Intensivmedizin up2date 2009; 5(3): 209-230
DOI: 10.1055/s-0029-1214892
Neuro-Intensivmedizin

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Intensivmedizinische Behandlung neuromuskulärer Erkrankungen[1]

Wolfgang  Müllges, Guido  Stoll
Further Information

Publication History

Publication Date:
28 July 2009 (online)

Kernaussagen

Guillain-Barré-Syndrom

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist eine akut auftretende Entzündung der Nervenwurzeln und peripheren Nerven, die zwar meist einige Tage nach einem Infekt auftritt, selbst aber nicht infektiös bedingt ist. Die Vitalfunktionen bleiben relativ lange grenzwertig kompensiert, doch die Erschöpfung der Reserven kann sehr plötzlich eintreten. Daher ist eine engmaschige Überwachung auf der Intensivstation unbedingt ratsam.

Zur Bestätigung der Diagnose ist eine neurophysiologische Untersuchung der peripheren Nervenleitung erforderlich. Die Liquoruntersuchung dient dem Ausschluss anderer Ursachen der Nervenlähmungen.

Steroide sind beim GBS unwirksam. Die Therapie stützt sich auf die Plasmapherese oder die Gabe polyvalenter 7S-Immunglobuline (IVIG). Die Behandlung sollte nicht erst bei drohender Ateminsuffizienz eingeleitet werden, sondern bereits dann, wenn der Patient keine 5 m mehr alleine gehen kann. Die Prognose des GBS ist ernst. 15% der Patienten erlangen nach 1 Jahr die Gehfähigkeit nicht wieder.

Myasthene Krise

Der Myasthenia gravis liegt eine Störung der neuromuskulären Übertragung durch Azetylcholin (ACh) zugrunde, was zu einer belastungsabhängigen Muskelschwäche führt.

Grund für eine intensivmedizinische Behandlung ist die myasthene Krise, bei der die Grunderkrankung oft bereits bekannt ist. Bei Unklarheiten kann die Verdachtsdiagnose durch einen ACh-Esterasehemmer-Test oder elektrophysiologisch erhärtet werden. Die Labordiagnostik ist für die Akutsituation zu zeitaufwendig. Differenzialdiagnostisch am wichtigsten sind die Intoxikation mit einem ACh-Esterase-Hemmer und der Botulismus.

Bei der myasthenen Krise ist eine engmaschige Überwachung erforderlich, um Warnzeichen einer drohenden Ateminsuffizienz rechtzeitig zu erkennen. Die Therapiemaßnahmen neben der Beatmung sind die Gabe eines ACh-Esterasehemmers und Plasmapherese oder Immunadsorption, kombiniert mit der Einleitung einer immunsuppressiven Behandlung. Glukokortikoide können die Symptomatik aber vorübergehend verschlechtern – daher Vorsicht bei schwer betroffenen, aber noch nicht beatmungspflichtigen Patienten.

Maligne Hyperthermie und malignes neuroleptisches Syndrom

Maligne Hyperthermie. Auslöser der akut lebensbedrohlichen malignen Hyperthermie sind volatile Anästhetika oder depolarisierende Muskelrelaxanzien. Bereits im Verdachtsfall muss sofort die auslösende Substanz sofort abgesetzt werden. Nur die sofortige Gabe von Dantrolen kann den Krankheitsverlauf aufhalten. Ergänzt wird diese Erstmaßnahme durch eine weitere intensivmedizinische Behandlung zur Abwendung bzw. Behandlung eines Nierenversagens und hypoxischen Hirnödems. Außerdem muss ein Notfallausweis ausgestellt werden. Es empfiehlt es sich, die Diagnose im Intervall durch einen In-vitro-Kontrakturtest mit Koffein und Halothan an einem Muskelbiopsat zu sichern. Familienmitglieder sind über das potenzielle Narkoserisiko zu beraten.

Findet sich eine akute Rhabdomyolyse ohne die für maligne Hyperthermie charakteristische Tonuserhöhung, so handelt es sich in der Regel um eine Myopathie.

Malignes neuroleptisches Syndrom. Das meist leichter verlaufende maligne neuroleptische Syndrom kann nach der Gabe von Neuroleptika (Dopaminantagonisten) auftreten. In der Frühphase sind wegen der psychotischen Phänomene psychiatrische Differenzialdiagnosen zu berücksichtigen. Die wichtigste Maßnahme ist das Absetzen des Auslösers. Dies und die weitere Überwachung reichen therapeutisch meist aus.

