Fortschr Neurol Psychiatr 2009; 77(8): 444-450
DOI: 10.1055/s-0028-1109462
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Homosexuelle als „störende Persönlichkeit”. Nikolaus Jensch und seine psychiatrisch-genetischen Studien

The Homosexual as a ”Molesting Personality”. Nikolaus Jensch and his Psychiatric-Genetic StudiesR. Wolfert1 , H. Steinberg2
  • 1Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e. V., Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft
  • 2Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie (Professor Dr. med. U. Hegerl), Universität Leipzig
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Publication Date:
16 June 2009 (online)

Zusammenfassung

Der vorliegende Aufsatz bringt erstmals Angaben zur Biografie von Nikolaus Jensch (1913 – 1964) und zu dessen zur Zeit des Nationalsozialismus durchgeführten Studien zum Thema Homosexualität. Zunächst verfolgte Jensch psychiatrisch-genetische Fragestellungen. Methodologisch trennte er unter fragwürdigen Vorannahmen die sogenannten „Pseudo-Homosexuellen”, die psychologisch fassbar und psychotherapeutisch vielleicht auch erziehbar seien, von den „genuinen” Homosexuellen. Sein Ziel war die Erstellung einer empirischen Erbprognose der Homosexualität, doch aus der Vererbung ergab sich für ihn keinerlei Exkulpation. In einer weiteren Studie versuchte er, den therapeutischen Sinn der Entmannung bei Homosexualität und anderen sexuellen Devianzen zu ermitteln. Obwohl er die Entmannung als Verstümmelung bezeichnete und sie in seinen Augen eine eher negative Prognose aufwies, hat er nie dafür plädiert, von dem Eingriff abzusehen.

Abstract

For the first time ever, this study presents facts on the biography of Nikolaus Jensch (1913 – 1964), who worked in Wroclav, Leipzig, Strasbourg and Bremen, and on his psychiatric-genetic studies on homosexuality during the Nazi regime. Jensch tried, under methodologically rather doubtful presuppositions, to separate ”genuine” from so-called ”pseudo-homosexuals”, who for him were receptive to psychotherapeutic and educational intervention. Ultimately he aimed to establish an empiric prediction as to the heredity of homosexuality, although even that would not exculpate homosexuals from prosecution. In a different study he analysed the curing effects of castration for homosexuality and other sexual deviances. Although acknowledging the mutilating character of castration and its due to high recrudescence rates rather poor therapeutic outcome, he never pleaded to refrain from this intervention.

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1 Als übergreifende biografische Quellen zu Jensch siehe vor allem [13] und [14]. Für weitere vielfältige Hinweise danken die Autoren dem Schwiegersohn Jenschs, Herrn Dr. Wolfgang Scholz (Berlin).

Raimund Wolfert

Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e. V.

Chodowieckistr. 41

10405 Berlin

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