Rofo 2010; 182(8): 727-728
DOI: 10.1055/s-0030-1263207
DRG-Mitteilungen
Radiologie und Recht
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Regelleistungsvolumen für Praxen mit unterdurchschnittlicher Fallzahl - Sonderregelung bei außergewöhnlichem Grund für niedrige Fallzahl

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Rechtsanwälte Wigge

Dr. Peter Wigge Fachanwalt für Medizinrecht
Dr. Ulrike Tonner Rechtsanwältin

Email: kanzlei@ra-wigge.de

URL: http://www.ra-wigge.de

Publication History

Publication Date:
30 July 2010 (online)

 
Table of Contents #

Einleitung

Seit Einführung des Regelleistungsvolumens (RLV) im Jahr 2009 ergeben sich viele Einzelfragen zu dem neuen Honorarsystem, mit denen sich inzwischen auch schon einige Sozialgerichte befasst haben. Dies macht deutlich, dass bezüglich der geltenden Abrechnungsregelungen noch erheblicher Klärungsbedarf besteht, der von den Vertragsärzten notfalls im Rahmen gerichtlicher Auseinandersetzungen eingefordert werden muss. Es liegt nahe, dass sich der Katalog der offenen Fragen durch die zum 01.07.2010 eintretende erneute Änderung des Honorarsystems durch Einführung von qualitätsbezogenen Zusatzvolumina (QZV) noch weiter ausdehnen wird.

Insbesondere für neu gegründete Praxen bzw. für Praxen mit unterdurchschnittlicher Fallzahl sind die Vergütungsregelungen in den Honorarverteilungsverträgen (HV) auf Grundlage des RLV zum Teil sehr lückenhaft ausgestaltet. Der nachstehend besprochene Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts (LSG Hessen) vom 21.12.2009 - Az.: L 4 KA 77/09 B ER zeigt jedoch, wie für diese "kleinen" Praxen die in den HV bereits vorhandenen Ausnahmeregelungen sachgerecht herangezogen werden können. So hat das LSG Hessen im Wege der einstweiligen Anordnung einer radiologischen Gemeinschaftspraxis ein höheres RLV zugesprochen, da diese zur Überzeugung des Gerichts außergewöhnliche Gründe glaubhaft machen konnte, die die unterdurchschnittliche Fallzahl in demjenigen Quartal, welches die KV der Berechnung des RLV zugrunde gelegt hat, rechtfertigen und damit die Anwendung der für diesen Fall geltenden Sonderregelung ermöglichen. Neben der Herausarbeitung der maßgeblichen Entscheidungsgründe ist zudem von besonderem Interesse, inwiefern dieser Beschluss des LSG Hessen auch auf die bereits erwähnten Änderungen der Honorarsystematik zum 01.07.2010 übertragbar ist.

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Sachverhalt

In dem Beschluss des LSG Hessen vom 21.12.2009 zugrunde liegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren begehrte eine radiologische Gemeinschaftspraxis die Feststellung, dass ihr, entgegen der Berechnung des RLV im Zuweisungsbescheid der KV Hessen, ab dem Quartal III/09 das Recht auf Leistungen im Fachgebiet der Radiologie bis zur Höhe des Fachgruppendurchschnitts zustehe.

Nach Ansicht der Gemeinschaftspraxis sei das ihr seitens der KV zugeteilte RLV vor dem Hintergrund des im Vergütungsrecht geltenden Grundsatzes der Honorarverteilungsgerechtigkeit unangemessen. Die für die Berechnung des RLV in Bezug genommenen Honorarwerte aus dem Quartal III/08 seien deshalb so niedrig, da die Gemeinschaftspraxis seit der Aufnahme ihrer Tätigkeit Anfang 2008 erhebliche Niederlassungsschwierigkeiten gehabt habe. Zum einen habe die Gemeinschaftspraxis einen Betrag in Höhe von ca. 6,5 Mio. Euro in neue Praxisräume investieren müssen. Zum anderen habe sie, so auch im Referenzquartal III/08, zudem aufgrund beengter Räumlichkeiten nicht in vollem Umfang vertragsärztlich tätig sein können. So habe ihr im Rahmen einer Apparategemeinschaft mit einer anderen Praxis nur ein zeitlich eingeschränktes Nutzungsrecht der Geräte zur Verfügung gestanden. Zudem sei die Genehmigung einer Zweigpraxis an einem erfolgreichen Widerspruch eines Konkurrenten gescheitert und letztlich habe sich auch der Beginn des Praxisumbaus verzögert. Aufgrund dieser Umstände sei die Aufnahme des Praxisbetriebs in den neuen Praxisräumen zum Quartal III/09 als eine Neugründung der Gemeinschaftspraxis zu bewerten, der entsprechend der hierzu einschlägigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Abrechnung bis zur Höhe des Fachgruppendurchschnitts ermöglicht werden müsse.