Tetanus

Der Tetanus manifestiert sich über 10 – 14 Tage als progredienter Trismus mit Nackenkrämpfen, hinzu treten ein axialer Rigor und Schlundkrämpfe, zuletzt generalisierte Muskelspasmen. Verursacht werden die Symptome durch Tetanospasmin, das Toxin von Clostridium tetani. Ausgangsherd sind meist verschmutzte Wunden, die auch sehr klein sein können.

Die Therapie besteht aus einer kombinierten aktiven und passiven Immunisierung und einem Wunddebridement, ergänzt durch symptomatische Maßnahmen (Abschirmung, Spasmolyse, ggf. Muskelrelaxierung und Beatmung). Einmal in das Nervensystem eingetretenes Toxin ist nicht mehr zu inaktivieren.

Eine alle 10 Jahre aufgefrischte Schutzimpfung verhindert die Erkrankung effektiv.

Critical-illness-Polyneuropathie und -Myopathie

Critical-illness-Polyneuropathie (CIP) und Critical-illness-Myopathie (CIM) sind die häufigsten neuromuskulären Erkrankungen bei intensivmedizinisch behandelten Schwerstkranken. Diese fallen in der Regel durch ein weder zentral noch pulmonal erklärbares Weaningversagen nach längerer Intensivtherapie auf. Die Pathophysiologie beider Erkrankungen ist noch nicht geklärt.

Die Verdachtsdiagnose einer CIP lässt sich elektrophysiologisch einfach sichern. Die Abgrenzung der CIP zur CIM ist klinisch unmöglich und elektrophysiologisch schwierig, aber ohnehin nicht relevant, da bei einer CIM meist auch eine CIP vorliegt.

Eine spezifische Therapie von CIP und CIM ist nicht möglich. Unter Ausschalten der Noxen tritt meist eine spontane Besserung ein. Bei leichterem Verlauf erholen sich die Patienten vollständig, bei schwerem Verlauf muss man dagegen mit Dauerfolgen rechnen wie Kontrakturen, Fallfüßen, schmerzhaften Parästhesien und Fatigue.

1 Wir danken unserem klinischen und akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. K. V. Toyka, der wesentliche Beiträge zum Verständnis und zur Therapie immunvermittelter Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die in der Übersicht dargestellt werden, geleistet hat.

