Dtsch Med Wochenschr 2010; 135(17): 874
DOI: 10.1055/s-0030-1253673
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Klinische Leitlinien – Wie gewonnen so zerronnen?

Clinical guidelines – after the gathering comes the scattering?A. K. Exadaktylos, G. Aeschbacher, H. Zimmermann
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eingereicht: 21.9.2009

akzeptiert: 12.3.2010

Publication Date:
20 April 2010 (online)

Die medizinische Forschung überflutet uns mit Ergebnissen und daraus resultierenden Behandlungsempfehlungen. In Leitlinien zusammengefasst erscheinen diese Empfehlungen in den einschlägigen Journalen und sollten so Eingang in unseren Alltag finden. Aber wer richtet sich danach? Wer achtet darauf, dass z. B. bestehende Leitlinien umgesetzt werden, bevor neue entstehen? Oder richten wir Mediziner uns nur selbst, indem wir uns und den medizinischen Fortschritt unter einer Lawine von immer neuen Leitlinien ersticken? Die Diskussion um den Sinn von selbigen wird im Moment quer durch viele Journals geführt: „Has guideline development gone astray?” [1] [4]

Verschiedene Studien zeigen, dass es selbst in Ländern der Ersten Welt noch an der Umsetzung von banalen Behandlungskonzepten hapert wie z. B. der Einstellung des Bluthochdrucks [2]. Weitere Untersuchungen legen den Finger auf einen anderen wunden Punkt: weniger als 30 % unserer täglichen Arbeit basiert auf Evidenz [6]. In einer seiner wohl bedeutendsten Publikationen bezeichnete C. Lenfant (ehemaliger Direktor des US National Institute of Health) dies als einen „translationalen Verlust”: die Unfähigkeit, theoretisches Wissen in die Praxis umzusetzen, bei gleichzeitigem Verschwinden von bestehendem und evidentem Wissen [5]. Je größer diese Schere klafft, desto schwieriger wird es, auf Bestehendem aufzubauen. Leitlinien werden oft zum Eigenzweck verfasst, in den Treibsand unseres medizinischen Alltags gesetzt, um dann in demselben zu versinken oder von der nächsten wissenschaftlichen Wanderdüne bedeckt zu werden. Wir forschende Ärzte fragen uns zu selten: Welches Wissen existiert schon, worauf sollte aufgebaut werden, was sollte man zuerst stärken, bevor man Neues schafft? Wir sind stark darin, Ergebnisse zu produzieren, gehen aber sorglos mit unseren geistigen Kindern um, überlassen sie häufig sich selbst und kümmern uns kaum um deren Entwicklung. Wäre aber nicht genau das der Sinn treibender Forschung? Welche Eltern wären wir, würden wir unserem Nachwuchs Liebe, Pflege, Unterstützung und Schutz vorenthalten? Warum verweigern wir gerade dies unserem geistigen Nachwuchs, den Leitlinien? Das Konzept, auf dem unsere Welt besteht, hat die klinische Medizin ganz offensichtlich noch nicht voll erreicht.

Wissen in Handeln umsetzen

Einige neue Wege beschreitet deshalb die „knowledge translation” (KT) oder „translational medicine” (TM). In der Industrie schon lange ein fundamentaler Bestandteil von Fortschritt und Entwicklung kann KT helfen, evidentes Wissen in praxisrelevantes Tun umzuwandeln [8] Gerade hier liegt die Schwachstelle des Kenntniskreislaufs, wenn zu schaffendes oder neu geschaffenes Wissen nicht genügend auf Praxistauglichkeit überprüft werden. Der Kreis wird nicht geschlossen und Leitlinien verfehlen den ihnen zustehenden Status: ein effizientes und kompetentes Werkzeug für den behandelnden Arzt.