Demgegenüber vertrat die KV Hessen die Auffassung, wonach es sich bei der Gemeinschaftspraxis, unabhängig von der Praxissitzverlegung, nicht um eine Neupraxis handele, da die Gemeinschaftspraxis in gleicher Zusammensetzung seit Januar 2008 bestehe und 2 der dort tätigen Ärzte zuvor schon seit vielen Jahren zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen gewesen seien. Zudem setze das Anwachsen bis zum Fachgruppendurchschnitt nach Ansicht der KV Hessen ein relevantes Fallzahlwachstum voraus, welches vorliegend jedoch aufgrund der schwankenden Fallzahlen im Jahr 2008 nicht zu erwarten sei.

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Regelungslücke im HV 2009 der KV Hessen

Das Sozialgericht (SG) Marburg gab in 1. Instanz dem Antrag der Gemeinschaftspraxis in vollem Umfang statt. Zwar handele es sich auch nach Meinung des SG nicht um eine Neupraxis, jedoch um eine unterdurchschnittlich abrechnende Praxis, für deren Vergütungsansprüche der HV 2009 der KV Hessen keine Regelungen enthalte. Diese Regelungslücke sei durch die einschlägige Rechtsprechung des BSG zu unterdurchschnittlichen Praxen zu füllen, die, so das SG Marburg, auch auf das Honorarsystem unter RVL-Bedingungen Anwendung finde. Somit sei einer unterdurchschnittlich abrechnenden Praxis unmittelbar eine Wachstumsrate in einer Größenordnung zuzubilligen, die es gestatte, den durchschnittlichen Umsatz der Fachgruppe in absehbarer Zeit zu erreichen.

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Kein unmittelbarer Anspruch bis zur Höhe des Fachgruppendurchschnitts

Auch das LSG Hessen gab der radiologischen Gemeinschaftspraxis in 2. Instanz überwiegend Recht und sprach ihr für die Quartale III/09 und IV/09 ein höheres als das im Zuweisungsbescheid der KV Hessen festgesetzte RLV zu. Entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung verneinte jedoch das LSG Hessen einen Anordnungsgrund im Sinne des § 86 Abs. 2 S. 2 SGG für das geltend gemachte RLV auf der Basis der Fallzahl des Fachgruppendurchschnitts. Dies begründet das LSG Hessen mit dem geltenden Grundsatz, dass im einstweiligen Rechtsschutzverfahren keine Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache erfolgen dürfe. Eine Regelungsanordnung im einstweiligen Rechtsschutz könne nur zur Vermeidung nicht anders abwendbarer Nachteile erlassen werden. Bezogen auf den vorliegenden Fall bedeute dies den Zuspruch eines RLV lediglich in der Höhe, die zur Beseitigung der Existenzgefährdung der Gemeinschaftspraxis erforderlich sei. Hinsichtlich der Frage, inwiefern der Gemeinschaftspraxis darüber hinaus ein Vergütungsanspruch zustehe, sei die Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten.

Auch im Rahmen der Begründung des Anordnungsanspruchs folgt das LSG Hessen im Vergleich zu der Vorinstanz einem anderen Ansatzpunkt. Nach der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung sei nach Ansicht des LSG Hessen entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung nicht offensichtlich, dass in dem HV 2009 der KV Hessen keine ausdrücklichen Regelungen für unterdurchschnittlich abrechnende Praxen enthalten seien. Diese Frage könne aber auch letztendlich in dem zu entscheidenden Fall offen bleiben, da sich der Anspruch der radiologischen Gemeinschaftspraxis auf ein höheres RLV bereits aus einer der im HV 2009 aufgeführten Ausnahmeregelungen ergebe.

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"Außergewöhnlicher Grund" für niedrige Fallzahl

Der HV 2009 der KV Hessen sieht für bestimmte Fallkonstellationen die Sonderregelung vor, dass auf Antrag des Arztes und nach Genehmigung durch die KV Leistungen über das arzt-/praxisbezogene RLV hinaus vergütet werden können. Eine derartige Ausnahmesituation liegt dem Wortlaut nach beispielsweise dann vor, wenn die starke Erhöhung der Zahl der behandelnden Versicherten im Vergleich zum Vorjahresquartal darauf zurückzuführen ist, dass außergewöhnliche Gründe zu der niedrigen Fallzahl im Referenzquartal geführt haben. Als Beispiel für einen außergewöhnlichen Grund nennt der HV 2009 eine Krankheit des Arztes.

Nach der Verwaltungspraxis der KV Hessen liegt ein außergewöhnlicher Grund in diesem Sinne dann vor, wenn damit eine unverschuldete oder nachweisliche Schließung der Praxis von über 14 zusammenhängenden Tagen verbunden ist. Nach Auffassung des LSG Hessen ist diese Begriffsauslegung zu restriktiv. Aus dem Wortlaut der Ausnahmeregelung ergebe sich nicht, dass zur Annahme eines außergewöhnlichen Grundes zwingend eine 2-wöchige Praxisschließung erforderlich sei. So seien auch länger andauernde Erkrankungen des Arztes denkbar, die eine Einschränkung der ärztlichen Tätigkeit bedeuten, jedoch nicht zu einer kompletten Praxisschließung führen müssen.

