Z Sex Forsch 2009; 22(3): 227-254
DOI: 10.1055/s-0029-1224554
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter

Birgit Möller, Herbert Schreier und Georg Romer
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Publikationsdatum:
15. September 2009 (online)

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Überblick:

Variationen und Störungen der Geschlechtsidentitätsentwicklung im Kindes- und Jugendalter sind ein bislang wenig beachtetes, klinisch unterversorgtes und kaum beforschtes Phänomen. Dies hat zum einen mit ihrer Seltenheit zu tun, zum anderen spiegelt es den gesellschaftlichen ­Umgang mit der Thematik wider, der von Neugier und Interesse, aber auch von Verunsicherung und Abwehr geprägt ist. Diese Arbeit gibt einen Überblick über das Störungsbild, seine Prävalenz und seine Ätiologie. Psychologische, psychoanalytische und biologische Theorien zur Entwicklung einer GIS im Kindes- und Jugendalter werden dargestellt. Die Autoren diskutieren unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten und die mit ihnen einherge­henden Risiken, Vorteile und Nachteile. Zwei Fallgeschichten verdeutlichen, dass GIS im Kindes- und Jugendalter in ihrem klinischen Erscheinungsbild sehr vielfältig und komplex ist und die Entscheidung über eine mögliche Hormonbehandlung von den Betroffenen, den Eltern und einem multi­professionellen Team aus Kinder- und Jugendpsychiatern, Psychologen, Gen­derspezialisten und Pädiatrischen Endokrinologen konsensuell getroffen werden sollte.

Literatur

1 Gemeint sind in der Behandlung von Menschen mit GIS und Transsexualität erfahrene Sexualwissenschaftler / -mediziner mit entsprechender curriculärer Weiterbildung.

2 Eine weit verbreitete Symptomcheckliste für Eltern, es handelt sich um die Items 5: „Behaves like opposite sex“ und 110: „Wishes to be of opposite sex“.

3 Beim Adrenogenitalen Syndrom beispielsweise kommt es aufgrund einer Störung der Nebennierenfunktion und einer nicht ausreichenden Bildung des Hormons Kortisol zu einer Überproduktion männlicher Sexualhormone, die bereits während der Schwangerschaft einsetzt. Bei genetisch weiblichen Individuen (46,XX) kann der Einfluss dieser Hormone zu einer Vermännlichung des weiblichen Genitals in Form einer Klitorishypertrophie bis hin zu einem äußerlich komplett männlichen Genital führen. Wenngleich es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Level der Beeinflussung durch Androgene während der Schwangerschaft und dem Erleben einer Geschlechtsdysphorie gibt, entwickeln die Kinder zumeist eine weibliche Geschlechtsidentität mit Neigung zu männlichem Geschlechtsrollenverhalten (Richter-Appelt 2007).

4 Für eine vertiefende Übersicht über biologische Grundlagen und Zusammenhänge bei GIS sei folgender Artikel empfohlen: Nieder TO, Richter-Appelt H. Neurobiologische Korrelate bei Geschlechtsidentitätsstörungen. PiD – Psychotherapie im Dialog 2009, im Druck.

5 Bruce wurde, nachdem sein Penis bei der Beschneidung irreparabel beschädigt wurde, auf Anraten der behandelnden Psychologen (Money und Ehrhardt) durch Anlage einer Neovagina zum Mädchen umoperiert und als dieses erzogen. Der Psychologe nahm seinerzeit an, dass die Geschlechtsidentität vor dem zweiten Lebens­jahr noch veränderbar und einem äußeren Eingreifen zugänglich sei. Während sich Bruce zunächst – unterstützt von Hormonen – als Brenda mit einer weib­lichen Geschlechtsidentität zu entwickeln schien, wurde in sorgfältigen späteren Recherchen deutlich, dass er die ganze Zeit Schwierigkeiten hatte, sich in der weiblichen Rolle wohl zu fühlen und in dieser zu leben. Nachdem er im Erwachsenen­alter von seiner Vorgeschichte erfahren hatte, entschied er sich, als Mann zu leben. Er beging nach der Trennung von seiner Frau und dem Verlust seiner Arbeitsstelle im Jahr 2004 Selbstmord (für Einzelheiten der wissenschaftliche Debatte zu diesem Fall vgl. Money und Erhardt 1972; Diamond und Sigmundson 1997; Diamond 1999; Diamond und Richter-Appelt 2008).

6 Z. B. Amsterdam, Boston, Frankfurt, Gent, Hamburg, Oakland, Toronto, Washington.

7 Zu diesem Zweck hat sich seit 2006 eine überregionale Arbeitsgruppe konstituiert, zu der Experten aus den Bereichen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Sexual­medizin und Pädiatrischen Endokrinologie gehören.

Dr. B. Möller

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters · Zentrum für Psychosoziale Medizin · Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

eMail: bmoeller@uke.uni-hamburg.de