Suchttherapie 2010; 11(4): 189-190
DOI: 10.1055/s-0030-1261878
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Abhängigkeit aus kulturphilosophischer Sicht

J. von Ins
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Publication Date:
29 November 2010 (online)

Abhängigkeit ist eine conditio creaturae. Das Leben hängt an einem Faden, die ganze Zeit. Wir sind etwa abhängig von unserem Nervensystem, vom Ökosystem und von gesellschaftlichen Dienstleistungen. Wie gehen wir damit um?

Die zentrale Strategie scheint in der großen Mehrzahl der Kulturen darauf hinzuzielen, eine symbolisch überhöhte Abhängigkeit zu konstruieren, die alle die anderen, partiellen Abhängigkeiten relativiert und in eins nimmt – bisweilen sogar aufhebt und heilt.

Damit ist das Wichtigste gesagt: Abhängigkeit unterliegt nicht nur biologischen, sondern auch kulturellen Gesetzen. So postulierte schon Rilke einen Zusammenhang zwischen säkular-urbanem Leben und Suchtverhalten:

„Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte,
sie können gar nicht mehr sie selber sein;
das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte
und ist wie Ostwind groß, und sie sind klein
und ausgeholt und warten, dass der Wein
und alles Gift der Tier- und Menschensäfte
sie reize zu vergänglichem Geschäfte.“[1]

Hier erst – nach dem Tod Gottes – wird aus der Sehnsucht nach Ewigkeit die Sucht nach immer wieder immer mehr, die Nietzsche in ihrer abgründigen Tragik beschrieb: „Weh spricht: vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit.“[2]

Der in Europa einst ordentlich ritualisierte Alkoholkonsum wurde für die Indianer Nordamerikas zum Fiasko – und desgleichen umgekehrt der Tabak in Europa, den die Indianer rituell im Griff hatten. Anfänglich mindestens in England erfolgreiche Kultivierungsversuche (Smoking Culture) verliefen sich bald im Sand – Tabak wurde zum Konsumgut mit der Todesanzeige drauf, das Rauchen zum tödlichen Abhängigkeitsverhalten.

Biodeterministisch ist Abhängigkeitsverhalten nicht zu fassen. Die Energien, die bestimmte Vorstellungen und Stoffe in uns freisetzen, können kulturell auf vielfältige Weise kanalisiert und funktionalisiert werden – oder solche Kanäle fehlen halt, sind zerfallen, das heißt: Vision und Rausch sind nichts als beliebig verlaufender Wildwuchs, Überschwemmung, Lawine, eben leicht auch Schiffbruch. Erst in der Moderne, bei Nietzsches ,höheren Menschen‘, sehnt sich alle Lust nach Missratenem.[3] Das Hin und her zwischen Ich-Überhebung und Ich-Auflösung, das Benn in seinen Kokain-Gedichten beschreibt, entzieht sich jeglichem Navigationsversuch:

„O, still! Ich spüre kleines Rammeln:
Es sternt mich an – es ist kein Spott – :
Gesicht, ich: mich, einsamen Gott,
sich groß um einen Donner sammeln.“
„Den Ich-zerfall, den süßen, tiefersehnten,
den gibst du mir: schon ist die Kehle rau,
schon ist der fremde Klang an unerwähnten
Gebilden meines Ichs am Unterbau.
Zersprengtes Ich – o aufgetrunkne Schwäre –
Verwehte Fieber – süß zerborstene Wehr – :

Verströme, o verströme Du – gebäre

blutbäuchig das Entformte her.“[4]

Vorstellungen und Stoffe, die uns eine besondere Energie zuführen, wirken nie einfach aufgrund theologischer oder pharmakologischer Spezifikationen. Wesentlich wird die Fahrtrichtung dadurch bestimmt, ob wir beim Start schon wissen, was wir mit dem Extra-Schub anfangen werden, oder ob wir den Verlauf dem Zufall überlassen. Stellen sie sich vor, sie sehen ein Glas Rotwein als das Blut des Gottes Dionysos. Oder sie riechen den Weihrauch, der sachte zu THC gerinnt, als Atem des Heiligen Geistes. Das macht einen Unterschied. Und das sichert recht zuverlässig einen günstigen Verlauf des Erlebnisses. Klar ist zum Beispiel, dass man am Montag Morgen nicht schon wieder Weihrauch braucht.

