Psychiatr Prax 2008; 35(8): 412-413
DOI: 10.1055/s-0028-1104639
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Media Screen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Therapeutische Arbeit mit Halluzinationen

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Publikationsdatum:
18. November 2008 (online)

 

Als 1997 "Stimmenhören akzeptieren" von Marius Romme und Sandra Escher auf Deutsch erschien, verfasste ich eine ziemlich enthusiastische Besprechung über dieses Buch. Es basierte letztlich auf einer sehr guten, bereits 1989 in Schizophrenia Bulletin erschienenen Arbeit, in der überzeugend der Nachweis erbracht worden war (u.a. mit Personen, die über eine niederländische Fernsehsendung rekrutiert worden waren), dass viele Menschen Stimmen hören, ohne deswegen schizophren erkrankt sein zu müssen, nicht wenige gar, ohne überhaupt sonstige Zeichen einer psychischen Störung aufzuweisen. Das für Fachleute, Angehörige und Betroffene gleichermaßen geschriebene Buch war eine wirkliche Bereicherung und ich habe es sowohl Kollegen als auch Patienten und Angehörigen gelegentlich zum Lesen gegeben und erhielt positive Rückmeldungen. Nun ist das Buch "Stimmenhören verstehen" von denselben Autoren erschienen, das bereits in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Seit dem ersten Buch hat sich manches weiterentwickelt, u.a. auch die Beschäftigung der Autoren mit dem Thema. Wichtige Inhalte dieses Buches waren bereits in dem ersten Buch zu lesen, sind mittlerweile aber auch fester Bestand psychiatrischen Wissens geworden - so etwa die Bedeutung von Trauma und Dissoziation und die Erkenntnis, dass Stimmenhören nicht nur ein psychotisches, sondern auch ein dissoziatives Phänomen sein kann, welches klare Bezüge zu einer (meist traumatischen) Vorgeschichte im Leben aufweist. Vieles, was in diesem Buch steht, ist auch weiter für viele Betroffene sicher sehr hilfreich und kann helfen, das Coping mit halluzinatorischen Erlebnissen zu verbessern. Trotzdem werde ich dieses Buch, anders als das erste, wohl nicht als Lektüreempfehlung an Kollegen, Angehörige und Patienten aushändigen.

So gut und wichtig die Erkenntnisse der Autoren sind, sie haben sie nun leider nicht in die Psychiatrie integriert, sondern sie konzipieren einen Gegenentwurf zur Psychiatrie und grenzen sich damit gegenüber einem Feindbild ab, das so längst nicht mehr stimmig ist. Das Feindbild ist die sogenannte "klinische Psychiatrie", die sich wie immer dadurch auszeichnet, dass ihre Protagonisten nur in einem fort Neuroleptika verordnen wollen. Den eigenen Ansatz bezeichnen die Autoren dagegen als "sozialpsychiatrisches Modell", mit einer doch sehr eigenen Definition: "Nach sozialpsychiatrischem Verständnis drückt eine Erkrankung die Unfähigkeit einer Person aus, in einer Gesellschaft zu funktionieren. Sollte die Person nicht in der Lage sein, ihr sozial-emotionales Problem zu akzeptieren oder eine Lösung dafür zu finden, kann das psychische Problem, etwa die Halluzination, als Hauptproblem verstanden werden. Als Teil einer Umschichtung ersetzt das psychische Problem, z.B. das Stimmenhören, das ursprüngliche sozial-emotionale Problem und mystifiziert damit gleichzeitig dieses Problem." Es folgen die bekannten Ausführungen zur medizinischen Etikettierung, und manche Ausführungen klingen dann doch sehr nach Labeling-Theorie, Antipsychiatrie und Autoren wie Laing und Szasz. Das Buch ist in den Inhalten sehr heterogen im Spektrum zwischen evidence-based und alternativ bis psychiatriekritisch. Einerseits wird z.B. betont, dass eine genaue Differenzialdiagnostik selbstverständlich erforderlich sei, standardisierte psychiatrische Ratingskalen werden empfohlen, Medikamente seien gelegentlich auch einmal hilfreich. In dem eigenen Modell wird dann aber die ganze "alternative" Psychiatrie um das Phänomen des Stimmenhörens herum neu konstruiert, wobei dann die Diagnose plötzlich wieder eigenartig nebensächlich zu sein scheint und die Sinngebungsprinzipien für das Stimmenhören doch universell anwendbar erscheinen.

