Psychother Psychosom Med Psychol 2009; 59(6): e1-e3
DOI: 10.1055/s-0029-1220357
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was müssen Kandidatinnen und Kandidaten mitbringen, um einmal gute Therapeutinnen und Therapeuten zu werden?

What Properties are Required for once Becoming a Good Psychotherapist?Franz  Caspar1 , Julia  Eversmann2
  • 1Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Bern
  • 2FB Humanwissenschaften, Institut für Psychologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Osnabrück
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Publication Date:
19 June 2009 (online)

Prof. Dr. Franz Caspar

Dr. rer. nat. Julia Eversmann

Ein Editorial mit der Frage „Gibt es gute und schlechte Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen?” löste letztes Jahr ein starkes Leserecho aus. Damals wurde ein weiteres Editorial angekündigt zur Frage der persönlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ausbildung. Das Paket „guter Therapeut” aufgeschnürt: Was muss schon bei Ausbildungsbeginn vorhanden sein, was kann im Lauf einer Ausbildung erworben werden; eine Abwandlung des alten „nature vs. nurture”-Problems.

Psychotherapie sollte sich heute generell auf eine wissenschaftliche Fundierung stützen, das gilt auch für die Auswahl von Kandidaten für eine Psychotherapieausbildung, erst recht für die Ausbildungsinstitute, die sich am lautesten auf empirische Fundierung berufen. Aber: Können sie dies überhaupt? Gibt es eine empirische Basis?”

Im Prinzip ist recht klar, wie Forschung zu diesem Thema aussehen müsste: Ähnlich wie Forschung zu Erfolgsprädiktoren für Psychotherapie aufseiten von Patienten. Für PatientInnen gibt es noch zu wenig, aber doch etwas Forschung. Jetzt geht es aber um die Prä-Messung bei Kandidatinnen und Kandidaten, und das Kriterium ist nun nicht Therapieerfolg, sondern Ausbildungserfolg.

Prädiktorvariablen für TherapeutInnen sind bisher kaum untersucht. Literaturrecherchen stoßen auf einige Untersuchungen zu potenziellen Prädiktoren therapeutischer Tätigkeiten aus den 80er-Jahren. Auslöser für diese Studien war eine Konferenz im Juli 1973 in Vail, Colorado („National Conference on Levels and Patterns of Professional Training in Psychology”), in der unter anderem die Forderung nach adäquaten Zugangsvoraussetzungen formuliert wurden: „More attention must be paid to the applicant's socially relevant experiences and goals, his or her interpersonal skills and a variety of attitudinal and motivational factors”. Das war lange vor den Zeiten einer systematischen Fundierung therapeutischer Techniken im Sinne der bekannten APA-Kriterien. Die Aufmerksamkeit, die in den folgenden Jahren der Frage der richtigen Technik gewidmet wurde, ließ die Frage nach der Eignung der Therapeuten in den Hintergrund treten. Zwingend ist das eigentlich nicht: man würde ja z. B. auch bei einer chirurgischen Technik durchaus davon ausgehen, dass KandidatInnen für den Chirurgenberuf bessere oder schlechtere Voraussetzungen mitbringen können.

Loo [1] untersuchte die Vorhersagekraft akademischer Intelligenz (Examensnoten, Ergebnis von Tests) und interpersonaler Intelligenz auf Trainingseffekte und die therapeutischen Fähigkeiten von Psychologiestudierenden. Für 40 Vpn wurden kurze Interaktionen zwischen zwei Teilnehmenden aufgenommen und beurteilt. Nennenswerte Korrelationen zeigten sich vor allem für das Vorhersagekriterium „interpersonale Intelligenz” mit der „klinischen Effektivität”, „Akzeptanz”, „Empathiefähigkeit”, „Art des Ausgangs der Dyade”, „Offenheit”, „Einsicht” und „Ausgeglichenheit”. Diese Zusammenhänge verschwanden nach dem Kurs in klinischer Beratung mit Rollenspielen und Videofeedbacks. Man kann also sagen: Das Training war in dieser Untersuchung stärker als die mitgebrachten Fähigkeiten.

Costanzo u. Philpott [2] untersuchten die Vorhersagekraft von interpersonaler Intelligenz, Persönlichkeitseigenschaften, demografischen Charakteristika und akademischer Leistung für die therapeutische Fähigkeit von Psychologiestudierenden. Auch hier wurden 40 Personen untersucht. Maße für die interpersonale Intelligenz waren die Ergebnisse der Bearbeitung von klinischem Material. Neben einigen Persönlichkeitseigenschaften wurden Religiosität, ökonomische, soziale, theoretische, politische und ästhetische Werte erfasst, als demografische Daten Geschlecht und Alter, weiter die bisherige Erfahrung in klinischer Tätigkeit mit Klienten. Die akademische Leistung ergab sich aus der Summe der Prüfungen in einem Kurs der klinischen Psychologie. Drei Experten beurteilten dann die Leistungen der Studierenden auf therapeutisches Talent, Empathie, Akzeptanz, nonverbale Aufmerksamkeit, Fähigkeit zur Erkenntnis, emotional affektiver Orientierung, intellektuell-kognitiver Orientierung und Rapport. Die Kombination aus den beiden interpersonalen Intelligenzkriterien besaß die stärkste Vorhersagekraft für das therapeutische Talent. Einen gewissen Einfluss zeigte das Alter, einen schwachen die akademische Leistung und bisherige praktische Erfahrung.

