Notfall & Hausarztmedizin 2009; 35(2): 79
DOI: 10.1055/s-0029-1213745
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zwangsstörungen: Hilfe zur Selbsthilfe

Iver Hand
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Publication Date:
24 February 2009 (online)

Zwanghaftes Denken und Handeln sind transkulturell weit verbreitete Verhaltensweisen. Putzen, Sammeln, Ordnen, Zählen und Wiederholen beispielsweise vermitteln dem einen Lust und werden dem anderen zur Last. Bei etwa 2,5? % der Bevölkerung erreichen solche Handlungen ein Ausmaß, das die persönliche und berufliche Lebensführung hochgradig beeinträchtigt. So führen ausgeprägte Zwangsstörungen unter anderem zu Depressionen, Schlafstörungen und multipler Psychosomatik. Zudem beziehen Zwangskranke ihre Angehörigen häufig in die Zwangsrituale ein, was zur Eskalation von Auseinandersetzungen bis hin zur körperlichen Gewaltanwendung – mit einem Ruf nach dem Notfallmediziner – führen kann.

Nahezu alle Zwangskranken sind aber bei einem Hausarzt in Therapie – entweder aufgrund primärer körperlicher Erkrankungen oder der oben angeführten Sekundärfolgen. Nur wenige jedoch suchen einen Psychiater oder Verhaltenstherapeuten auf. Ihre Störung wird daher auch als „heimliche Krankheit“ bezeichnet. Dort, wo das heutige, umfangreiche psycho- und pharmakotherapeutische Wissen vorhanden ist (oder sein sollte), wird es also kaum in Anspruch genommen (oder angeboten?). Warum ist das so? Und wie kann der Hausarzt als „Seelenarzt in der Praxis“ Hilfestellung beim „Beichten“ der Zwänge und ihrer nachfolgenden Bewältigung geben?

Die Gründe, warum viele Zwangserkrankte keine Hilfe suchen, sind schnell zusammengefasst: Viele Zwangssymptome sind eskalierte „Normalverhaltensweisen“ („Verhaltensexzesse“), wobei die Normvorstellungen in der Bevölkerung über „normal“ und „nicht mehr normal“ weit auseinander gehen. Diesbezüglich lässt sich trefflich streiten. Viele Zwangskranke haben darüber hinaus mehrfach vergeblich versucht, ihren Angehörigen zu erklären, warum sie unter „innerem Zwang“ ein Verhalten ausüben „müssen“, dessen Unsinnigkeit sie vom Verstand her längst eingesehen haben. Zu guter Letzt ist die optimale Symptomtherapie (protrahierte Exposition zu den Zwangsverhalten auslösenden Stimuli) ein massiver Stressor für die Betroffenen.

Die Therapeuten wiederum müssen zunächst die „Symptom-Verheimlichung“ durch den Patienten und seinen Widerstand gegen die Expositionstherapie überwinden. Auch viele Therapeuten schätzen die Expositionssitzungen nicht sonderlich, da diese initial mehrfach über 2–4 Stunden in Therapeutenbegleitung durchgeführt werden sollten, auch den Behandler emotional belasten und die Kassen An- und Rückfahrzeiten zum bzw. vom Ort der Exposition nicht honorieren. Dementsprechend ist für zu viele Zwangskranke und Therapeuten eine rein „sprechende“, aber wenig handelnde und bewirkende Pseudo-„Verhaltens“-Therapie im wöchentlichen 50-Minuten-Takt (auch ein Zwangsritual?) leider attraktiv!

In diesem Sonderheft werden nun die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgungssituation von Zwangskranken erläutert und Hilfsmittel vorgestellt, welche die Identifizierung von Zwangsstörungen erleichtern (Voderholzer et al.). Es folgen Beiträge mit nachgewiesen effektiven, weitestgehend kostenfreien oder sehr kostengünstigen Selbsthilfeangeboten: Ein Internet-Beratungsprogramm für Zwangsgedanken (Jellinek et al.), einige CD- und internetbasierte Programme für Zwangshandlungen und -gedanken (Wölk) sowie Empfehlungen für die Angehörigenberatung (Fricke, Rufer). Hilfe zur Selbsthilfe für Patienten, Angehörige und Mediziner bietet die Deutsche Gesellschaft Zwangsstörungen (DGZ) e.?V. Einen Beitrag, in dem Antonia Peters, die Vorsitzende der Gesellschaft, die Aufgaben und Ziele der DGZ ausführlich vorstellt, finden Sie unter www.thieme.de/notfallmedizin. Wir hoffen, damit den Hausarzt einerseits deutlich zu entlasten, ihm zugleich aber mehr Kompetenz und Effizienz im Erkennen und Unterstützen dieser Patientengruppe zu vermitteln.

Iver Hand

Hamburg

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