Balint Journal 2009; 10(2): 59-60
DOI: 10.1055/s-0028-1098875
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Balintpraxis statt Empathietheorien

Offener BriefOpen Letter: Practical Balint Work and the Theory of EmpathyW. König
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Publication Date:
10 June 2009 (online)

Lieber Herr Egli,

für Ihre Stellungnahme zu meiner Überarbeitung des Buches über die Balintgruppenleitung von Werner Stucke, das ich Ihnen bei Erscheinen ­zusandte, danke ich Ihnen.

Für diese Stellungnahme wählten Sie einen öffentlichen Vortrag, der danach im Balint-Journal erschien. Deshalb möchte ich Ihnen auch öffentlich antworten.

Für das Verständnis der Balintarbeit stellen Sie eine „Simulationstheorie“ einer „Theory theory of mind“ der Empathie gegenüber und schreiben: „Sich vorstellen zu können, was andere denken, wird als Theory of mind bezeichnet. Es gibt verschiedene Erklärungen dieser Fähigkeit. Die eine Erklärung kann man als Theory theory of mind bezeichnen. Sie nimmt an, dass wir dazu theoretisches Wissen und mentale Logik benutzen.“

Leider machen Sie keine Angaben dazu, wer so ­etwas vertritt. Ich jedenfalls nicht.

Ich zweifle, dass das empathische Erleben von theoretischen Annahmen über die Empathie ­abhängt und dass es uns weiterbringt, wenn wir Unterschiede in unserer Balintarbeit verstehen wollen, sie in unterschiedlichen Theorien zur ­Empathie zu suchen.

Vermutlich unterscheiden wir uns aber in Bezug auf die Balintarbeit in dem, was dem empathischen Erleben folgt, was den weiteren Umgang mit ihm ausmacht. Das hat dann aber nichts mehr mit der Entstehung des empathischen ­Erlebens zu tun, auf das sich Ihre beiden Theorien ­beziehen.

Sie scheinen mehr dazu zu tendieren, sich auch als Leiter dem Erleben der Gruppe zu überlassen, am gemeinsamen Erleben teilzuhaben, während ich mehr dafür plädiere, es zum Verständnis des Falles zu nutzen. Dazu habe ich keine „Theorie“. Sie setzen die Hypothese einer Theorie gleich. Die Hypothese ist doch lediglich die Vorstellung des empathisch Aufgenommenen.

Danach setzt allerdings das Reflektieren darüber ein, wie diese emotionalen Erfahrungen – und das gilt für alle folgenden Beiträge der Gruppe und die emotionale Reaktion des Leiters – für das Verständnis des vom Referenten aufgeworfenen Problems genutzt werden können. Hier setzt metho­dische Gruppenarbeit ein, in die Kennt­nisse und Erfahrungen eingehen, die aber etwas viel Diffizileres ist als „intellektuelle Anstrengung“. Es geht um ein Wechselspiel vorwiegend von Erspüren und Phantasieren, hauptsächlich aber Identifizieren im Abgleich mit Erfahrun­gen. Angestrengtes Nachdenken hat hier keinen Platz.

Aber dass Sie diesen Ausdruck gebrauchen, gibt mir doch zu denken, ob ich mich in dem Buch richtig verständlich machen konnte. Ähnlich geht es mir mit ihrer Behauptung, ich würde großes Gewicht auf die Strukturierung legen. Ich meine, immer nur betont zu haben, dass sich der Leiter ständig zwischen Strukturieren und Gewähren bewegt und hoffe, mich immer so geäußert zu ­haben, dass keine Wertung zwischen beiden ­Polen vorgenommen wird.

Eingehen muss ich auch darauf, dass Sie meine kritische Haltung zur Co-Therapie mit einer starren Handhabung von Hypothesen begründen. Auf S. 89 meines Buches, auf die Sie sich im Artikel beziehen heißt es: „Leiter und Co.-Leiter müssen voneinander wissen, dass sie Ähnliches phantasieren oder sie müssen sich während der Gruppe austauschen und verständigen; das bedeutet ein Niveau, dass schwer zu erreichen ist.“ Dass in ­einer der beiden von Ihnen berichteten Gruppen der Leiter starr an einer Hypothese gehangen hat, mag ja stimmen. Aber in beiden geschilderten Situa­tionen war keine Verständigung zwischen den Leitern möglich. Die Leiter waren nicht ­imstande, in dieser Situation zu kooperieren. Vermutlich kannten sie sich in ihrer Balintarbeit zu wenig und haben sich vielleicht nicht einmal vor der Sitzung über ihre Zusammenarbeit und den Umgang mit dabei evtl. auftretenden Schwierigkeiten abgesprochen.

Worin wir uns vermutlich im Umgang mit dem empathisch Aufgenommenen deutlich unterscheiden: Ich meine, es ist meistens nachteilig, wenn der Gruppenleiter sein Verhalten von unreflektierten Emotionen bestimmen lässt, d. h. unbewusst mitagiert. Nachteilig deshalb, weil in dem Mitschwingen auch das Ausweichen vor schwierigen Themen enthalten ist, die die Gruppe zu bearbeiten nur imstande ist, wenn der Leiter ihre Angst vor dem Thema nicht teilt.

