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DOI: 10.1055/s-0030-1257695
„Die individuell bestverträgliche Substanz auswählen“
SchmerztherapiePublication History
Publication Date:
02 January 2012 (online)



Herr Dr. med. Andreas Kopf


Herr Dr. med. Hans P. Ogal
Dr. Andreas Kopf: Facharzt für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin, Notfallmedizin, Spezielle Schmerztherapie und Palliativmedizin, Leiter des Benjamin Franklin Schmerz- und Palliativzentrums sowie der Anästhesieambulanz der Charité – Universitätsmedizin Berlin (seit 1998), Lehrkoordinator Querschnittfach 13 (seit 2003), Visiting Professor, Dept. of Medical Physiology, University of Nairobi, Kenia (seit 2004).
Dr. Hans P. Ogal: Facharzt für Anästhesiologie, Zusatzqualifikationen Spezielle Schmerztherapie, Akupunktur – TCM, seit 2001 Lehrauftrag an der Philipps-Universität Marburg „Akupunktur, Energetik, wissenschaftliche Herleitung von Schmerzentstehung und -behandlung“, seit 2002 Leiter der Schmerztherapie und seit 2007 stellvertretender Chefarzt der Aeskulap-Klinik, Brunnen (Schweiz).
DZO: Wo sehen Sie wesentliche Neuerungen in den letzten Jahren im Bereich der Tumorschmerztherapie?
Dr. Kopf:
Die Behandlung von Tumorschmerzen basiert weiterhin auf den Empfehlungen der EAPC
von 2001. Das EPCRC-Projekt wird in Kürze ein Update dazu veröffentlichen, auch eine
deutsche Leitlinie wird erwartet. Mittelpunkt einer adäquaten Tumorschmerztherapie
wird unverändert die adäquate Anwendung von Opioiden sein. Neben dem bisherigen Goldstandard
Morphin werden auch andere Opioide eine Empfehlung als „1. Wahl“ erhalten. Zudem wird
der für einen Teil der Patienten sinnvolle Einsatz von schnell wirksamen transmukosalen
Fentanylpräparaten empfohlen werden. Außerdem haben einige Markteinführungen mit einem
mechanismusorientierten Wirkansatz die Optionen zur Behandlung von neuropathischen
und ossären Schmerzen verbessert.
Der Versorgungsgrad mit Opioiden ist inzwischen als ausreichend anzusehen, gleichzeitig bestehen aber weiterhin Defizite bei der Anwendung der Opioide. Die Einbindung der Tumorschmerzbehandlung in ein palliativmedizinisches Gesamtkonzept durch die aktuelle SAPV-Einführung hat wesentlichen Anteil an der Verbesserung der Versorgungsqualität. Auch von der Einführung der Palliativmedizin und Schmerzmedizin als Pflichtlehrfach in die Lehre (ab dem aktuellen Wintersemester) sind Verbesserungen der Versorgungsqualität zu erwarten.
Außerhalb Deutschlands ist in den meisten Ländern der Welt nach dem aktuellen Report der DCAM leider unverändert von einer katastrophalen Versorgung von Tumorpatienten, insbesondere hinsichtlich der Symptomkontrolle, auszugehen.
Dr. Ogal:
Das für mich Wichtigste ist die deutlich zunehmende Offenheit der Kollegen und Kolleginnen,
bewährte Verfahren sowohl der konventionellen Medizin als auch der Komplementärmedizin
einzusetzen. Somit können die Behandlungsoptionen erweitert werden und die Patienten
mit ihren Schmerzsymptomatiken individueller behandelt werden.
DZO: Welche Anwendungsfehler werden in der Praxis häufig gemacht? Wo sehen Sie die Gründe, wenn Schmerzpatienten nur ungenügend eingestellt sind?