Viele unserer wichtigen klinischen Empfehlungen zur Patientenbetreuung schaffen es kaum zum Adressaten, dem Mediziner, geschweige denn zum Patienten. Aber auch das Zielpublikum unserer Forschung ist nicht unschuldig an dieser Entwicklung. Die Literatur liefert genug Gründe für die Diskrepanz zwischen Evidenz und Praxis und zeigt, wo die Wurzeln des Fehlverhaltens liegen: Unkenntnis der Literatur, fehlende Erfahrung/Vertrautheit im Umgang mit Evidenz, fehlende subjektive Zustimmung, mangelnde Erwartungen an den Erfolg, Bequemlichkeit aufgrund eingespielter Praxis und externe Hindernisse [3].

Wo gibt es Änderungsmöglichkeiten?

Änderungsmöglichkeiten bestehen v. a. darin, unermüdlich Bewusstsein und Verständnis für klinische Zusammenhänge zu schärfen, Unsicherheiten betreffend neuer Forschungsresultate zu beheben und Einflüsse auf Entscheidungsprozesse zu nehmen. Am wenigsten tauglich ist das „Verordnen” von Leitlinien von oben nach unten. Hier sind v. a. die Vorgesetzten in der Verantwortung. Weitere Möglichkeiten bieten klinische Forschungsprojekte durch die aktive Einbindung derer, die die Empfehlungen umsetzen sollen und somit die Praktikabilität kontinuierlich verbessern können [7]. Diese Art von Forschung wird in der einschlägigen Literatur noch nicht genügend gewürdigt. Die Kontinuität der Forschung und ihrer entspringenden Leitlinien muss von „Bench zu Bedsite” erhalten bleiben. Unterbricht diese Kette an einer Stelle, geht Wissen verloren oder kann nicht umgesetzt werden.

Fazit

Leitlinien verfehlen ihr Ziel, wenn die mit der Umsetzung Betrauten sich nicht angesprochen fühlen und bei der Anwendung weder ermutigt noch unterstützt werden. Die Empfehlungen sollten im täglichen klinischen Einsatz kontinuierlich überprüft werden. Dies kann nur geschehen, wenn sie auch auf den Prüfstand kommen. Leitlinien sollen helfen, bei der klinischen Tätigkeit die neuesten Forschungsresultate zum Wohl der Patienten einzusetzen. Zukünftige akademische Anstrengungen müssen deswegen vermehrt den Fokus auf die Übersetzung – Übertragung der Kenntnisse – und die Umsetzung des bestehenden Wissens und weniger auf das unentwegte Verfassen und Veröffentlichen von neuen Empfehlungen setzen.

Autorenerklärung: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur

  • 1 Boehnert M U, Zimmermann H, Exadaktylos A K. O knowledge, where art thou?.  J Eval Clin Pract. 2009;  15 1177-1179
  • 2 Bramlage P, Thoenes M, Kirch W, Lenfant C. Clinical practice and recent recommendations in hypertension management – reporting a gap in a global survey of 1259 primary care physicians in 17 countries.  Curr Med Res Opin. 2007;  23 783-791
  • 3 Cabana M D, Rand C S, Powe N R. et al . Why don’t physicians follow clinical practice guidelines? A framework for improvement.  JAMA. 1999;  282 1458-1465
  • 4 Gibbons R J, Antman E M, Smith S C. Has guideline development gone astray? No.  BMJ. 2010;  340 c343
  • 5 Lenfant C. Shattuck lecture – clinical research to clinical practice – lost in translation?.  N Engl J Med. 2003;  349 868-874
  • 6 Lenfant C. Clinical management guidelines: status and issues.  Curr Atheroscler Rep. 2005;  7 171-172
  • 7 Sargeant J, Hurley K F, Duffy J. et al . Lost in translation or just lost?.  Ann Emerg Med. 2008;  52 575-576; author reply 576 – 577
  • 8 Straus S, Tetroe J, Graham I . Knowledge Translation in Health Care: Moving from Evidence to Practice. Blackwell Publishing Ltd; 2009

PD Dr. med. A. K. Exadaktylos
Dr. med. vet. G. Aeschbacher execMPH
Prof. Dr. med. H. Zimmermann

Universitäres Notfallzentrum, Inselspital

CH-3010 Bern, Schweiz

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