In Folge dessen hat das LSG Hessen vorliegend die Annahme eines außergewöhnlichen Grundes bejaht. Die Gemeinschaftspraxis habe glaubhaft vorgetragen, dass die im Referenzquartal III/08 abgerechneten niedrigen Fallzahlen auf das Scheitern einer Zweigpraxis und den damit unverändert gebliebenen räumlichen und zeitlichen eingeschränkten gerätetechnischen Verhältnissen zurückzuführen sei. Es sei nachvollziehbar, dass eine radiologische Gemeinschaftspraxis ohne funktionierende Geräte bzw. mit nur begrenzten Gerätezeiten nicht in größerem Maße Fallzahlen erbringen könnte. Entgegen der Auslegung durch die KV Hessen gelte die hier maßgebliche Sonderregelung ihrem eindeutigen Wortlaut nach auch unabhängig davon, inwieweit die äußeren Umstände durch die betroffenen Ärzte verschuldet wurden bzw. hätten vermieden werden können.

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Ermessensreduzierung auf Null

Abschließend weist das LSG Hessen in seiner Entscheidung darauf hin, dass im einstweiligen Rechtsschutzverfahren der Erlass einer einstweiligen Anordnung in Fällen, in denen der Verwaltung ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zusteht, grundsätzlich nur bei einer Ermessensreduzierung auf Null zulässig ist. Diese Voraussetzung sei aufgrund der existenzbedrohenden wirtschaftlichen Situation der Praxis im vorliegenden Fall erfüllt. So könne der Bestand der Gemeinschaftspraxis nur im Wege der Anwendung der Sonderregelung gesichert werden. Der tenorierte Umfang des RLV auf Basis von 1500 Fällen entspreche der Zahl abrechenbarer Fälle, die nach glaubhaftem Vortrag der Gemeinschaftspraxis allein zum Erhalt der Praxis erforderlich sei.

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Fazit und Ausblick

Auch wenn es sich bei dem besprochenen Beschluss des LSG Hessen vom 21.12.2009 - Az.: L 4 KA 77/09 B ER um die Entscheidung einer Einzelfallkonstellation handelt, so liegt ihre Bedeutung darin, dass betroffene Praxen, die aus bestimmten Umständen nur unterdurchschnittlich abrechnen können, im Rahmen der Festsetzung ihres RLV aufmerksam überprüfen sollten, ob die KV im Rahmen ihrer Bescheidung auch von im Honorarverteilungsvertrag bestehenden Ausnahmeregelungen hinreichend Gebrauch gemacht hat. Denn die Verwaltungspraxis zeigt, wie es auch in dem vom LSG Hessen zu entscheidenden Fall beschrieben wird, dass die KV doch oftmals bestehende Sonderregelungen aufgrund einer zu restriktiven Begriffsauslegung bei der Bestimmung des RLV nicht anwendet.

Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Änderung des vertragsärztlichen Honorarsystems zum 01.07.2010 durch den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 26.03.2010 stellt sich die Frage, ob die hier besprochene Entscheidung des LSG Hessen auch auf zukünftige Fallgestaltungen übertragbar sein wird. Dies ist unter Bezugnahme auf den Wortlaut des Beschlusses vom 26.03.2010 zu bejahen. Wesentliche Änderung im Honorarsystem ab dem 01.07.2010 ist die Einführung von qualitätsgebundenen Zusatzvolumina (QZV). Dadurch sollen nunmehr auch die bislang von der Budgetierung freien Leistungen einer Mengenbesteuerung unterzogen werden. Auslöser dessen war die Tatsache, dass in der Vergangenheit Arztpraxen immer mehr freie Leistungen zulasten des Budgets für die RLV abgerechnet haben. Nach den neuen Vorgaben des Bewertungsausschusses sollen zukünftig sogenannte Arztgruppentöpfe gebildet werden, aus denen innerhalb der jeweiligen Arztgruppe eine Verteilung des arztspezifischen RLV und QZV erfolgt. An der Berechnungsweise des RLV ändert sich durch die ab dem 01.07.2010 geltenden Änderungen jedoch nichts. Insbesondere enthält der Beschluss des Bewertungsausschusses weiterhin dieselben Ausnahmeregelungen bezüglich der Vergütung von Leistungen über das arzt-/praxisbezogene RLV hinaus. Demnach wird auch in Zukunft eine unterdurchschnittlich abrechnende Praxis einen entsprechenden Antrag stellen können, wenn sie außergewöhnliche Umstände für die niedrige Fallzahl des Referenzquartals aufweisen kann.

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Rechtsanwälte Wigge

Dr. Peter Wigge Fachanwalt für Medizinrecht
Dr. Ulrike Tonner Rechtsanwältin

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