Intensivmedizin up2date 2009; 5(3): 149-168
DOI: 10.1055/s-0029-1214583
Allgemeine Prinzipien der Intensivmedizin

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medikolegale Probleme auf einer Intensivstation

Elmar  Biermann
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Publikationsdatum:
06. Mai 2009 (online)

Grundsätze

In der Intensivmedizin gelten die allgemeinen arzthaftungsrechtlichen Grundsätze: Zivilrechtliche Haftung und/oder strafrechtliche Verantwortung können sich gründen auf Behandlungsfehler wie auf sog. verbotene ärztliche Eigenmacht, d. h. ärztliche Maßnahmen, in die der Patient oder sein gesetzlicher Vertreter nicht wirksam eingewilligt haben.

Grundsätze der ärztlichen Haftung

Auch in der Intensivmedizin haftet der Arzt für

  • verbotene ärztliche Eigenmacht (fehlende oder unwirksame Einwilligung des Patienten),

  • einen schuldhaften Behandlungsfehler, durch den ein Patient zu Schaden kam.

Behandlungsfehler

Definition. Der Arzt schuldet dem Patienten innerhalb der im Wesentlichen durch die Weiterbildungsordnung und/oder konkrete Absprache vor Ort gezogenen Fachgebietsgrenzen eine sachgerechte ärztliche Behandlung und Versorgung. Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn der Arzt eine nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen seines Fachgebietes – unter Berücksichtigung der tatsächlichen Möglichkeiten zurzeit der Behandlung – gebotene Maßnahme diagnostischer oder therapeutischer Art entweder unsachgemäß ausführt oder pflichtwidrig unterlässt, d. h. im Ergebnis diejenige Sorgfalt nicht einhält, die der medizinische „Standard” in der konkreten Situation fordert. Zu den Behandlungsfehlern im weiteren Sinn gehören auch Mängel in der interdisziplinären Kooperation, Fehler im Schnittstellenmanagement wie Mängel in der personellen oder räumlich-apparativen Infrastruktur (Organisationsmängel).

Standard. Unter Standard versteht man, jeweils bezogen auf das Fachgebiet, das zum Behandlungszeitpunkt in ärztlicher Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, von einem durchschnittlich befähigten Arzt verlangte Maß an Kenntnis und Können bezüglich der in Rede stehenden Maßnahme [1].

Leitlinien und Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaft können „Wegweiser für den medizinischen Standard” [2] sein, sie haben jedoch keine etwa einem Gesetz vergleichbare unmittelbare Bindungswirkung. Ein Abweichen von ihnen wird, insbesondere bei S3-Leitlinien, dennoch besonderer Rechtfertigung [3] bedürfen.

Die Rechtsprechung verlangt aber nicht, dass dem Patienten immer nur optimale Behandlungsmethoden zur Verfügung stehen, dass die Ärzte stets die neuesten Methoden oder die modernsten Apparate anwenden. Es wird nicht stets der höchste erreichbare Sorgfaltsmaßstab gefordert.

Anerkannt ist, dass der Patient sich mit den „faktisch erreichbaren Gegebenheiten” zufriedengeben muss, vorausgesetzt, dass „auch mit ihnen eine medizinisch noch ausreichende Behandlung erzielt werden kann” [4]. Die Verfügbarkeit einer moderneren Methode macht die Anwendung einer herkömmlichen, bewährten Methode nicht schon zu einem Behandlungsfehler [5]. Auch der Einsatz eines älteren anstatt eines inzwischen erprobten moderneren Gerätes ist zumindest dann nicht als Behandlungsfehler zu werten, wenn das alte Gerät dem modernen technisch gleichwertig ist [6].

Unter Umständen wird aber auch ein höherer Sorgfaltsmaßstab als der „normale” Standard des erfahrenen Facharztes vorausgesetzt, nämlich etwa dann, wenn z. B. ein Hochschullehrer über besonderes Fachwissen verfügt. Auch hier wird allerdings gefordert, dass der „höhere Maßstab” sich am Stand der gesicherten medizinischen Erkenntnisse orientieren muss [7].

Forensisches Dreieck: Fehler – Kausalzusammenhang – Schaden Ein Fehler allein führt noch nicht zu zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen. Erst wenn der Patient auch einen Schaden erlitten hat, der ursächlich auf den Fehler zurückzuführen ist (Kausalzusammenhang), drohen zivil- und strafrechtliche Konsequenzen.

Verschulden. Ein schuldhafter (vorsätzlicher oder fahrlässiger, aber auch leicht fahrlässiger) Verstoß gegen die im Zeitpunkt der Behandlung geltenden Leistungs- und Sorgfaltsstandards des Fachgebietes, der ursächlich für einen Schaden des Patienten wurde, kann zu forensischen Konsequenzen zivil- und strafrechtlicher Art wegen eines Behandlungsfehlers führen.