Dr. Kopf:
Die Behandlung von Tumorpatienten ist weiterhin häufig syndrom- und nicht syndrom-
und symptomorientiert. Dadurch können subjektive Belastungen des Patienten unterschätzt
werden. Ein typischer praktischer Anwendungsfehler beim Schmerzmanagement ist die
Dosierung ausschließlich nach Bedarf oder eine Einstellung mit retardierten Opioiden
ohne zusätzliche ― oder ohne adäquat dosierte ― Bedarfsopioide, sowie eine fehlende
Prophylaxebehandlung hinsichtlich der opioidtypischen unerwünschten Wirkungen. Zudem
wird häufig nicht zwischen den Schmerzätiologien „nozizeptiv“ und „neuropathisch“
unterschieden, sodass sog. Koanalgetika nicht angemessen in der Therapie berücksichtigt
werden.
Dr. Ogal:
Die zeitlichen Intervalle bei der Opioidgabe sollten patientenindividuell angepasst
werden. Häufig reichen zwei Gaben pro Tag nicht aus. Wenn der Opioidspiegel unter
den Wirkungsbereich sinkt, benötigt es meist eine höhere Repetitionsdosis, um die
Schmerzsymptomatik wieder erfolgreich zu reduzieren. Dies kann vermieden werden, wenn
patientengerecht die Opioidmedikation auf drei Gaben pro Tag (z. B. 07.00, 15.00,
23.00 Uhr) ausgedehnt wird. Auch bei transkutanen Applikationsformen, die normalerweise
nach 72 h gewechselt werden sollten, kann ein Wechsel nach 48 h nötig sein. Hier sollte
unbedingt auf die Schmerzangaben der Patienten geachtet und eingegangen werden.
Die Behandlung von therapiebedingten Nebenwirkung (z. B. Obstipation, Übelkeit) sollte von Anfang an mit einbezogen werden. Hier bieten sich bewährte komplementärmedizinische Verfahren an, die weiter unten aufgeführt sind (s. S. 169). Auch die Verwendung von koanalgetischen Verfahren sollte von Anfang an Beachtung finden.
DZO: Was halten Sie von neuen Anwendungsformen, wie z. B. der buccalen bzw. nasalen Fentanylapplikation? Wie sind Ihre Erfahrungen damit?
Dr. Kopf:
In der wissenschaftlichen Literatur gibt es ― noch in Vergleichsstudien zu bestätigende
― Hinweise, dass einige der neuen transmukosalen Fentanylapplikationen eine schnellere
Anschlagzeit als die konventionellen nichtretardierten oralen Opioide haben. Die Vorteile
dieser neuen Applikationsform sollten daher immer dann genutzt werden, wenn die konventionellen
Applikationsformen für den Patienten unzureichend wirksam sind.
Dr. Ogal:
Wir sind dankbar für die Weiterentwicklung neuer therapeutischer Möglichkeiten sowohl
hinsichtlich neuer Opioide und Kombinationspräparate als auch neuer Applikationsformen.
Jedoch sollten die Medikamente am meisten Verwendung finden, mit denen sich der verantwortliche
Arzt am besten auskennt. Buccale oder nasale Applikationsformen von Fentanyl werden
bei uns kaum benötigt und somit auch kaum eingesetzt.
DZO: Wie können retardierte Präparate bei chronischen Schmerzen am besten eingesetzt werden? Welche Applikationsformen sind zu bevorzugen?
Dr. Kopf:
Bei prinzipieller Vergleichbarkeit der verschiedenen Opioide und Opioidapplikationsformen
ist es für den Behandlungserfolg entscheidend, die individuell bestverträgliche Substanz
und Applikationsform auszuwählen. Eigene Erfahrungen des Behandlers (beispielsweise
die Vertrautheit mit der Dosierung) sollten in die Auswahl mit einfließen. Positive
Erwartungshaltungen des Patienten sollten als Kontextfaktor für den Therapieerfolg
genutzt werden.
Dr. Ogal:
Regelmäßige Gabe, meistens auch dreimal täglich, oral oder transdermal, und unter
der Beachtung der Verträglichkeit. Beachtenswert wäre auch bei schlechter Verträglichkeit
der Opioidtherapie eine eventuelle Histaminintoleranz der Patienten abzuklären. Opiate
und andere häufig verwendete Schmerzmittel wie Diclofenac, Mefenaminsäure, Naproxen,
Acetylsalicylsäure setzen Histamin frei und Präparate wie Metamizol und auch Metoclopramid
blockieren das histaminabbauende Enzym, die Diaminoxidase, und erhöhen somit die Histaminbelastung.