Literatur

  • 1 Hartung H P, Reiners K, Toyka K V, Pollard J D. Guillain-Barre syndrome and CIDP. In: Hohlfeld R, ed Immunology of neuromuscular disease. Dordrecht, Boston, London; Kluwer Academic Publishers 1994: 33-104
  • 2 Gold R, Stoll G, Kieseier B C, Toyka K V. Experimental autoimmune neuritis. In: Dyck PJ, Thomas PK, eds Peripheral Neuropathy. Philadelphia; Elsevier Saunders 2005: 609-634
  • 3 Hadden R D, Cornblath D R, Hughes R A. et al . Electrophysiological classification of Guillain-Barre syndrome: clinical associations and outcome.  Ann Neurol. 1998;  44 780-788
  • 4 Yuki N. Ganglioside mimicry and peripheral nerve disease.  MuscleNerve. 2007;  35 691-711
  • 5 Hughes R AC, Cornblath D R. Guillain-Barré syndrome.  Lancet. 2005;  366 1653-1666
  • 6 Buchwald B, Ahangari R, Weishaupt A, Toyka K V. Intravenous immunoglobulins neutralize blocking antibodies in Guillain-Barre syndrome.  Ann Neurol. 2002;  51 673-680
  • 7 Gold R, Dalakas M C, Toyka K V. Immunotherapy in autoimmune neuromuscular disorders.  Lancet Neurol. 2003;  2 22-32
  • 8 French Cooperative Group on Plasma Exchange in Guillain-Barre Syndrome . Appropriate number of plasma exchanges in Guillain-Barre syndrome.  Ann Neurol. 1997;  41 298-306
  • 9 Raphael J C, Chevret S, Harboun M, Jars-Guincestre M C. Intravenous immune globulins in patients with Guillain-Barre syndrome and contraindications to plasma exchange: 3 days versus 6 days.  J Neurol Neurosurg Psychiatr. 2001;  71 235-238
  • 10 Van Koningsveld R, Schmitz P IM, van der Meche F GA. et al . Effect of methylprednisolone when added to standard treatment with intravenous immunoglobulin for Guillain-Barre syndrome: randomised trial.  Lancet. 2004;  363 192-196
  • 11 Plasma Exchange/Sandoglobulin Guillain-Barré Syndrome Trial Group . Randomised trial of plasma exchange, intravenous immunoglobulin, and combined treatments in Guillain-Barre syndrome.  Lancet. 1997;  349 225-230
  • 12 Mori K, Hattori N, Sugiura M. et al . Chronic inflammatory demyelinating polyneuropathy presenting with features of GBS.  Neurology. 2002;  58 979-982
  • 13 Müllges W. Nichtinvasive Beatmung bei neurologischen Intensivpatienten.  Intensivmedizin und Notfallmedizin. 2001;  38 49-53
  • 14 Seneviratne J, Mandrekar J, Wijdicks E FM, Rabinstein A A. Noninvasive ventilation in myasthenic crisis.  Arch Neurol. 2008;  65 54-58
  • 15 Nomori H, Ishihara T. Pressure-controlled ventilation via a mini-tracheostomy tube for patients with neuromuscular disease.  Neurology. 2000;  55 698-702
  • 16 Levine S, Nguyen T, Taylor N. et al . Rapid disuse atrophy of diaphragm fibers in mechanically ventilated humans.  New Engl J Med. 2008;  358 1327-1328
  • 17 Weiß H, Lauter V, Müllges W. et al . Psychotic symptoms and emotional distress in patients suffering from acute Guillain-Barré syndrome.  Eur Neurol. 2002;  47 74-78
  • 18 Flachenecker P, Wermuth P, Hartung H P. et al . Quantitative assessment of cardiovascular autonomic function in Guillain-Barre syndrome.  Ann Neurol. 1997;  42 171-179
  • 19 Hilz M J, Dütsch M. Methods of quantitative evaluation of the autonomic nerve system.  Nervenarzt. 2005;  76 767-778
  • 20 Merkies I S, Schmitz P I, Samijn J P, van der Meche F G, van Doorn P A. Fatigue in immune-mediated polyneuropathies. European Inflammatory Neuropathy Cause and Treatment (INCAT) Group.  Neurology. 1999;  53 1648-1654
  • 21 Toyka K V. Ptosis in myasthenia gravis: extended fatigue and recovery bedside test.  Neurology. 2006;  67 1524
  • 22 Oosterhuis H JGH. The natural course of myasthenia gravis.  J Neurol Neurosurg Psychiatr. 1989;  52 1121-1127
  • 23 Vincent A, Drachman B. Myasthenia gravis.  Adv Neurol. 2002;  88 159-188
  • 24 Peter J V, Cherian A M. Organic insecticides.  Anaesth Intensive Care. 2000;  28 11-21
  • 25 Maselli R A, Ellis W, Mandler R N. Cluster of wound botulism in california: clinical, electrophysiologic, and pathologic study.  Muscle Nerve. 1997;  20 1284-1295
  • 26 Hibbs R G, Weber J T, Corwin A. et al . Experience with the use of an investigational F(abŽ)2 heptavalent botulism immune globulin.  Clin Infect Dis. 1996;  23 337-340
  • 27 Drachman D B. Myasthenia gravis.  N Engl J Med. 1994;  330 1797-1810
  • 28 Cole R N, Reddel S W, Gervásio O L, Phillips W D. Anti-MuSK patient antibodies disrupt the mouse neuromuscular junction.  Ann Neurol. 2008;  63 782-789
  • 29 Thomas C E, Mayer S A, Gungor Y. et al . Myasthenic crisis: clinical features, mortality, complications, and risk factors or prolonged intubation.  Neurology. 1997;  48 1253-1260
  • 30 Gajdos P, Chevret S, Clair B. et al . Clinical trial of plasma exchange and high dose intravenous immunoglobulin in myasthenia gravis.  Ann Neurol. 1997;  41 789-796
  • 31 Quereshi A I, Choudry M A, Akbar M S. et al . Plasma exchange versus immunoglobulin treatment in myasthenic crisis.  Neurology. 1999;  52 629-632