Pflichtwidrig und schuldhaft handelt auch derjenige, der – von Notfällen abgesehen – eine Tätigkeit übernimmt, der er mangels persönlicher Fähigkeiten oder Kenntnisse erkennbar nicht gewachsen ist (Übernahmeverschulden) 8.

Wer nicht die notwendigen Fähigkeiten oder Kenntnisse hat, um die auf der Intensivstation erforderlichen Maßnahmen standardgerecht durchzuführen, darf eine Behandlung, deren ordnungsgemäße Durchführung er nicht gewährleisten kann, weder beginnen noch fortführen, sondern muss den Fachkollegen der anästhesiologischen, operativen oder internistischen Disziplin hinzuziehen.

Verbotene ärztliche Eigenmacht

Auch bei Einhaltung der Leistungs- und Sorgfaltsstandards des Fachgebietes kann eine nur schicksalshafte Schädigung des Patienten zur zivilrechtlichen Haftung und/oder strafrechtlichen Verantwortung führen, wenn die Maßnahme nicht von einer wirksamen Einwilligung des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters gedeckt war. An der Wirksamkeit einer Einwilligung kann es infolge von Aufklärungsfehlern (z. B. nicht ausreichende oder nicht rechtzeitige Aufklärung) mangeln. Eine nicht von einer wirksamen Einwilligung gedeckte Maßnahme führt zur Haftung wegen „verbotener ärztlicher Eigenmacht”.

