Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2010; 20(5): 266-273
DOI: 10.1055/s-0030-1261940
Fort- und Weiterbildung

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schmerzchronifizierung und -dysfunktion: Evidenz zu Diagnostik und Therapie

Chronic Pain, Pain Dysfunction: An Update on Current Diagnostic Criteria, Assessment and Treatment OptionsG. Vacariu1
  • 1Institut für Physikalische Medizin und Orthopädische Rehabilitation, Orthopädisches Spital Speising GmbH, Wien, Austria
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Publikationsverlauf

eingereicht: 16.04.2008

angenommen: 21.06.2010

Publikationsdatum:
06. Oktober 2010 (online)

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Zusammenfassung

In der Rehabilitation von chronischen Schmerzpatienten ist das Ausmaß der Chronifizierung zu berücksichtigen. Eine einheitliche Definition von chronischen Schmerzen und eine Beschreibung des Chronifizierungsgrades könnte die Beurteilung von Therapieprogrammen verbessern. Derzeitiger State of the Art in der Schmerzrehabilitation ist ein multidisziplinär durchgeführtes Functional Restoration Programm mit Eingangs- und Ausgangsuntersuchungen zur Beurteilung des Therapieerfolges. Für das Assessment ist eine multiprofessionelle Beurteilung auf Basis des ICF empfehlenswert. Für den Rehabilitationserfolg ist die Identifizierung und Bearbeitung von psychosozialen Risikofaktoren erforderlich. Die Bereitschaft des Patienten, Eigenverantwortung zu übernehmen und die individuelle Stützung und Stärkung der Eigenkompetenz ist Ziel verhaltenstherapeutischer Programme. Rehabilitationsziele sind gemeinsam mit dem Patienten zu entwickeln. Die Verbesserung von Aktivität und Funktion sollte im Vordergrund stehen und positiv verstärkt werden. Das gesamte Rehabilitationsteam ist in diesen Prozess zu integrieren.

Abstract

Rehabilitation for chronic pain has to concern the degree of dysfunctional pain. Up to now there is a lack of a consistent definition for chronic pain. A graded chronic pain status could facilitate to focus on the right treatment strategies. There exists a body of evidence that functional rehabilitation programs within a multidisciplinary treatment team are of utmost importance for chronic pain patients. Assessments should include baseline and outcome measures in accordance with the ICF-model. Psychosocial risk factors have to be observed and handled. Behaviorial pain coping strategies intend to reinforce self-reliance and to adapt fear avoidance attitudes. The restoration of function and activity has to be strengthened and should be the focus of attention for the whole rehabilitation team.

Literatur

Der Fall C.C:

Ärztin für Allgemeinmedizin, 40J, vor 10 Jahren begannen rez. Lumbagoepisoden, vor 4 Jahren nach akuter Schmerzattacke auch Ausstrahlung ins rechte Bein mit Taubheitsgefühl, klinisch pseudoradikulär. Abklärung mit MRT der LWS: Discusprotrusion L4/5 mediolateral rechts mit Zeichen einer aktiven Osteochondrose (Modic I-II-Veränderungen in Wirbel L4 und L5). Die sehr selbstbewusste und beruflich erfolgreiche Patientin leidet gelegentlich unter Panikattacken. Die Patientin möchte wegen rezidivierender Gastritis trotz einer Schmerzstärke VAS 7 keine NSAR einnehmen, Tramadol wird nicht vertragen. Sie beginnt verschiedene physikalische Therapien, Massagen und Wärmepackungen helfen vorübergehend. Die Patientin beginnt selbstständig ein Krafttraining in einem Fitnessstudio. Eine Bewegungstherapie hatte die Patientin davor wegen Kompetenzstreitigkeiten mit der Therapeutin abgebrochen. Während des Gerätetrainings kommt es zu einer massiven Schmerzattacke. Ein neuerliches MRT zeigt nun einen mediolateralen Discusprolaps mit geringer Einengung des Neuroforamen L4 re. ([Tab. 5]).

Tab. 5 Fallbeispiel C.C.: Befund vor Rehabilitation.