  • 32 Schneider-Gold C, Gajdos P, Toyka K V, Hohlfeld R R. Corticosteroids for myasthenia gravis.  Cochrane Database Syst Rev. 2005;  CD002828
  • 33 Baek W S, Bashey A, Sheean G L. Complete remission induced by rituximab in refractory, seronegative, muscle-specific, kinase-positive myasthenia gravis.  J Neurol Neurosurg Psychiatr. 2007;  78 771
  • 34 Schneider C, Gold R, Reiners K, Toyka K V. Mycophenolate Mofetil in the therapy of severe myasthenia gravis.  Eur Neurol. 2001;  46 79-82
  • 35 Tindall R S. Preliminary results of a double-blind, randomized, placebo-controlled trial of cyclosporine in myasthenia gravis.  N Engl J Med. 1987;  316 719-724
  • 36 Velamor V R, Norman R M, Caroff S N. et al . Progression of symptoms in neuroleptic malignant syndrome.  J Nerv Ment Dis. 1994;  182 168-173
  • 37 Strawn J R, Keck P E, Caroff S N. Neuroleptic Malignant syndrome.  Am J Psychiatr. 2007;  164 870-876
  • 38 Davis J M, Caroff S N, Mann S C. Treatment of the malignant neuroleptic syndrome.  Psychiatr Ann. 2000;  30 325-331
  • 39 Urwyler A, Deufel T, McCarthy T, West S. Guidelines for the detection of malignant hyperthermia susceptibility.  Br J Anaesth. 2001;  86 283-287
  • 40 Thwaites C L. Tetanus.  Pract Neurol. 2002;  2 130-137
  • 41 Farrer J J, Yen L M, Cook T. Tetanus.  J Neurol Neurosurg Psychiatr. 2000;  332 761-766
  • 42 Bolton C F. Neuromuscular manifestations of critical illness.  Muscle Nerve. 2005;  32 140-163
  • 43 DeLetter M AC, Schmits P IM, Visser L H. et al . Risk factors for the development of polyneuropathy and myopathy in critically ill patients.  Crit Care Med. 2001;  29 2281-2286
  • 44 Latronico N, Fenzi F, Recupero D. Critical illness myopathy and neuropathy.  Lancet. 1996;  347 1579-1582
  • 45 Schweickert W D, Hall J. ICU-aquired weakness.  Chest. 2007;  131 1541-1549
  • 46 Pati S, Goodfellow J A, Iyadurai S, Hilton-Jones D. Approach to critical illness polyneuropathy and myopathy.  Postgrad Med J. 2008;  84 354-360
  • 47 Douglass J A, Tuxen D V, Horne M. et al . Myopathy in severe asthma.  Am Rev Respir Dis. 1992;  146 517-519
  • 48 Latronico N, Bertolini G, Guarneri B. et al . Simplified electrophysiological evaluation of peripheral nerves in critical ill patients: the Italian multi-centre CRIMYNE study.  Crit Care. 2007;  11 R11
  • 49 Kerbaul F, Brusse M, Collart F. et al . Combination of histopathological and electromyographic patterns can help to evaluate functional outcome of critical ill patients with neuromuscular weakness syndromes.  Crit Care. 2004;  8 R358-R366
  • 50 Allen D C, Arunachalam R, Mills K R. Critical illness myopathy: further evidence from muscle-fiber excitability studies of an aquired channelopathy.  Muscle Nerve. 2008;  37 14-22
  • 51 Bolton C F. Sepsis and the systemic inflammatory response syndrome: neuromuscular manifestations.  Crit Care Med. 1996;  24 1408-1416
  • 52 Van den Berghe G, Wouters P, Weekers F. et al . Intensive insulin therapy in the critically ill patients.  New Engl J Med. 2001;  345 1359-1367
  • 53 Van den Berghe G, Wilner A, Hermans G. et al . Intensive insulin therapy in the medical ICU.  New Engl J Med. 2006;  354 449-461
  • 54 Mesotten D, Swinnen J V, Vanderhoydonc F. et al . Contribution of circulating lipids to the improved outcome of critical illness by glycemic control with intensive insulin therapy.  J Clin Endocrinol Metab. 2004;  89 219-226
  • 55 Druschky A, Herkert M, Radespiel-Troger M. et al . Critical illness polyneuropathy: clinical findings and cell culture assay of neurotoxicity assessed by a prospective study.  Intensive Care Med. 2001;  27 686-693
  • 56 Lacomis D, Giuliani M J, Van Cott A. et al . Acute myopathy of intensive care: clinical, EMG, and pathologic aspects.  Ann Neurol. 1996;  40 645-654
  • 57 Garnacho-Montero J, Madraza-Osuna J, Garcia-Garmendia J. et al . Critical illness polyneuropathy: risk factors and clinical consequences.  Intensive Care Med. 2001;  27 1288-1296
  • 58 Latronico N, Peli E, Botteri M. et al . Critical illness myopathy and neuropathy.  Curr Opin Crit Care. 2005;  11 126-132
  • 59 Bird S J. Diagnosis and management of critical illness polyneuropathy and critical illness myopathy.  Curr Treatment Options in Neurology. 2007;  9 85-92
  • 60 http://www.dgai.de/aktuelles/Empfehlungen_zur_Therapie_der_malignen_Hyperthermie.pdf

1 Wir danken unserem klinischen und akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. K. V. Toyka, der wesentliche Beiträge zum Verständnis und zur Therapie immunvermittelter Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die in der Übersicht dargestellt werden, geleistet hat.

PD Dr. med. Wolfgang Müllges

Neurologische Klinik
Universitätsklinikum Würzburg

Josef Schneider Str. 11
97080 Würzburg

Phone: 0931/201-23764

Email: Muellges_w@klinik.uni-wuerzburg.de

    >