Balintleiter sind sich einig darüber, dass eine wichtige Aufgabe der Leitung auch der Schutz des Referenten ist. Wenn man sich fragt, was das heißt, so kann das doch nur Schutz vor Angriffen, Kritiken oder Kränkungen durch die Gruppe sein. Tritt eine solche Situation ein, so kann der Leiter diese negativen Affekte zu unterdrücken versuchen, was kaum viel helfen wird, aber mit Sicher­heit einer produktiven Arbeit der Gruppe ein jähes Ende setzt. Der Schutz des Referenten kann wirksam nur erfolgen, wenn die Situation durchgearbeitet und verstanden werden kann. Auch das verlangt vom Leiter, dass er die Psychodynamik des Ablaufs übersieht und nicht in sie involviert ist. Schwingt er mit der Gruppe mit, kann er beispielsweise die Aggression gegen­über dem Referenten unbewusst genießen und auf der ­bewussten Ebene als berechtigte Kritik interpretieren.

Lieber Herr Egli,

wie Sie merken, sehe ich das strittige Thema nicht bei der Theorie der Empathie, sondern darin, wie mit dem empathisch Aufgenommenen umgegangen wird. Es wird heute niemand bezweifeln, dass Empathie eine entscheidende Grundlage der Balint­arbeit und die Spiegelneurone wichtiger Teil der zugrunde ­liegenden Neurobiologie sind.

Ich bezweifle aber, dass die an sich zu begrüßende weitere theoretische Durchdringung der Empathie wesentlich dazu beitragen kann, in den praktischen Problemen, mit denen wir uns in der Balintarbeit herumschlagen und in der Klärung unterschied­licher methodischer Standpunkte weiterzukommen.

Der 2. Teil Ihres Beitrages mit der Seminarbeschreibung war für mich sehr interessant, weil mich dieses Thema schon lange fasziniert, angefangen mit der Beschreibung eines Leiterseminars vor zwanzig Jahren (Die Balintgruppe in Klinik und Praxis, Springer 1989). Wir haben damals als dreiköpfige Leitergruppe in dem von vielen Einflüssen determinierten und von vornherein als schwierig zu erwartenden Seminar von Gruppensitzung zu Gruppensitzung die Psychodynamik zu erfassen versucht und Erwar­tungen geäußert, die aus der Einschätzung der latenten Gruppenproblematik resultierten. Wir haben erlebt, dass z. B. ­unsere Prognosen, wer als Nächster leiten und vorstellen wird, in weit mehr als der Hälfte der Gruppen zutrafen. Das war eine nachhaltige Erfahrung, die mich gelehrt hat, dass die Dynamik solcher Abläufe erfassbar ist und dass sich an solchen Prognosen am besten prüfen lässt wie weit die Einschätzung zutreffend ist. Die gute Erfassung der Psychodynamik ist schließlich der Schlüssel zu den Problemen der Gruppe.

An dieser Seminarbeschreibung war damals auch Herr Scheerer beteiligt und hat sich seit dem immer wieder mit diesem Thema beschäftigt. Ich kann keine entscheidenden Unterschiede unserer Erfahrungen zu ihrer Darstellung erkennen, allenfalls dass wir vielleicht mehr dazu neigen, die verschiedenen Hintergrund­folien eines solchen Verlaufes möglichst bald transparent werden zu lassen um zu begreifen, wodurch die Motivation des Referenten, seine Fallauswahl, die Bearbeitung durch die Gruppe sowie der Gesamtverlauf des Seminars möglicherweise mitbedingt sind.

Die Unterstellung einer Theory theory of mind, was immer ­das auch sei, lässt Sie wahrscheinlich größere Unterschiede ­erwarten, als meiner Meinung nach da sind, weil die Unterstellung eben nicht zutrifft. Aber interessieren würde mich schon, was diese Theorie nun wirklich beinhaltet und von wem sie stammt.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch einige Sätze aus der Einleitung zum Teil II zitieren:

„Mir leuchtet im Anschluss an die Lektüre von ‚On becomeing ­aware‘ ein, in jeder Balintsitzung einerseits die Haltung anzustreben, ganz bei dem zu sein, was ist, bei der Geschichte, die prä­sentiert wird, sich möglichst in sie hineinzuversetzen, mit allen ­Gedanken und Gefühlen, die dabei aufkommen. Und andrerseits die andere Haltung anzustreben, Distanz zu wahren, uns bei diesem Geschehen zuzuschauen. Es wird dann möglich, das Geschehen in Worte zu fassen, die Gedanken auszutauschen und zu verstehen als Aspekte der Geschichte.“

Ich finde, das haben Sie treffend beschrieben. Das könnte als Motto über meinem Buch stehen.

Mit herzlichen Grüßen
Werner König

Prof. Dr. med. W. König

Sewanstr. 130

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Email: h-w.koenig@t-online.de

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