manuelletherapie 2009; 13(5): 181
DOI: 10.1055/s-0028-1109946
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Haben wir (k)eine Kongresskultur?

J. Bessler1
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Publication Date:
05 January 2010 (online)

Neben einer Mulligan-Konferenz in den USA besuchte ich 2009 zwei weitere Kongresse in Deutschland: den physiokongress in Fellbach im Juni und den CRAFTA-Kongress in Nürnberg Anfang Oktober (siehe auch Kongressbericht von Christian Voith, S. 221). Die Auswahl traf ich entsprechend meiner persönlichen Therapieschwerpunkte, der Breite des Angebots und der Qualität der Veranstaltung. Dabei fiel mir auf, dass das Interesse deutscher Physiotherapeuten an Kongressen scheinbar eher weniger wird. Ist das wirklich so und wenn ja, warum? Schreiben Sie es mir!

Kongresse sind auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten eine sehr gute Möglichkeit, fachlich up to date zu bleiben und damit Patienten eine bestmögliche Therapie zu bieten. Auf guten Kongressen wird neuestes Wissen vorgestellt. Kompetente Kongressveranstalter haben den Anspruch, Referenten mit aktuellen Studienergebnissen eine Plattform zu geben, internationale Experten an die „heimische Basis” zu holen sowie Forschung und Praxis zusammenzuführen. Besonders die Aktualität gibt Kongressen einen Vorsprung gegenüber anderen Lernmöglichkeiten. Neuestes Wissen in Zeitschriften oder Büchern kommt oft erst nach Monaten (bei Büchern manchmal Jahren) beim Leser und damit beim Therapeuten in der Praxis an. Außerdem bieten Kongresse in aller Regel Raum für Fragen und Diskussionen – beides hilfreich, wenn Forschung auf Praxis trifft.

Meine Beobachtungen 2009: Zunächst stellte ich bei beiden von mir besuchten deutschen Veranstaltungen fest, dass die Teilnehmerzahl im Vergleich zu den jeweils vorangegangenen Veranstaltungen trotz gleichbleibendem, wenn nicht sogar verbessertem Niveau der Vorträge und Seminare stagnierte oder sogar abgenommen hat.

Beispiel CRAFTA-Kongress 2009: Im Vergleich zu 2007 in Hamburg kamen mit 200 Teilnehmern ein Drittel weniger Besucher. Warum nutzen Physiotherapeuten (über 80 000 in Deutschland) nicht die Möglichkeit, weltweit renommierte Referenten wie David Butler, Dean Watson oder Mariano Rocabado live zu erleben, auch wenn sich das Kongressthema auf die kraniofaziale Region konzentrierte? Interessanterweise ist der Anteil der Zahnärzte und Kieferorthopäden unter den Besuchern im Vergleich zu 2007 von 10 % auf 15 % angestiegen.

Beispiel physiokongress 2009: Weshalb wählen nur ca. 1,2 % (knapp 1000) der deutschen Physiotherapeuten dieses Angebot? An der breiten Auswahl der Schwerpunktthemen Schlaganfall, Gelenkersatz, lebenslanges Lernen und LBH-Region kann es nicht gelegen haben. 2010 wird es keinen physiokongress geben. Der Veranstalter macht eine Pause und erarbeitet ein neues Konzept, wahrscheinlich auch, um auf die stagnierenden Teilnehmerzahlen zu reagieren. Das ist bedauerlich, auch für die Kollegen, die aktuelle Studienergebnisse vorstellen wollten und dafür diese Plattform genutzt hätten.

Mir haben meine Kongressbesuche sehr viel gebracht: ich konnte eine Fülle neuer Informationen sammeln und außerdem viele neue „Netzwerksynapsen” bilden und bereits bestehende pflegen.

Sind Kongresse nur eine Sache von Referenten, und fehlen uns einfach noch die Kongresskultur und das Wissen darum, dass man bei Kongressen viel lernt? Bei unseren Nachbarn in den Niederlanden war der IFOMT-Kongress 2008 in Rotterdam übrigens eine Pflichtveranstaltung holländischer Manualtherapeuten zum weiteren Erhalt ihrer Zulassung. Das zeigt, welchen Stellenwert der Veranstaltung dort eingeräumt wird.

Pflicht ist sicher nicht das Modell der Wahl, aber ein Rezept möchte ich schon anbieten: „Weitersagen!” Wenn Sie gute Erfahrungen auf Kongressen sammeln, geben Sie dies weiter. Wir brauchen als Berufsgruppe mitten in einem Professionalisierungsprozess lebendige, fortschrittliche Kongresse, die kontinuierliche berufliche Weiterbildung ermöglichen und die Forschung mit der Praxis verbinden.

Ihr Johannes Bessler, Mitherausgeber und begeisterter Kongressbesucher

Abb. 1 David Butler und Johannes Bessler beim CRAFTA-Kongress in Nürnberg.

Johannes Bessler

PT-OMT (AGMT), Mulligan-Instruktor (MCTA), Master of Manual Therapy (UWA/Perth), CRAFTA-Therapeut

Email: physiobessler@aol.com

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