Zeitschrift für Palliativmedizin 2009; 10(1): 10-12
DOI: 10.1055/s-0029-1215920
Forum

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Ethische Fallbesprechung - Suizid im Hospiz

Further Information

Publication History

Publication Date:
23 March 2009 (online)

 

Falldarstellung

Herr P., 69 J., verheiratet und kroatischer Herkunft, ist an einem metastasierten, sarkomatoiden Karzinom erkrankt. Neben Pleurakarzinose, inkomplettem Querschnitt mit Blasenentleerungsstörung bei raumfordernder Metastasierung der Wirbelsäule besteht ein ausgeprägtes Schmerzsyndrom. Die Therapie erfolgte palliativ, u. a. mit Radiatio und Talkumpleurodese. Nach Verschlechterung des Allgemeinzustands wurde P. zur Schmerztherapie auf die Palliativstation aufgenommen. Nachdem die familiäre Betreuung wegen Überforderung nicht möglich war, wurde P. in ein Hospiz verlegt. Insbesondere bei Einsamkeit empfand er die Schmerzen als unerträglich und sehnte sich nach dem Tod. Psychologisch-psychotherapeutische Gespräche lehnte er ab.

Im Hospiz sprach P. wiederholt seinen Sterbewunsch an und verlangte von den Pflegern eine Todesspritze. Nach Ablehnung sprach er davon "es bald selbst zu machen". In den folgenden Tagen schien sich seine psychische Situation zu stabilisieren, körperlich war er jedoch weiter geschwächt. Am 5. Tag erklärte P. den Wunsch, in Kroatien sterben zu wollen, die Organisation der Reise würde er übernehmen. Seine gute Stimmung hielt in den nächsten Tagen an. Am 8. Tag klagte Herr P. erneut über Schmerzen. In der folgenden Nacht wurde er von einer Nachtschwester schreiend auf dem Boden vorgefunden und wälzte sich in Glasscherben. Infolge der Schnittverletzungen quollen aus dem Unterbauch Darmschlingen. Zur Beruhigung erhielt er Morphin und Midazolam. Der behandelnde Arzt verständigte die Polizei.

In der 4 Monate alten Patientenverfügung, waren Aussagen zur Dauerbeatmung, künstlicher Ernährung und Schmerzbehandlung erläutert. Der Chirurg nahm daher Kontakt mit der Tochter des Patienten auf. Diese war der Auffassung, dass eine Operation im Sinne ihres Vaters sei. Es erfolgte die Notfalloperation mit anschließender Verlegung auf die Intensivstation. Nachdem durch die Polizei festgestellt wurde, dass sich P. die Verletzungen mit einem Taschenmesser zugefügt hatte, lehnte das Hospiz die Wiederaufnahme des Patienten ab. Aufgrund der suizidalen Gefahr erwog das Krankenhaus eine Verlegung in die Psychiatrie. P. verstarb zuvor im Krankenhaus.

Die Nachtschwester des Hospizes musste sich in psychotherapeutische Behandlung begeben und war mehrere Wochen arbeitsunfähig. Einige Monate später kündigte sie mit der Begründung, dass sie das Geschehen nicht verarbeiten könne.

Endnoten

  • 01 Zu dem Streit zwischen "Einwilligungslösung" und "Exkulpationslehre" (die vorbehaltlich abschließender Schuldausschließungsgründe - §§ 19, 20, 35 StGB - die "Freiheit" der Willensbildung und -betätigung einfach postuliert) näher Schneider. In: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 3, 2003, Vor §§ 211 ff. Rn 39 ff. m.w.N. 
  • 02 Etwa Sonneck, Ringel. In: Eser A (Hrsg.). Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem. Stuttgart: Enke; 1976: 77, 83 f. 
  • 03 Held. In: Rehmann-Sutter C, Bondolfi A, Fischer J, Leuthold M (Hrsg.). Beihilfe zum Suizid in der Schweiz. Bern: Peter Lang; 2006: 85, 87; Simson G. Die Suizidtat. München: C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung; 1976: 14 f.; siehe jüngst auch Oduncu F. In Würde sterben. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2007: 153: "Je mehr menschliche Zuwendung und effektive Schmerzstillung die Kranken erfahren, desto mehr nehmen sie ihren bevorstehenden Tod an und versuchen, die ihnen noch verbleibende Zeit so erfüllt wie möglich zu (er)leben. In gleichem Maße nimmt auch der Wunsch nach einer vorzeitigen Lebensbeendigung ab." 
  • 04 Ringel E. Der Selbstmord - Abschluß einer krankhaften psychischen Entwicklung. Eschborn: Klotz Dietmar Verlag; 1953. 
  • 05 Vgl. Haddenbrock. Unterbringung und Freiheitsentziehung aus psychiatrischer Sicht. In: Kröber H-L, Dölling D, Leygraf N, Saß H. Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. II. Heidelberg: Springer; 1385, 1393 f.; Held. In: Nationaler Ethikrat (Hrsg.). Öffentliche Tagung zum Thema "Selbstbestimmung am Lebensende" vom 24.11.2004, Wortprotokoll, S. 23 und 30: 90-95 % sind psychisch krank; eine "kleine Gruppe" begeht einen "Bilanzsuizid" (http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/sonstige.htm); Kutzer. In: Wolfslast G, Schmidt KW (Hrsg.). Suizid und Suizidversuch. München: Beck Juristischer Verlag; 2005: 181, 186; deutlich höhere Schätzung bei Held. In: Brudermüller G, Marx W, Schüttauf K (Hrsg.). Suizid und Sterbehilfe. Würzburg: Königshausen & Neumann; 2003: 165: "bei 30 % auch keine hypothetische Zuständigkeit der Psychiatrie". 
  • 06 Als Indiz hierfür wird u. a. auch lautes oder eilfertiges Reden von einem geplanten Suizid genannt, vgl. Bresser. Der Selbstmord in diagnostischer und in rechtlicher Hinsicht. Vers Med 1994; 2: 43, 46. 
  • 07 Vgl. Böhme. In: Anschütz F, Wedler HL (Hrsg.). Suizidprävention und Sterbehilfe. München. Urban & Fischer; 1996: 161, 166. 
  • 08 Statt vieler nur Kutzer. In: Wolfslast G, Schmidt KW (s.o. Ziffer 5), S. 189; Schöch In: Wolfslast G, Schmidt KW (s.o. Ziffer 5), S. 163, 169. 
  • 09 Zur vertikalen und horizontalen Arbeitsteilung etwa Deutsch E, Spickhoff A. Medizinrecht, 5. Aufl. Heidelberg: Springer; 2003, Rn 157, 168, 301; ausf. Deutsch. In: Zentrum für Medizinrecht Göttingen (Hrsg.). Perspektiven des Medizinrechts. Göttingen: Universitätsverlag Göttingen; 2007 (im Erscheinen). 
  • 10 Zur Forderung nach einer zuverlässigen und effektiven Dateninfrastruktur bereits Duttge G et al. Preis der Freiheit. Reichweite und Grenzen individueller Selbstbestimmung zwischen Leben und Tod, 2. Aufl. Thüngersheim/Frankfurt: EuWi-Verlag 2006; 43 f. 
    >