Literatur

  • 1 Ulsenheimer K. Rechtliche Rahmenbedingungen für die Zentralisierung der operativen Intensiveinheiten. In: Kuhlen R, Putensen C, Quintel M (Hrsg) Jahrbuch Intensivmedizin 2006. Berlin; MWV 2006: 337
  • 2 Steffen E, Pauge B. Arzthaftungsrecht. Köln; RWS 2006: RN 150 a mit weiteren Nachweisen
  • 3 Ulsenheimer K, Biermann E. Leitlinien – medico-legale Aspekte.  Anästh Intensivmed. 2008;  49 105-106
  • 4 Steffen E, Pauge B. Arzthaftungsrecht. Köln; RWS 2006: RN138
  • 5 BGH, NJW 1988, 763. 
  • 6 OLG Frankfurt/M., VersR 1991, 185; Steffen E, Pauge B: Arzthaftungsrecht. Köln; RWS; 2006, RN 146 mit weiteren Nachweisen. 
  • 7 Steffen E, Pauge B. Arzthaftungsrecht. Köln; RWS, 2006: RN 148; BGH, NJW 1997, 3090. 
  • 8 Ulsenheimer K. Arztstrafrecht in der Praxis. Heidelberg; C. F. Müller 2008: RN 22
  • 9 Schulte-Sasse U. Kostensparen vs. Patientensicherheit: Der Arzt im Spannungsverhältnis zwischen klinischem Alltag und Rechtsprechung.  Arztrecht. 2009;  44 32-41
  • 10 LSG Rheinland Pfalz, MedR. 2006: 740
  • 11 Steffen E, Pauge B. Arzthaftungsrecht. Köln; RWS 2006: RN 136
  • 12 BGH, NJW 1991, 1543. 
  • 13 BGH, NJW 1987, 1479; OLG Hamm MedR 2006, 358. 
  • 14 OLG Düsseldorf, NJW 1986, 790. 
  • 15 BGH, NJW 1982, 1049. 
  • 16 BGH, NJW 1984, 655. 
  • 17 BGH, NJW 1988, 2289. 
  • 18 BGH, MedR 1988, 249. 
  • 19 BGH, NJW 1985, 2189. 
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  • 21 BGH, NJW. 1994: 3008
  • 22 BGH, NJW 1986, 776. Weißauer W. Einteilung übermüdeter Ärzte zur Operation. Anästh Intensivmed 1987 : 34; 103. 
  • 23 Ulsenheimer K. Arztstrafrecht in der Praxis. Heidelberg; C.F. Müller 2008: RN 196
  • 24 Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Berufsverband Deutscher Anästhesisten. Ärztliche Kernkompetenz und Delegation in der Anästhesie. Anästh Intensivmed 2007; 48 : 712–714; s. a. Andreas M. Delegation ärztlicher Tätigkeiten auf nicht-ärztliches Personal. Anästh Intensivmed 2008; 49 : 593–601; Ärztliche Kernkompetenz und Delegation in der Intensivmedizin. Anästh Intensivmed 2008; 49 : 52–54; Spickhoff A, Seibl M. Haftungsrechtliche Aspekte der Delegation ärztlicher Leistungen an nicht-ärztliches Medizinpersonal unter besonderer Berücksichtigung der Anästhesie. MedR 2008; 8 : 463. 
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  • 26 BGH, NJW 1996, 2429. 
  • 27 deutlich: BGH, NJW 1999, 1779 (Schieloperation). 
  • 28 Ulsenheimer K. Rechtliche Rahmenbedingungen für die Zentralisierung der operativen Intensiveinheiten. In: Kuhlen R, Putensen C, Quintel M (Hrsg) Jahrbuch Intensivmedizin 2006. Berlin; MWV 2006: 337, 338, 342
  • 29 Anästh Intensivmed 2007; 48 : 230–232; s. a. Ulsenheimer K. Rechtliche Rahmenbedingungen für die Zentralisierung der operativen Intensiveinheiten. In: Kuhlen R, Putensen C, Quintel M, Hrsg. Jahrbuch Intensivmedizin 2006. Berlin: MWV; 2006 : 323. 
  • 30 Anästh Intensivmed 2007; 48: 431–432. 
  • 31 Ulsenheimer K. Rechtliche Rahmenbedingungen für die Zentralisierung der operativen Intensiveinheiten. In: Kuhlen R, Putensen C, Quintel M, Hrsg Jahrbuch Intensivmedizin 2006. Berlin; MWV 2006: 323
  • 32 Anästh Intensivmed 2007; 48 : 230–232; s. a. Ulsenheimer K. Rechtliche Rahmenbedingungen für die Zentralisierung der operativen Intensiveinheiten. In: Kuhlen R, Putensen C, Quintel M, Hrsg. Jahrbuch Intensivmedizin 2006. Berlin: MWV; 2006 : 323. 
  • 33 BGHSt, 12, 379. 
  • 34 OLG München, MedR 2007, 601. 
  • 35 LG Aachen, MedR 2006, 361. 
  • 36 BGH, NJW 2005, 1716. 
  • 37 anders jedoch OLG Hamm, Beschluss v. 16. 7. 1998, NJW 1998, 3424; nicht eindeutig der BGH in seiner Entscheidung vom 10. 10. 2006, MedR 2008, 28 924. 
  • 38 BGH, NJW 1988, 2946; BGH, NJW 2000, 1784. 
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  • 40 Coeppicus R. Der nicht einwilligungsfähige Patient – Einwilligung, Betreuerbestellung und Vormundschaftsgericht.  Anästh Intensivmed. 1999;  40 583
  • 41 Ulsenheimer K. Zur Erforschung des mutmaßlichen Willens bei fehlender Einwilligungsfähigkeit des Patienten.  Anästh Intensivmed. 2000;  41 693
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  • 45 Jürgens A, Kröger D, Marschner R, Winterstein P. Betreuungsrecht kompakt. München, Beck 2007, RN 207. 
  • 46 BGH, Beschluss v. 17.03.2003, MedR 2003, 512. 
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  • 48 BGH, Beschluss v. 17. 3. 2003, MedR 2003, 512. 
  • 49 ausführlich Nationaler Ethikrat, Hrsg. Die Patientenverfügung. Berlin: Nationaler Ethikrat; 2005. 
  • 50 Ulsenheimer K. Grenzen der Behandlungspflicht, Behandlungseinschränkung, Behandlungsabbruch. AINS 1996; 31 : 543 ff; Ulsenheimer K. Aktive und passive Sterbehilfe aus der Sicht der Rechtsprechung. Internist 2000; 41 : 648ff. 
  • 51 Birkner S. Assistierter Suizid und aktive Sterbehilfe – gesetzgeberischer Handlungsbedarf? ZRP 2/2006, 52. 
  • 52 BGH, MedR 1985, 40 („Wittig”). 
  • 53 OLG München, NJW 1987, 2940ff („Hackethal”). 
  • 54 Coeppicus R. Sterbehilfe, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. Essen; Klartext 2006, RN 460
  • 55 AG Berlin Tiergarten, MedR 2006, 289. 
  • 56 OLG München, NJW 1987, 2940. 
  • 57 LG Ravensburg, MedR 1987, 196ff. 
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  • 61 LG Karlsruhe, NJW 1992, 756. 
  • 62 deutlich nunmehr BGH, Beschluss v. 17.03.2003, MedR 2003, 512. 
  • 63 BGH, MedR 2003, 512 (516). 
  • 64 BGH, MedR 2003, 512 (516). 
  • 65 OLG Düsseldorf, Beschluss v. 27.03.2001, NJW 2001, 2807. 
  • 66 BGH, MedR 2003, 512 (516). 
  • 67 OLG Karlsruhe, NJW 2002, 685 (689). 
  • 68 OLG Karlsruhe, NJW 2002, 685 (687). 
  • 69 OLG München, Beschluss v. 25.01.2007, MedR 2007, 425. 
  • 70 OLG Karlsruhe, NJW 2002, 685 (687). 
  • 71 z. B. LG Essen, NJW 2008, 1170. 
  • 72 Ulsenheimer K. Arztstrafrecht in der Praxis. Heidelberg; C. F. Müller 2008: RN 291f

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