Mögliche Symptome enthalten die typischen Nebenwirkungen der Opioide und können sein: Juckreiz, Kopfschmerzen, Hitzegefühl, Migräne, Schwindel, Flatulenz, Durchfall, Obstipation, Übelkeit/Erbrechen, Bauchschmerzen, Hypertonie, Tachykardie, Herzrhythmusstörungen, Ödeme, Gelenkschmerzen, Erschöpfungszustände, Müdigkeit, Schlafstörungen.
DZO: Gibt es Ihrer Ansicht nach naturheilkundliche Maßnahmen, mit denen Tumorschmerzen gelindert werden können?
Dr. Kopf:
Die bereits angesprochenen Kontextfaktoren sollten für den Therapieerfolg nicht unterschätzt
werden. Bei entsprechenden Einstellungen und Erwartungen des Patienten können insbesondere
phytotherapeutische und physikalische Therapiemaßnahmen wirksam sein. Da dies nach
Befragungen auch dem Patientenwunsch entspricht, sollten ausgewählte und rationale
naturheilkundliche Therapieoptionen Teil jedes Therapieangebotes sein.
Dr. Ogal:
Es gibt im Bereich der Komplementärmedizin eine Vielzahl möglicher Interventionen,
mit denen auch Tumorschmerzen oder mögliche therapiebedingte Nebenwirkungen allein
oder in Kombination behandelt werden können. Die Auswahl erfolgt individuell nach
dem Patienten und seiner Beschwerdesymptomatik. Häufig gebräuchliche Verfahren sind:
Phytotherapie inkl. Misteltherapie, Orthomolekulare Medizin, Homöopathie, Neuraltherapie
resp. Therapeutische Lokalanästhesie inkl. Sympathikusblockaden, Akupunktur, TENS,
Ausleitende Verfahren, Osteopathische Medizin, Symbioselenkung, Medizinische Hypnotherapie.
DZO: Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Was tun Sie für sich, um gesund zu bleiben?
Dr. Kopf:
Viel laufen (ich habe noch nie ein Auto besessen) …
Dr. Ogal:
Ich arbeite gerne mit Schmerzpatienten, auch wenn die Schmerzerkrankung seit Jahren
chronisch ist oder eine Tumorerkrankung zu Grunde liegt, und ich versuche der Ursache
dieser Schmerzerkrankung auf den Grund zu gehen. Ich glaube, gerade dieses detektivische
Interesse erhält die Freude und Energie, die täglichen Aufgaben zu bewältigen. Darüber
hinaus liebe ich meine Frau, genieße die zauberhafte Gegend um den Vierwaldstättersee,
glaube an einen tiefen Sinn des Lebens und mache gerne Musik (Klavier, Saxophon und
Singen im Männerchor Brunnen).
DZO: Vielen Dank für das Gespräh.
Einige praktische Tipps zur bewährten Anwendung schul- und komplementärmedizinischer Verfahren zur Behandlung von therapiebedingten Nebenwirkungen
Obstipation: Laxanzien wie Laktulose, Laktose, ggf. in Kombination mit Kamillenblütenextrakten, Indische Flohsamenschalen, Magnesium hoch dosiert, Enzyme hoch dosiert, Symbioselenkung, initial z. B. Targin® (Oxycodon + Naloxon)
Übelkeit/Erbrechen: Antidopaminerge Substanzen wie Haloperidol oder Metoclopramid, Akupunktur (Pe 6), Homöopathie (z. B. Apomorphinum hydrochloricum D6)
Schlafstörungen, Unruhe, Angst: Anxiolytika, Sedativa, Magnesiumorotat, Johanniskraut, Passionsblumenkraut, Baldrianwurzel, Hopfenzapfen, Lavendelöl, Homöopathie, Akupunktur
(Ergänzung von Dr. Ogal)