ergoscience 2010; 5(3): 89-90
DOI: 10.1055/s-0029-1245542
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

F. Kronenberg
Further Information

Publication History

Publication Date:
16 August 2010 (online)

Liebe Leserinnen und Leser,

unabhängig davon, ob Sie sich nun für Fußball als die populärste Sportart der Welt interessieren und die Fußballweltmeisterschaft, die im Übrigen zum ersten Mal in Afrika stattfand, verfolgten oder nicht, scheint es nahezu unmöglich zu sein, sich den „positiven” und „negativen” Energien dieser „collective occupation” gänzlich zu entziehen [5]. Wahrscheinlich ist Ihnen bewusst, dass die Fußballweltmeisterschaft von 2006 in Deutschland der deutschen „Volksseele” Auftrieb gegeben und die Deutschen über lange Zeit mit einem Gefühl des Stolzes und mit Selbstvertrauen versorgt hat [1]. Es wird allgemein erhofft, dass dieses Mega-Event einen ähnlichen Effekt auf die südafrikanische Psyche haben wird. Damals war das Motto in Deutschland „A Time to Make Friends”, während es in Südafrika „Kenako (it is time to) Celebrate Africa’s Humanity” lautete.

Während des Eröffnungskonzerts in Johannesburg am 10.6.2010 sandte der Emeritus und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu eine Grußbotschaft an Milliarden Menschen in der Welt: „Wir begrüßen Sie alle herzlich, denn Afrika ist die Wiege der Menschheit. Herzlich willkommen zu Hause an alle … Deutsche, Franzosen und jeder einzelne von Ihnen, wir sind alle Afrikaner.” Das Vorwort zu dem in Kürze erscheinenden Buch „Occupational Therapies without Borders: Towards an Ecology of Occupation-Based Practices” [3] spricht eine ähnliche Sprache: „Als Ergotherapeuten leisten Sie einen signifikanten Beitrag, der sich nach Vivienne Budazas Erläuterung der Beschäftigungsgerechtigkeit (occupational justice) am besten mit „gemeinsam erfolgreich’ („doing well together”) zusammenfassen lässt, was es Menschen aller Gesellschaftsschichten erlaubt, einen wertvollen Beitrag zum Wohlbefinden anderer beizutragen.” Dies war auch die Schlussbotschaft im Eröffnungsvortrag des jüngsten DVE-Kongresses in Erfurt, der zu „einer politischen Praxis der Ergotherapie” aufrief [2].

Es scheint zu einfach, die WM in Südafrika lediglich als aktuellen Ausdruck von „panem et circensem” („Brot und Spiele”) zu betrachten, zumal dieser Begriff eine Bevölkerung verhöhnt, die keine Wertschätzung für bürgerliche Errungenschaften und öffentliches Leben mehr aufbringt. Hier möchte ich einmal den Advokaten des Teufels spielen. Vielleicht haben Sie von der Kontroverse um den Einsatz der Vuvuzelas gehört, diesen etwa einen Meter langen Kunststoffhörnern oder -trompeten, die unter den Fußballfans Südafrikas populär sind. Ein gefülltes Stadion voller Vuvuzela-Bläser klingt wie ein Schwarm bösartiger Bienen. Ein beinahe ebenso großer Lärm wurde und wird von den Menschen verursacht, die sich an diesem Sound erheblich stören und für ein Verbot der Vuvuzelas in den Stadien eintreten. Diese Auseinandersetzung erinnert mich an die lautstarke Reaktion innerhalb der internationalen Gemeinschaft der Ergotherapeuten auf den Begriff der „occupational apartheid” [4] [7].

Hauptziel war es, kritische Aufmerksamkeit hervorzurufen und eine Debatte anzustoßen über die politische Natur unseres beruflichen Selbstverständnisses sowie über die Anwendung seiner Kernkonzepte und Mittel zur Veränderung von „Beschäftigung”. Obwohl ich selbst den Vuvuzela-Sound nicht besonders mag, erst recht nicht, wenn 80 000 Menschen gleichzeitig in solche Instrumente hineinblasen, möchte ich sie doch nicht verboten sehen. Und was, wenn der Vuvuzela-Sound auch eine Dissonanz ist, ein Ausdruck der Ablehnung der anhaltenden historischen Ungerechtigkeit, mit der der Kontinent Afrika und seine Menschen zu kämpfen haben? Natürlich wollten die FIFA und Südafrika sich von der besten Seite zeigen. Doch der zugegebenermaßen ärgerliche Krach der Vuvuzelas konnte uns eigentlich daran erinnern, dass nicht alles gut ist, dass nicht allen Menschen ein „doing well” möglich ist. Diese Wirklichkeit hindert nicht nur die verschiedenen Populationen Südafrikas daran, es sich „gemeinsam gut gehen zu lassen”, sondern tatsächlich auch unsere lokalen Gesellschaftsgruppen weltweit. Die Vuvuzelas zu verbieten oder in anderer Weise zum Schweigen zu bringen wäre in etwa so, als verabreiche man ein Schmerzmedikament, wenn eigentlich eine sorgfältige Untersuchung und Ursachenbekämpfung der Schmerzen angebracht wäre.

Ganz ähnlich erfordert auch eine politische Praxis der Ergotherapie die Anerkennung von Meinungsverschiedenheiten, fordert Debatte und Engagement in den Fragen, die eine Einschränkung oder Verweigerung des Zugangs zu rechtmäßiger Beschäftigung betreffen [7]. Möge der Klang der Vuvuzelas erst leiser werden und verstummen, wenn wir besser darin werden, frühere und gegenwärtige Ungerechtigkeiten in den einzelnen Gemeinden unseres globalen Dorfes anzuprangern.

Für das Herausgeberteam

Frank Kronenberg

Literatur

Frank Kronenberg

Shades of Black Works

25 Raapenberg Road Little Mowbray

7700 Kapstadt

Südafrika

Email: frank@shades-of-black.co.za

    >