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DOI: 10.1055/s-0029-1224598
© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York
Willensfreiheit bei Störungen der Sexualpräferenz
Kommentar zu den Überlegungen von Peer BrikenPublication History
Publication Date:
15 September 2009 (online)

Um der Frage „wie frei ist der Mensch mit einer Paraphilie?“ gerecht zu werden, darf ein wichtiger Aspekt nicht außer Acht gelassen werden: die Unterscheidung zwischen Schuldunfähigkeit – definiert über Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit – und Willensfreiheit. Ist damit die im forensisch-psychiatrischen Kontext gestellte Frage nach der Steuerungsfähigkeit (und Einsichtsfähigkeit) eines Menschen mit Paraphilie gemeint, so ist eine kritische Überprüfung der aktuellen empirischen Datenlage und der aktuellen theoretischen Konzeptionen zu Paraphilien in foro notwendig. Der aktuell von Briken vorgelegte Artikel fasst diese Aspekte nochmals zusammen, bringt sie auf den neusten Stand und beleuchtet diese auch aus einer neuen Perspektive, insbesondere unter Einführung des Begriffs der „Selbstbestimmung“.
Zielt die Frage jedoch auf die grundsätzliche Freiheit eines Menschen mit einer Paraphilie und damit auf die Frage der Willensfreiheit ab, so kommt man nicht umhin, auch die philosophischen (und zum Teil auch wissenschaftstheoretischen) Aspekte dieser Frage zu berücksichtigen. Es scheint, als ob diese Unterscheidung nicht immer konsequent vollzogen wird und dadurch unterschiedliche Konzepte (und insbesondere unterschiedliche Begrifflichkeiten) miteinander vermengt werden, die oftmals nur bedingt miteinander zu tun haben oder je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen besitzen. Denn der Begriff der Selbstbestimmung spielt auch innerhalb philosophischer Gedankengänge zur Willensfreiheit eine entscheidende Rolle, beispielsweise in dem aktuell oft zitierten, von Michael Pauen entworfenen kompatibilistischen Minimalkonzept der Willensfreiheit (Pauen 2004).
Briken definiert eine selbstbestimmte Handlung als eine Handlung, die nicht zufällig und die begründbar ist. Was bedeutet Selbstbestimmung im Kontext der Minimalkonzeption von Pauen? Selbstbestimmung wird gleichgesetzt mit der gleichzeitigen Existenz von Autonomie und Urheberschaft. Mit Autonomie ist im Wesentlichen die Abwesenheit von Zwang und mit Urheberschaft die Abwesenheit von Zufall gemeint. Jedoch ist eine begründete oder begründbare Handlung nicht gleichzusetzen mit einer autonomen Handlung. Dass der Bankangestellte das Geld für den Bankräuber aus dem Tresor holt, weil ihm dieser eine Pistole an den Kopf setzt, ist sehr wohl begründet und begründbar, es ist aber offensichtlich keine autonome Handlung. Um die Autonomie einer Handlung sicherzustellen und so Zwang auszuschließen führt Briken noch das Konzept der Selbstkontrolle ein. Dieses wird nicht weiter definiert und so ist zumindest fraglich, welches Selbst denn die Kontrolle ausüben muss.
Bei Pauen wird diese Frage, die bereits im Konzept der Selbstbestimmung aufgeworfen wird, über die Einführung personaler Präferenzen gelöst. Personale Präferenzen sind dann definiert als Wünsche, Charaktermerkmale und Überzeugungen, die konstitutiv für eine Person sind. Darüber hinaus beinhaltet eben das Konzept der Selbstbestimmung (zumindest nach Pauen) bereits die Existenz von Autonomie und macht so die Einführung der Existenz von Selbstkontrolle als zusätzliches Konzept unnötig.
