Geschlechtsidentitätsstörungen bzw. Variationen in der Geschlechtsidentitätsentwicklung auf. Die Komplexität dieses Themas spiegelt sich bereits bei der Diagnose einer Geschlechtsidentitätsstörung wider, die u. a. als Vorstellungsanlass benannt wird, aber nach Meinung der Therapeutin nicht behandelt werden soll. Dieser Widerspruch lässt erkennen, in welchem Spannungsfeld unbewusster individueller und gesellschaftlicher Prozesse sich die Therapeutin bewegt. Sie ringt um eine offene Haltung, will die Ursachen einerseits nicht ergründen, kann sich der professionellen Nomenklatur sowie individueller und ­gesellschaftlicher Vorannahmen andererseits, wie der Titel deutlich macht, nicht entziehen.

Damit stellt sich die Frage, ob es möglich ist, sich einer expliziten Aus­einandersetzung mit der so genannten Geschlechtsidentitätsstörung in der Behandlung zu enthalten. Handelt es sich bei diesem Phänomen um eine behandlungsbedürftige Störung oder eine Variation der vielfältigen Ausdrucksformen von Geschlechtsidentität? Fungiert die Geschlechtsidentität des Jungen als Projektionsfläche für andere unbewusste Konflikte? Welche gesellschaftlichen Annahmen fließen in die Betrachtung ein und wie kann damit klinisch umgegangen werden? Aufgrund der Komplexität des Themas erscheint es sinnvoll, einige der verschiedenen Ebenen als unterschiedliche Lesarten, die miteinander in Beziehung stehen, aufzuzeigen.

Zunächst ein paar Gedanken zur klinischen Einordnung: Eine Annahme der Autorin ist, dass Fritz in frühen Jahren durch Unsicherheiten in der ­Beziehung zur Mutter und Zurückweisung durch diese mit Vernichtungs- und Trennungsängsten reagiert hat, die dazu geführt haben könnten, dass er sich in eine Phantasiewelt der Ungetrenntheit und symbiotischen Verschmelzung (Meer) zurückzog und depressiv wurde. Die Geburt der Schwester könnte die Trennungsängste und Gefühle der Zurückweisung noch verstärkt haben. Darüber hinaus könnte Fritz als Abwehr der Trennungsängste die Wunschfantasie entwickelt haben, Mutter bzw. Frau zu sein anstatt mit der Mutter sein zu wollen (vgl. Coates 1985, 1991, 2006). Die negativen Erfahrungen und Gewalterlebnisse der Mutter in der Beziehung zu ihrem ersten Ehemann könnten bei Fritz ferner dazu geführt ­haben, seiner Mutter unbewusst zu versichern, kein typischer, möglicherweise gewaltvoller, Mann zu werden, den die Mutter fürchtete.

Klinische Untersuchungen (Green 1987) haben gezeigt, dass 60 % bis 70 % der Jungen, die in ihrer Kindheit „feminine“ Verhaltensweisen zeigen oder angeben, ein Mädchen sein zu wollen, dieses Verhalten bzw. diese Gefühle in späteren Jahren aufgeben und homosexuell werden. Dementsprechend fordert eine zunehmende Zahl von Experten, die Diagnose aus den Klassifikationssystemen zu streichen, da diese die Betroffenen spezifisch pathologisiert. Die Reaktionen und Einordnungen hinsichtlich der Entwicklung von später häufig homosexuell werdenden Kindern (wie vielleicht bei Fritz) könnten vor diesem Hintergrund wiederum auch als Ausdruck einer latenten Angst vor Homosexualität verstanden werden, die durch die Konzentration auf die Geschlechtsidentität möglicherweise abgewehrt wird. Neben der darin liegenden gesellschaftlichen Dimension lassen sich im Fall von Fritz dann – neben einer Störung in der frühen Mutter-Kind-Beziehung – auch Schwierigkeiten und Ängste im Rahmen eines ödipalen Begehrens (und der Schwierigkeiten der Eltern, damit umzugehen) vorstellen. Ist der Vater das Objekt der Begierde, so würde die Mutter potenziell auch als Konkurrentin wahrgenommen: die Angst vor Zurückweisung wäre ohne den Dritten – den Vater – nicht zu denken.