Hauptdiagnose

Nebendiagnose

relevante Funktion u. Beeinträchtigung

relevante Kontextfaktoren

relevante Rehabiltationsziele

Diskusprolaps L4/5
Z. n. Microdiscektomie

Angststörung
Depression

VAS 6,7
FFbH-R 53,4
ADS 20,2
FABQ3 23
Sörensen: 10 s Rückenstrecker
Isokinetik 31p

lebt allein
2. Stock ohne Lift
Berufl./soziale
Integration
gegeben

Verbesserung
Ausdauer
Muskelkraft
Angstbewältigung
Aktivität

Die Patientin sucht eine Reihe von Experten auf. Ein Teil der Ärzte rät zu einer Mikrodiscektomie, ein Teil empfiehlt wegen der geringen neurologischen Symptomatik weitere konservative Maßnahmen. Die unterschiedlichen Meinungen verunsichern die Patientin. Sie beginnt nun fast zwanghaft immer neue auch alternativmedizinische Therapien und erlebt eine zunehmende Hilflosigkeit, da der Schmerz nicht mehr ganz nachlässt. An guten Tagen ist das Schmerzniveau etwa bei einer VAS 4–5, an schlechten Tagen VAS 6–8.

Nach 2 Jahren fühlt sich die Patientin zunehmend in ihrer Lebensqualität eingeschränkt, schmerzbedingt werden sportliche Aktivitäten nicht mehr durchgeführt. Die Patientin zeigt Zeichen einer depressiven Verstimmung. Sie entschließt sich nun zu einer Operation. Nach einer Mikrodiskektomie ist die Patientin 6 Wochen nahezu beschwerdefrei, dann kommt es beim Aufstehen aus einem niedrigen Sessel zu einer akuten Lumboischialgie rechts. Ein MRT zeigt einen kleinen Rezidivprolaps, eine neuerliche Operation wird sowohl von behandelnden Ärzten als auch von der Patientin abgelehnt. Es erfolgt eine stationäre Aufnahme zu einem multimodalen Therapieprogramm mit Schwerpunkt auf Functional Restoration. Bei der Erstuntersuchung zeigt C.C. einen Chronifizierungsgrad III nach von Korff.

Die Gruppen- und Einzeltherapien zielen auf Wiedergewinnung körperlicher Aktivität und Leistungsfähigkeit, zusätzlich werden jedoch auch bildwandlergezielte Infiltrationen durchgeführt. In einem verhaltenstherapeutischem Schmerzbewältigungsprogramm werden sowohl die Fear-Avoidance-Beliefs der Patientin bearbeitet als auch Strategien im Sinne des Pain Stages of Change-Modells entwickelt. Es gelingt der Patientin, ihre nach Hilfe von außen gerichtete Haltung im Sinne der Precontemplation zur Contemplation und Schmerzakzeptanz zu verändern. Durch den Rückgewinn von zunehmender Aktivität und Leistungsfähigkeit steigt das Selbstwertgefühl der Patientin. Auch durch analgetische Medikation und die durchgeführte Infiltrationstherapie sinkt das Schmerzniveau der Patientin auf eine durchschnittliche VAS 3. Nach dem stationären Aufenthalt (3 Wo) werden ambulant Trainingstherapien (2×/Wo) und psychologische Betreuung (1×/Wo) für weitere 6 Wochen durchgeführt. Im Anschluss beginnt die Patientin eine medizinisch betreute Trainingstherapie und eine Psychotherapie mit Schwerpunkt auf die von ihr zuvor wenig beachtete Angststörung. Nach 6 Monaten ist die Patientin bis auf gelegentliche lumbale Schmerzen (bis max VAS 4) beschwerdefrei. Sie selbst beschreibt, dass sie nicht mehr zu glauben wagte, je wieder schmerzfrei zu werden. Nach 1 Jahr hat die Patientin ihre sportlichen Aktivitäten (Schifahren, Wandern, Schwimmen) wieder aufgenommen und fühlt sich in ihrer Lebensqualität nicht mehr eingeschränkt.

Erfolgsfaktoren: Patientin mit hohem Bildungsgrad, beruflich abgesichert, gute Compliance sobald die Übernahme von Eigenverantwortung durch die Patientin auch akzeptierbar war.

Korrespondenzadresse

OA Dr. G. Vacariu

Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation

Orthopädisches Krankenhaus Speising

Speisinger Straße 109

1130 Wien

Österreich

eMail: gerda.vacariu@aon.at