In der philosophischen Diskussion zur Willensfreiheit kristallisierten sich nach Beckermann (2005) innerhalb der letzten Jahrhunderte drei Grundvoraussetzungen oder Bedingungen heraus, die erfüllt sein müssen, damit von Willensfreiheit die Rede sein kann. Die Bedingung der Handlungsalternativen besagt, dass eine Person aufgrund von alternativen Wahlmöglichkeiten auch anders hätte handeln bzw. sich anders hätte entscheiden können als sie es getan hat. Die Urheberschaftsbedingung fordert zweitens, dass die Art der Handlung oder Entscheidung von der Person selbst getroffen oder verursacht worden sein muss. Drittens muss eine Handlung oder eine Entscheidung der Kontrolle des Handelnden oder Entscheidenden unterliegen. Die Person darf insbesondere nicht einem Zwang ausgesetzt sein, der diese Kontrolle verhindert (Kontrollbedingung). Diese drei Kriterien werden von den Vertretern der meisten Grundpositionen, ob nun Freiheitsskeptiker, Freiheitspessimisten, weicher Determinist oder Libertarianer akzeptiert. Will man die Frage nach der Willensfreiheit stellen, so sollte man zumindest auf diese drei Kriterien Bezug nehmen, wenn man nicht 400 Jahre Geisteswissenschaft übersehen will. Diesen Anforderungen muss auch eine Betrachtung der Willensfreiheit innerhalb eines spezifischen Kontextes, wie beispielsweise der Paraphilie, genügen. Die Nennung von Grundvoraussetzungen für Willensfreiheit, wie beispielsweise Selbstbestimmung und Selbstkontrolle, ohne diese mit den drei genannten (philosophischen) Kriterien in Bezug zu setzen und ohne eine logische Begründung, dass diese für Willensfreiheit notwendig und hinreichend sind, reicht nicht aus. Denn dann handelt es sich eben um zwei Begriffe, die in die Diskussion der forensisch-psychiatrischen Begutachtung von Paraphilien eingebracht werden, nicht in die Diskussion um Willensfreiheit. Dadurch wird erneut deutlich, wie wichtig eine klare Trennung zwischen Willensfreiheit und Schuldfähigkeit im forensisch-psychiatrischen Sinne ist, will man nicht Äpfel anbieten und Birnen verkaufen.
Wenn man die Frage der Willensfreiheit bei Paraphilien stellt, dann ist weiterhin zu bedenken, dass Paraphilie als eine psychiatrische Störung definiert ist, als eine Störung der Sexualpräferenz. Und als solche ist sie zu einem gewissen Grade von gesellschaftlichen Konventionen abhängig. Wie stark insbesondere Störungen des sexuellen Erlebens und Verhaltens von solchen Konventionen abhängig sind, wird am Beispiel der Homosexualität deutlich, die noch in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts als psychische Störung zu diagnostizieren war. Blickt man noch weiter in der Geschichte zurück, dann lassen sich weitere Beispiele finden, man denke nur an das klassische Altertum (z. B. Fiedler, 2004). Die heutigen Klassifikationssysteme psychischer Störungen sind natürlich nicht auf dem Stand der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts und es ist unstrittig, dass die so definierten Störungen der Sexualpräferenz störungswertige psychische Beeinträchtigungen nach sich ziehen können. Dies untermauern unter anderem die aktuellen neurobiologischen Befunde, die auf neurofunktionelle oder neurostrukturelle Abweichungen paraphiler Probanden von nicht paraphilen Probanden hinweisen. Beispielsweise zeigt die aktuelle Datenlage bei Pädophilie strukturelle neuroanatomische Auffälligkeiten in Hirnregionen auf, die an der Verarbeitung sexueller Reize oder an der Steuerung sexuellen Verhaltens beteiligt sind (vgl. Cantor 2008). Auch konnten auf neurofunktioneller Ebene Störungen bei der Verarbeitung sexueller Reize nachgewiesen werden (z. B. Schiffer et al. 2008; Sartorius et al. 2008; für einen Überblick siehe Fromberger et al. 2007).
Diese Erkenntnisse machen deutlich, dass das Störungskonzept Pädophilie berechtigt ist, darüber hinaus besitzen sie aufgrund der geringen Datenlage aber noch keine Aussagekraft für die Beurteilung der Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit dieser Probanden. Gleiches gilt für die neurobiologisch orientierten Theorien zur Pädophilie (z. B. Cantor 2008), da eine empirische Überprüfung dieser Theorien noch aussteht (Fromberger et al., 2009 (im Druck). Nicht neurobiologische Untersuchungen zur Pädophilie verdeutlichen ebenfalls den Krankheitswert pädophiler Interessen, sowohl auf emotionaler als auch auf kognitiver Ebene (z. B. Ward et al. 1995, 1997).