Eigentlich ist ja Common-sense, dass unsere heutigen Suchtmittel lange Zeit Genussmittel waren. Deshalb käme niemand auf den Gedanken, Nietzsche, Benn und Freud als Junkies zu bezeichnen. Erst wenn der Markt mit einem hochenergetischen Stoff geflutet wird, während keinerlei Kanalisierungen zur Verfügung stehen, wird Abhängigkeitsverhalten zum Massenproblem. Ich denke, da stehen wir heute.

Die eskalierende Zahl der Drogengesetze und -kontrollen wächst auf dem Mist einer Bankrotterklärung der Zivilgesellschaft angesichts der einfachen Tatsache, dass jede Bewusstseinsdynamik geformt und geführt werden muss, wenn sie nicht zum Torkelgang zwischen vernebeltem Himmel und verrauchter Hölle verkommen soll [1] [2] [3] [4] [5] [6].

In den meisten Kulturen wurden spezifische Rauschzustände als Vermehrung des Bewusstseins, Erweiterung der Erkenntnisfähigkeit und Annäherung an die Götter verstanden. Wir sehen das heute umgekehrt. Aus den Göttern sind bloße Leidenschaften geworden. Die Leidenschaften aber werden tückisch und böse, wenn sie tückisch und böse betrachtet werden,[5] wie Nietzsche sagt. Und siehe: Je schlechter wir über sie denken, desto schrecklicher wirken sich Genussmittel – jetzt Suchtmittel aus. Wir haben diese Stoffe aus Kultur und Gesellschaft ausgeschlossen. Man hätte früher gesagt: Wir haben sie aus Gottes Reich verbannt und den Dämonen anheim gestellt.

So zeigt sich Abhängigkeit von Substanzen als spezifisch säkulares Phänomen. Man müsste den Umgang mit diesen Stoffen kulturell wieder formen und fassen, religiös neu füllen und verorten. Das ist keineswegs einfach, schon gar nicht unter Zeitdruck. Aber das ist auch kein Grund, auf jegliche Anstrengung in diese Richtung zu verzichten.

Literatur

  • 1 Benn, G. Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, Hrsg. Bruno Hillebrand. Frankfurt a/M: Fischer; 1978
  • 2 Ibsen H. Peer Gynt, Übers. Hermann Stock. Stuttgart: Reclam; 2004
  • 3 Kafka F. Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass, hrsg. Max Brod, Frankfurt a/M Fischer; 1983
  • 4 Nietzsche F. Die fröhliche Wissenschaft (,la gaya scienza‘), Hrsg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Kritische Studienausgabe (KSA). München: de Gruyter; 1988 Bd. 3: 343ff.
  • 5 Nietzsche F. Also sprach Zarathustra, KSA 4. München: de Gruyter;; 1988
  • 6 Rilke RM. Sämtliche Werke. Frankfurt a/M: Insel; 1955

1 Rilke 1955 I: 363

2 KSA 4: 404

3 „Ihr höheren Menschen, nach euch sehnt sie sich, die Lust, die unbändige, selige, – nach eurem Weh, ihr Missrathenen! Nach Missrathenem sehnt sich alle ewige Lust“. (KSA 4: 403)

4 Benn 1978: 107–108

5 Morgenröthe 76, KSA 3: 73. Allerdings ist mit einer Umkehrung zu rechnen: „…der ,Teufel‘ Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Heiligen geworden…“(ebd.).

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