Beide Studien haben Stärken (u. a., dass Verhaltensproben und nicht nur Fragebogendaten verwendet wurden) teilen aber auch einige Schwächen: Zwischen erster Erhebung und der Erfassung vorhergesagter Leistung liegen nur 9 Wochen, es wurden keine objektiven Leistungskriterien verwendet, es handelt sich nicht um Ausbildungskandidaten im Sinne unserer Therapieausbildungen. Warum berichten wir diese Studien trotz ihrer Schwächen? Ganz einfach, uns sind keine besseren Studien bekannt.

Die Situation hat sich erst neulich durch die Dissertation von Eversmann [3] [4] geändert. Sie untersuchte an 40 Teilnehmenden den Zusammenhang zwischen einer Beobachtungsskala therapierelevanter interpersonaler Verhaltensweisen basierend auf einer Gruppensituation mit Therapieausbildungskandidaten im Rahmen eines Auswahlverfahrens zum psychologischen Psychotherapeuten und Ausbildungserfolgskriterien nach 5-jähriger Weiterbildung. Die gerateten interpersonalen Verhaltensweisen waren „Eindeutige und klare Kommunikationsfähigkeit”, „Empathiefähigkeit”, „respektvoller und warmherziger Umgang”, „Kritikfähigkeit”, und „Kooperationsfähigkeit”. Das Spektrum der Ausbildungserfolgskriterien ist breit. Zusätzlich zur Unterscheidung zwischen objektiven Kriterien (z. B. Bereitschaft zur Dokumentation der Therapiediagnostik, Quote der Therapieabbrüche, Quote regulärer Therapiebeendigungen, durchschnittlicher Therapieerfolg der Ausbildungskandidaten) und subjektiven Kriterien (Einschätzung der allgemeinen therapeutischen Kompetenz, Einschätzung der Kooperationsfähigkeit und zwischenmenschlichem Umgang), werden ebenfalls verschiedene Perspektiven auf den Ausbildungserfolg (Supervisoren, Mitarbeiter des Ausbildungsinstitutes und Patienten) herangezogen.

Gefunden wurden Zusammenhänge zwischen r = 0,3 und 0,5. Das bedeutet, dass am Ende der 5-jährigen Weiterbildung die Teilnehmenden mit höherer interpersonalen Kompetenz im Auswahlverfahren kompetenter in ihren therapeutischen Behandlungen (Supervisorenurteil) und tendenziell kooperativer im interdisziplinären Umgang eingeschätzt wurden (Mitarbeiterurteil). Sie wiesen deutlich weniger Therapieabbrüche und mehr reguläre Therapieabschlüsse auf und zeigten eine höhere Bereitschaft zur therapiebegleitenden Diagnostik bei durchschnittlich höherer therapeutische Effektivität.

Dies ist die erste Längsschnittstudie mit einer echten Prä-Messung und objektiven Kriterien für den Ausbildungserfolg. Derzeit laufen Untersuchungen in der von Caspar geleiteten Berner Psychotherapieausbildung. Von zwei Jahrgängen sind Prä-Merkmale wie Interpersonale Merkmale, Soziale Intelligenz, Ausprägung und Ausmaß an Befriedigung verschiedener Motive, Ambiguitätstoleranz und Kognitive Komplexität erfasst. Ein Rollenspiel mit einer schwierigen Patientin wurde videographiert. Kriterium für den Ausbildungserfolg werden v. a. Einschätzungen durch Ausbilder, insbesondere Supervisoren, und Erfolgskriterien für durchgeführte Therapien sein. Die Prä-Messungen sind erhoben und liegen erstmal „auf Eis”, bis zum Abschluss der Ausbildungen nach 4–5 Jahren. Das weist auf eine der Schwierigkeiten dieser Forschung hin: Solche Projekte passen allein schon von ihrer Laufzeit her nicht ins 2–3-Jahre-Raster und sind wenig förderungsfreundlich.

Auch diese Studien haben Schwächen: Sie sind nicht über das ganze Spektrum möglicher Variablen aussagekräftig. Ausbilder glauben zu Recht oder zu Unrecht an die Bedeutung bestimmter Merkmale. Es wäre deshalb kaum möglich, zu Forschungszwecken Kandidaten ganz unselektiv aufzunehmen. Das müsste man aber, wollte man den Vorhersagewert auf das ganze Kandidatenspektrum untersuchen. Falsch in die Ausbildung Aufgenommene hat man in der Stichprobe ja drin, nicht aber falsch Ausgeschlossene.