Das in der Vignette dargestellte Beziehungsgeflecht zwischen Therapeutin und Jungen, in dem es funkt, in dem u. a. Lockungen, Verzückungen, Ahnungen eine Rolle spielen, lässt nach dem Begehren der Behandlerin, welches notwendig mit im Spiel ist, fragen. Gleichlaufend wird auch der Lesende „verführt“ und durch die Textgestalt in eine faszinierende, teils idealisiert wirkende andere Welt gezogen: Das Märchenhafte kennzeichnet nicht nur die Welt des Jungen, sondern inszeniert sich auch in der Darstellungsform: etwa in Formen der Andeutung, in begrifflich polaren Gegenüberstellungen (dies betrifft schließlich auch recht unhinterfragte kulturelle Vorstellungen von männlich und weiblich) – oder in Gestalt einer Narration, die eine Entwicklung vom „Anderssein“, über dramatische wie verzaubernde Situationen, Prüfungen, Unordnung bis hin zur Ablösung oder Aufbruch umfasst und schließlich zu einem gutem Ende tendiert.

Werden also schillernden Aspekte der geschilderten Phänomene in ­Beziehungsgestaltung und Art des Aussagens aufgenommen, dann entspricht das durchaus einem psychoanalytischen Vorgehen: In einem solchen sehen sich auch die Therapeut/innen der Dynamik der Situation zunächst aus­gesetzt, die sie selbst verändern wird (vgl. Knellessen 2001); ebenso ist das Erkennen und Theoretisieren hier von seinen Objekten angesteckt (vgl. Schneider 2001). Gerade dies ermöglicht andere als „immun­geschützte“ (vgl. ebd.) Einsichten in die jeweiligen Prozesse.

Allein das zu einem solchen Vorgehen notwendig dazugehörende ­Moment der Reflexion oder Deutung eben dieser Bezugnahmen – ein distanzierendes Moment, das mit der Ähnlichkeit bricht, um nicht in dieser aufzugehen – scheint der sensiblen Fallvignette bisweilen zu mangeln. Und damit mangelt ein Mangel selbst: Durchaus in Differenz zu dem, was der Schluss des Textes verspricht, könnte das heißen: Eben nicht alles kann ­offen bleiben.

Literatur

  • 1 Coates S. Extreme boyhood femininity: Overview and new research findings. In: De Freis Z, Friedman RC, Corn R, Hrsg. Sexuality: New perspectives. Westport: Greenwood; 1985: 101–204
  • 2 Coates S, Friedman R C, Wolfe S. The etiology of boyhood gender identity disorder: A model for integrating temperament, development, and psychodynamics.  Psychoanal Dialog. 1991;  1 481-523
  • 3 Coates S. Developmental Research on Childhood Identity Disorder. In: Fonagy P, Drause R, Leuzinger-Bohleber M, Hrsg. Identity, Gender and Sexuality 150 years after Freud. London: Controversies in psychoanalysis series; 2006: 103–131
  • 4 Green R. The “Sissy Boy Syndrome” and the development of homosexuality. New Haven, Conn.: Yale University Press; 1987
  • 5 Knellessen O. Sexuelle Übergriffe in Psychoanalyse und Psychotherapie. Ein Austausch zwischen André Karger, Gertrud Lettau, Christoph Weismüller und Olaf Knellessen (darin: O. Knellessen). In: Karger A, Lettau G, Weismüller Ch, Knellessen O, Hrsg. Sexuelle Übergriffe in Psychoanalyse und Psychotherapie. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht; 2001: 5–15
  • 6 Schneider P. Erhinken und erfliegen. Psychoanalytische Zweifel an der Vernunft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2001

Dr. phil. B. Möller

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes und Jugendalters · Zentrum für Psychosoziale Medizin · Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: bmoeller@uke.uni-hamburg.de

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