Z Sex Forsch 2009; 22(3): 255-267
DOI: 10.1055/s-0029-1224594
Dokumentation

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

„Du kannst Dir Deine Identität doch selber wählen …“

… auch in der Psychotherapie?[1] Ralf Binswanger
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Publication Date:
15 September 2009 (online)

Das Zitat, das ich zum Titel meines Vortrags machte, stammt aus der Filmdokumentation „Katzenball“ der Bernerin Veronika Minder. Einfühlsam zeichnet sie darin anhand von Interviews die Entwicklung der Lesbenbewegung in der Schweiz nach. Über lange Strecken wird man Zeuge davon, dass die Betroffenen ihre sexuelle Orientierung und den gesellschaftlichen Umgang damit gerade nicht selber wählen konnten. Sie durchliefen, je nach Charakter und Zeitperiode, ein beschwerliches individuelles Coming-out, erleichtert lediglich durch die kollektive progressive Bewegung, die ebenfalls ihr Coming-out hatte. Erst die Jüngste der Interviewten schien die Früchte dieses Prozesses für sich leichter ernten zu können. Sie fühlt nun keinen nennenswerten gesellschaftlichen Druck auf ihr individuelles Verhalten mehr. Sie kann sich einmal weiblicher und einmal männlicher geben und ihre Sexualität nach eigenem Gusto gestalten. 

Hat sie von dem profitiert, was Sigusch (2005) „neosexuelle Revolution“ nennt? Oder ist sie Teil einer privilegierten urbanen Mittelschicht, die an die sogenannte „neoliberale Revolution“ oder besser Konterrevolution von oben funktionell angepasst ist? Ilka Quindeau (2008) weist darauf hin, dass sich die Manifestationen sogenannter Neosexualitäten weniger auf das faktische Sexualverhalten beziehen als auf Bedeutungszuschreibungen und mediale Inszenierungen. Für die meisten Menschen scheint das Sexualleben eher konventionell geblieben zu sein, sofern man einer Erhebung von Gunter Schmidt[2] glauben will: „Etwa 95 % aller Geschlechtsverkehre erfolgen danach in festen Beziehungen, und zwar unabhängig von Geschlecht, Alter und Wohnort; etwa 1 % findet in Außenbeziehungen statt und nur 5 % bei Singles, obwohl sie 25 % der Befragten ausmachen.“

Trotzdem sind gesellschaftliche Entwicklungen unübersehbar, die im Bewusstsein vieler Menschen Konfusionen verursachen. Sigusch hat sie mit drei Begriffen zusammengefasst: Dissoziation, Dispersion und Diversifikation des Sexuellen (Sigusch 2005). Durch die Dissoziation werden Sexualität und Fortpflanzung getrennt und letztere oft auch vom Körper, wenn z. B. Fertilisationen in vitro stattfinden. Ferner trennen sich die Geschlechterrollen zunehmend von der körperlichen und psychisch wahrgenommenen Geschlechtsidentität. Als sexuelle Dispersion bezeichnet Sigusch die Zerstreuung von Partikeln, Segmenten und Lifestyles, die mit den kulturellen Dissoziationen der bisher einheitlichen „Sexualität“ und der umfassenden Kommerzialisierung der einzelnen Sphären einhergeht. Unter den Bezeichnungen Diversifikation oder Deregulierung werden Veränderungen in der Institution Familie zusammengefasst, die sich in Schrumpfungs- und Entwertungstendenzen ebenso zeigen wie in der Vervielfältigung traditioneller Beziehungs- und Lebensformen (vgl. auch Quindeau 2008). 

1 Dokumentation eines Vortrags, gehalten auf der 5. Klinischen Tagung der DGfS vom 15. bis 17.5.2009 in Münster.

Literatur

1 Dokumentation eines Vortrags, gehalten auf der 5. Klinischen Tagung der DGfS vom 15. bis 17.5.2009 in Münster.

2 Schmidt (2006), hier paraphrasiert von Quindeau (2008: 9)

3 Es besteht hier eine Parallele im Verhalten gegenüber Berichten zu kindlichen Traumatisierungen. Man nimmt sie ganz selbstverständlich entgegen. Falls sie oder ein Teil davon fantasiert sind, wird sich das im Rahmen von Übertragung und Gegenübertragung früher oder später klar herausstellen.