Aber inwieweit hat es Sinn, die Frage der Willensfreiheit anhand psychiatrischer Störungsbilder zu diskutieren? An einem Beispiel wird dies deutlich. Man stelle sich vor, dass irgendwo eine noch unentdeckte Insel existiert, deren Bevölkerung nicht paraphile sexuelle Verhaltensweisen grundsätzlich ablehnt und dies bereits seit Jahr und Tag. Die Fortpflanzung erfolgt ausschließlich über künstliche Befruchtungen. Wer hetero- oder homosexuelle Verhaltensweisen an den Tag legt, handelt gegen jede gesellschaftliche Norm. Aus einem dummen Zufall heraus strandet ein Mensch aus unserer Welt, sagen wir ein heterosexuell orientierter Mensch, auf dieser Insel. Als die Inselbewohner sehen, welchen absonderlichen Sexualpraktiken dieser Mensch frönt ohne den vorherrschenden sexuellen Verhaltensweisen der Inselbewohner etwas abgewinnen zu können (und auch nicht wirklich damit aufhören zu können), wird er zum Inselpsychiater gebracht. Nehmen wir an, dass dieser nicht umhin kommen würde, die von dem gestrandeten Menschen gezeigten Sexualpraktiken als deviant und störungswertig einzustufen. Der Inselphilosoph hört von diesem außergewöhnlichen Fall und weil er sich sowieso gerade Gedanken über die Willensfreiheit des Menschen macht, denkt er darüber nach, inwieweit eine heterosexuelle Orientierung die Willensfreiheit des Menschen aufheben könnte. Für unsere Ohren klingt diese Frage natürlich etwas ungewöhnlich, denn wir würden sagen, dass ein Mensch mit heterosexueller Orientierung ja in unserer Welt der Normalität entspricht, und deshalb ein heterosexuell orientierter Mensch ebenso frei oder unfrei ist, wie ein Mensch der täglich Nahrung zu sich nimmt. Umgekehrt würde die hier diskutierte Frage der Willensfreiheit bei Paraphilie für die Inselbewohner ebenso ungewöhnlich klingen, da eben in deren Weltbild ein paraphiler Mensch der Norm entspricht. Antworten auf die Frage der Willensfreiheit sind nur dann sinnvoll, wenn sie für die Menschheit an sich Gültigkeit besitzen, also auch unabhängig von den gesellschaftlichen Normen sind, in denen der Mensch lebt. Deshalb erscheint es wenig sinnvoll, Willensfreiheit am Beispiel der psychiatrischen Störung Paraphilie zu diskutieren. Stattdessen wäre – wenn überhaupt – zu fragen, inwieweit die Sexualität des Menschen in ihrer Gesamtheit eine Rolle für die Willensfreiheitsdebatte spielt.
Literatur
- 1 Beckermann A. Free will in a natural order of the world. In: Nimtz C, Beckermann A, Hrsg. Philosophie und / als Wissenschaft. Paderborn: Mentis, 2005; 111–126
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Cantor J M, Kabani N, Christensen B K et al.
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- 3 Fiedler P. Sexuelle Orientierung und sexuelle Abweichung. Weinheim: Beltz, 2004
- 4 Fromberger P, Krippl M, Stolpmann G et al. Neurobiologie der pädophilen Störung – eine methodenkritische Darstellung bisheriger Forschungsergebnisse. Forens Psychiatr Psychol Kriminol. 2007; 1 249-258
- 5 Fromberger P, Stolpmann G, Jordan K et al. Neurobiologische Forschung bei Pädophilie – Ergebnisse und deren Konsequenzen für die Diagnostik pädosexueller Straftäter. Z Neuropsych. 2009; , (im Druck)
- 6 Pauen M. Freiheit: Eine Minimalkonzeption. In: Hermanni F, Koslowski P, Hrsg. Der freie und der unfreie Wille. München: Carl Hanser Verlag, 2004; 79–112
- 7 Sartorius A, Ruf M, Kief C et al. Abnormal amygdala activation profile in pedophilia. Eur Arch Psych Clin Neurosci. 2008; 258 271-277
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Schiffer B, Paul T, Gizewski E et al.
Functional brain correlates of heterosexual pedophilia.
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- 9 Ward T, Hudson S M, Johnston L et al. Cognitive distortions in sex offenders. An integrative review. Clin Psychol Rev. 1997; 17 479-507
- 10 Ward T, Hudson S M, Marshall W L. Cognitive distortions and affective deficits in sex offenders: A cognitive deconstructionist interpretation. Sex Abuse. 1995; 7 67-83
P. Fromberger
Georg-August-Universität Göttingen · Abteilung für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
Rosdorfer Weg 70
37081 Göttingen
Email: peter.fromberger@medizin.uni-goettingen.de