Wie also heute Kandidatinnen und Kandidaten aussuchen? Unter den Therapeutenvariablen, die mit Therapieerfolg zusammenhängen, weisen einige auf bereits in die Ausbildung mitzubringende Merkmale hin (Beutler, Malik, Alimohamed, Harwood, et al. [5]), wie eine genuine Fähigkeit, gute, engagierte Beziehungen herzustellen, oder die Abwesenheit von starken Kontrollmotiven. Persönlichkeit konnte als wichtiger Einflussfaktor nie festgenagelt werden. Überstarker Narzissmus beim Therapeuten birgt Gefahren, z. B. durch Patienten, die sich nicht so leicht ändern, wie man das als tollster aller Therapeuten eigentlich erwartet und verdient hätte, gekränkt zu werden und sich verärgert von ihnen abzuwenden. Was aber wirklich gute Prädiktoren sind, ist bis auf die einigermaßen belegte Bedeutung sozialer Kompetenz bis heute unklar.

Prädiktorvariablen für den Erfolg heute üblicher Therapieausbildungen zu finden, ist ein erster Schritt, bei dem man keineswegs stehen bleiben müsste. Zumindest ein Teil von negativen Voraussetzungen könnte möglicherweise korrigiert und kompensiert werden, wenn man – ähnlich wie viele Therapeuten das bei Patienten tun – die Ausbildung individualisieren und wenigstens teilweise an die einzelnen KandidatInnen anpassen würde. Teils (z. B. in Supervision und Selbsterfahrung) geschieht das zweifellos schon. Aber auch Wissenvermittlung und Einüben von Skills weiter individualisiert werden (Caspar [6]). Caspar malte 1997 [7] dazu eine Utopie: Sollten wir nicht von jedem / r KandidatIn zu Beginn der Ausbildung ein individuelles Profil von Stärken und Schwächen entwickeln, um dann ein Programm anzubieten, das für alle Teile gleiche, aber auch individuell auf das KandidatInnenprofil ausgerichtete Teile enthält? Damit kämen wir um Selektion nicht herum; wen man von einer Ausbildung ausschließen muss, hängt aber nicht nur von den Voraussetzungen der KandidatInnen ab, sondern auch von unserer Fähigkeiten, uns darauf einzustellen. Das ist im Prinzip nicht anders, als wenn TherapeutInnen versuchen, sich auf Patienten einzustellen: Sie versuchen damit, Merkmale, die vormals mit negativem Outcome assoziiert waren (wie z. B. eine Borderline-Diagnose), weniger bedeutsam zu machen.

Aber für eine zugeschnittene Ausbildung fehlen uns die notwendigen soliden Erkenntnisse. Wir werden sowohl Auswahl als auch Ausbildung noch geraume Zeit „im Blindflug” machen. Verschiedene Ausbilder werden dabei unterschiedliche Kriterien bedeutsam finden. Wer heute sagt, er wisse, worauf es ankomme, kennt Studien, die uns nicht zugänglich waren, oder sagt implizit, dass es ihm oder ihr auf eine über Erfahrung hinausgehende empirische Fundierung nicht besonders ankommt – und das ist in Anbetracht der gravierenden Konsequenzen von Fehlentscheidungen in beide Richtungen bei der Kandidatenauswahl eigentlich nicht zu vertreten.

Literatur

  • 1 Loo C. Measures for predicting therapeutic skilss and the effect of training.  Psychotherapy: Theory, Research, and Practice. 1979;  16 460-466
  • 2 Costanzo M, Philpott J. Predictors of Therapeutic Talent in Aspiring Clinicians: A Multivariate Analysis.  Psychotherapy. 1986;  23 (3) 363-369
  • 3 Beutler L E, Malik M, Alimohamed S. et al .Therapist Variables. In: Lambert MJ, Hrsg Bergin & Garfield's Handbook of psychotherapy and behavior change. (5th Ed.). New York; Wiley 2004: 227-306
  • 4 Eversmann J, Schöttke H, Wiedl K H. et al .Bedeutung der interpersonalen Kompetenz für den Ausbildungs- und Therapiererfolg angehender psychologischer Psychotherapeuten. Poster am Workshopkongress der Fachgruppe Klinische Psychologie, Deutsche Gesellschaft für Psychologie. 2009, in Vorbereitung
  • 5 Eversmann J. Psychometrische Überprüfung eines Auswahlverfahrens psychotherapeutischer Weiterbildungskandidaten. Unveröffentlichte Dissertation,. Universität Osnabrück; 2008
  • 6 Caspar F. Die Zukunft der Psychotherapieausbildung. In: Kuhr A, Ruggaber G, Hrsg Psychotherapieausbildung. Der Stand der Dinge. Tübingen; DGVT 2003: 163-174
  • 7 Caspar F. What goes on in a psychotherapist's mind?.  Psychotherapy Research. 1997;  7 (2) 105-125

Prof. Dr. Franz Caspar

Abt. Klinische Psychologie und Psychotherapie
Universität Bern

Gesellschaftsstr. 49

3012 Bern, Schweiz

Email: caspar@psy.unibe.ch

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