4 Zu meiner Auffassung von Dialektik in der Psychoanalyse siehe Binswanger (2003).

5 Dazu siehe Binswanger (2003, 2004)

6 Reiche (2005 / 2006) überdehnt seine nicht unberechtigte Ideologiekritik an diesen Konzepten Morgenthalers, wenn er dem Autor eine Geringschätzung der vollzogenen Sexualität unterstellt (vgl. insbes. 282 f.). Morgenthaler (1984: 148) beschreibt die organisierte Sexualität tatsächlich zunächst als „Diktatur der Sexualität […] um das Erzwungene und Unfreiwillige hervorzuheben, das die Sexualorganisation mit den in sie eingebauten Triebschicksalen aus der Kindheit dem menschlichen Erleben auferlegt“. Unter Rückgriff auf den Wiederholungszwang und die extreme Abhängigkeit der menschlichen „Frühgeburt“ macht er aber „deutlich, dass das Erzwungene und Starre, das der Sexualität anhaftet, auf der tief verankerten Verknüpfung von sexuellen Objektbesetzungen mit der Abhängigkeit vom Sexualobjekt beruht, ein Prozess, der dann zu einem Circulus vitiosus führt“ (ebd.: 149). Diese Verknüpfung mit der Abhängigkeit macht in meiner Interpretation erst die Diktatur der Sexualität aus. Das wird deutlich, wenn man weiter verfolgt, wie er sein Konzept anwendet.

7 Verwirrend, weil der Begriff suggeriert, dass eine unbewusste Homosexualität durch Aufdeckung manifest werden sollte.

8 Für eine ausführliche Erläuterung dieses Zusammenhangs vgl. Binswanger (2009).

9 Was ich früher (1996) als verschiedene elterliche Reaktionen auf die Masturbation ihrer kleinen Kinder unterschieden habe – eine normale irritierte sowie entsetzte, liberale und erotisierte  als mögliche pathogene – lässt sich zwanglos hier anwenden. Man könnte neosexuelle Inszenierungen auch als Umsetzungen von zentralen Masturbationsfantasien nach Laufer und Laufer (1980, 1984) betrachten, die eine progressive Funktion bei der erwachsenen Identitätsbildung haben.

  • 1 Argelander H. Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970
  • 2 Balint E, Norell J S , Hrsg. Fünf Minuten pro Patient. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1977 (Orig.: 1973)
  • 3 Binswanger R. Kindliche Masturbation – ein genetischer Gesichtspunkt, insbesondere bei Anorexia und Bulimia nervosa.  Psyche. 1996;  50 644-670
  • 4 Binswanger R. Zur Praxis der Dialektik in der Psychoanalyse.  Werkblatt. 2003;  51 3-24
  • 5 Binswanger R. Lesehilfe zur Technik Fritz Morgenthalers.  Werkblatt. 2004;  ,  [Online-Dokument: www.werkblatt.at/morgenthaler/lesehilfe.htm]
  • 6 Binswanger R. „Die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion“ – oder der sexuellen Orientierung?. 2009; (in Vorb.)
  • 7 Dannecker M, Reiche R. Der gewöhnliche Homosexuelle. Frankfurt / M.: Fischer 1974
  • 8 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW V (Orig.: 1905)
  • 9 Freud S. Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. GW VIII, 375–387 (Orig.: 1912)
  • 10 Freud S. Wege der psychoanalytischen Therapie. GW XII, 181–194 (Orig.: 1919)
  • 11 Freud S. Massenpsychologie und Ich-Analyse. Nachtrag C. GW XIII, 154–157 (Orig.: 1921)
  • 12 Freud S. „Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“. GW XIII, 209–233 (Orig.: 1923)
  • 13 Körbitz U. … im Fluss der emotionalen Bewegung.  Werkblatt. 2002;  50 49-57
  • 14 Laufer M. Zentrale Onaniephantasie, definitive Sexualorganisation und Adoleszenz.  Psyche. 1980;  34 365-384
  • 15 Laufer M, Laufer M E. Adolescence and Developmental Breakdown. New Haven: Yale University Press 1984
  • 16 Morgenthaler F. Homosexualität, Heterosexualität, Perversion. Gießen: Psychosozial-Verlag 2004 (Orig.: 1984)
  • 17 Morgenthaler F. Technik. Zur Dialektik der psychoanalytischen Praxis. Gießen: Psychosozial-Verlag 2005 (Orig.: 1978)
  • 18 Quindeau I. Verführung und Begehren. Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud. Stuttgart, Klett-Cotta 2008
  • 19 Reiche R. Das Sexuelle bei Morgenthaler.  Journal des Psychoanalytischen Seminars Zürich. 2005 / 2006;  280-297
  • 20 Schmidt G, Matthiesen S, Dekker A et al. Spätmoderne Beziehungswelten. Report über Partnerschaft und Sexualität in drei Generationen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006
  • 21 Sigusch V. Die neosexuelle Revolution.  Journal des Psychoanalytischen Seminars Zürich. 2005;  264-277
  • 22 Stone L. Die psychoanalytische Situation. Frankfurt / M.: Fischer 1993 (Orig.: 1961)

Dr. med. R. Binswanger

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CH-8032 Zürich

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