Der ganze Ablauf des vorgeschlagenen Interviews und der Interventionen ist ausgesprochen strukturiert und wird genau beschrieben. Es nennt sich zwar "Beratung" für "Klienten", welche Stimmenhörer sind - ist aber letztlich fast schon ein Manual für eine Psychotherapietechnik. Auch die Tatsache, dass ein formelles Ausbildungsangebot in der "Erfahrungs-fokussierten Beratung" für Stimmenhörer 2007 in Deutschland gegründet wurde und eine "mehrstufige Fortbildung" angeboten wird, lässt sehr an das denken, was "klinische" Psychiater und Psychotherapeuten möglicherweise eine störungsspezifische Psychotherapie nennen würden. Dass Psychotherapie auch ein lukrativer Markt ist, kann man assoziieren. Der Ansatz ist jedenfalls gut, und der dem Buch beiliegende "Maastrichter Fragebogen" für das Interview ist ausgesprochen wertvoll, nicht nur für das Verständnis von Patienten und Behandlern, sondern auch für qualitative und quantitative Forschung über akustische Halluzinationen. Eine alternative Psychiatrie (und Psychotherapie) wird trotzdem nicht daraus. So wissen wir, dass keineswegs alle Stimmenhörer die Halluzinationen als ihr zentrales Problem ansehen. Es gibt, gerade bei Menschen mit dissoziativen Störungen, viele andere Ansätze und auch gute Gründe, nicht mit der Fokussierung auf die Inhalte von Stimmen ungebremst in eine Re-Traumatisierung abzugleiten. Und die in dem Buch ausführlich geschilderten, in der Tat bahnbrechenden Forschungen von Epidemiologen wie Jim van Os, die u.a. erstaunliche Prävalenzraten psychotischer Symptome in der Allgemeinbevölkerung zeigten, sind keineswegs eine exklusive Unterstützung für die hier vorgestellte Sichtweise, für die der Begriff "sozialpsychiatrisch" usurpiert wird, sondern wurden längst auf allen internationalen Schizophreniekongressen vorgetragen und fügen sich in bemerkenswerter Weise in den heutigen Wissensstand über die Interaktionen von sozialer Umwelt, Dopaminsystem und neurobiologischer Funktionsweise. Eines Rückgriffs in das argumentative Arsenal der Antipsychiatrie der 60er-Jahre bedarf es auch in diesem Zusammenhang nicht.

Schließlich bleiben mir noch zwei Irritationen zu vermerken. Die eine betrifft das Kapitel "Alternative Therapien" in diesem zumindest in Teilen durchaus wissenschaftlich argumentierenden und sich auf unstrittig gute Forschung berufenden Buch, das teils sehr polarisiert und dann wieder, eben bei den Alternativtherapien, eine ans Beliebige grenzende unkritische Offenheit zeigt, auch was Theoriebildung und Professionalität anbelangt. Hier kommt wirklich alles zur Sprache, von Homöopathie über Bachblütenheilmittel, Gemsteine, Magnetismus, Akupunktur und diverse fernöstliche Techniken bis zur ausführlich dargestellten Reinkarnationstherapie, alles mit der Legitimation, dass es manchen Patienten subjektiv hilfreich sei. Die andere Irritation ist nur eine kleine: Unter den zahlreichen erwähnten wissenschaftlichen Arbeiten wird eine als "genial" identifiziert. Sie stammt von den beiden Autoren.

Tilman Steinert, Weissenau

eMail: tilman.steinert@zfp-weissenau.de

Romme M, Escher S. Stimmenhören verstehen. Der Leitfaden zur Arbeit mit Stimmenhörern. Bonn: Psychiatrie-Verlag, 2008, 239S., kart., 24,90 €. ISBN 978-3-88414-442-8

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