Zeitschrift für Palliativmedizin 2010; 11(3): 89-90
DOI: 10.1055/s-0030-1254259
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Leitlinien zur palliativen Sedierung - Diskussion beendet?

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Publication Date:
25 May 2010 (online)

 

Dr. Bernd Alt-Epping, Göttingen

Dr. Thomas Sitte, Fulda

Sedierende Maßnahmen sind ein hochsensibles Instrument der Symptomkontrolle in der Palliativversorgung mit dem Risiko des Fehlgebrauchs; sie werden sowohl in der medizinischen als auch in der ethischen Bewertung oft emotional und kontrovers diskutiert. Daher ist es uneingeschränkt zu begrüßen, dass durch die EAPC (Cherny und Radbruch 2009) die vorhandenen Evidenzen gesichtet und die daraus resultierenden Handlungsprinzipien so dargestellt werden, dass sie für die konkrete Entscheidungsfindung "vor Ort" hilfreich sein können.

Hierdurch wird die Diskussion um den medizinischen Stellenwert und die ethische Bewertung der palliativen Sedierung (pS) auf ein verbindlicheres Niveau gehoben und weiter getragen - sie ist jedoch damit nicht beendet:

Gerade bei der pS mit ihren differenzierten Vorgehensweisen in Abhängigkeit zum Zeitpunkt des Versterbens sind die benutzen Begriffe, die verschiedene Abschnitte der letzten Lebensphase bzw. der Sterbephase definieren sollten, bislang uneinheitlich (und uneindeutig) verwendet worden (z. B. "at the end of life", "final"). Vergleichbares traf zu, wenn die Tiefe einer Sedierung oder eine akute krisenhafte und kurzfristig den Tod herbeiführende Situation beschrieben werden soll, die ein besonderes Vorgehen bei der pS rechtfertigt ("catastrophic events", "emergency sedation"). Hier tragen die Leitlinien sehr zur Klarstellung bei. Die deutsche Übersetzung hat versucht, diesem Aspekt Rechnung zu tragen. Die Leitlinien stellen klar: es handelt sich bei der pS um eine genuine Maßnahme der Symptomkontrolle, der eine medizinische Indikationsstellung zugrunde liegt. Diskussionsfläche bietet hier die Frage, ob sich gerade bei der pS die Rolle des Patienten (bzw. stellvertretend seiner Angehörigen) darauf beschränkt, dem aus der Indikationsstellung resultierenden Therapievorschlag zuzustimmen bzw. ihn abzulehnen. Wie stark sollte der Wunsch des Patienten oder der Angehörigen in die medizinische Indikationsstellung und in den Entscheidungsfindungsprozess einfließen? Die Leitlinien geben wertvolle Verfahrenshinweise für das Vorgehen bei psychischem Leiden (Anhang 1). In der Praxis kann sich jedoch eine Diskussion über die Differenzierung von physischem und psychischem Leid entfachen, was sich auch im Konzept des beide Aspekte umfassenden "total pain" oder im Begriff der englischen Originalversion "suffering" widerspiegelt. Diese besondere Dimension von Leid in der Palliativphase kann daher als Indikation zur pS Probleme bereiten. Die Leitlinien differenzieren unterschiedliche Vorgehensweisen bei der pS in Abhängigkeit der individuellen Situation, auch in Abhängigkeit der Krankheitsphase, in der sich der Patient befindet. Die rechtfertigenden Kriterien, die sich auf die relative Todesnähe stützen, werden jedoch in der wissenschaftlichen Diskussion teils in Frage gestellt (vergl. Cellarius 2008). Diskussionsstoff bietet auch die Bedeutung des Umfeldes, in dem der Patient sich befindet. Ob am Notfallort, in der Notaufnahme, auf der Intensiv-, Palliativ- oder Normalstation, im Hospiz oder Pflegeheim, mit Hausarzt, mit oder ohne professionelle Begleiter, stets befinden sich die Handelnden und Verantwortlichen in verschiedenen Spannungsfeldern, in denen alle Betroffenen und Behandler mit ihrem divergierenden Wissensstand und ihren unterschiedlichen Haltungen in den Entscheidungsprozess einbezogen und gehört werden müssen. Die Leitlinien konstatieren, dass die Einleitung einer pS und der gleichzeitige Verzicht auf eine begleitende Flüssigkeitssubstitution voneinander getrennt zu bewerten sind, und unterstreichen dadurch den individuellen Entscheidungskontext, der die Möglichkeit offen lässt, begleitende Maßnahmen zur Aufrechterhaltung von Vitalfunktionen durchzuführen, oder diese zu unterlassen. Die aus der konstatierten Unabhängigkeit von Sedierung und Flüssigkeitssubstitution entstehende patientenzentrierte Entscheidungsfreiheit kann jedoch vor allem dann Anlass zur Diskussion bieten, wenn entschieden wird, eine pS (z.B. bei einem nicht im Sterbeprozess befindlichen, vormals wachen und trinkenden Patienten) ohne begleitende Flüssigkeitssubstitution vorzunehmen: einerseits hat der Patient selbstverständlich das Recht, eine künstliche Flüssigkeitszufuhr abzulehnen. Andererseits wird die Kombination beider Therapieentscheidungen unvermeidbar dazu führen, dass der Patient nach einer gewissen Zeit an dieser iatrogen induzierten Situation verstirbt (wenn nicht die Grunderkrankung schneller zum Tode führt). Kritiker könnten hier noch weiter zuspitzen, dass sich bei einer solchen Situation der Unterschied zur "slow euthanasia" (d.h. eine forcierte Sedierung unter solchen Rahmenbedingungen, die das Versterben des Patienten zur Folge haben und dieses implizit oder explizit intendieren) reduziert auf die unterschiedliche, zugrunde liegende Intention der pS (nämlich die Symptomkontrolle bzw. die nicht beabsichtigte Lebenszeitverkürzung).

Diese Beispiele verdeutlichen: die Diskussion um sedierende Maßnahmen in der Palliativmedizin bleibt weiter spannend und hat durch die Leitlinien einen neuen wichtigen Kristallisationspunkt gewonnen. Sie stellen keinen Widerspruch zur individualisierten Medizin dar und entbinden uns nicht von der Pflicht zur situationsgebundenen medizinischen und ethischen Bewertung und zur Wachsamkeit bei der aktuellen medizinethischen und gesellschaftspolitischen Diskussion.

Bernd Alt-Epping

Thomas Sitte

Literatur

  • 01 Cherny NI, Radbruch L. EAPC recommended framework for the use of sedation in Palliative Care.  Pall Med . 2009;  23 (7) 581-593
  • 02 Alt-Epping B, Sitte L. Sedierung in der Palliativmedizin - Leitlinie für den Einsatz sedierender Maßnahmen in der Palliativversorgung.  Z Palliativmed. ;  3/10
  • 03 Cellarius V. Terminal sedation and the "imminence condition".  J Med Ethics. 2008;  34 69-72
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