Dialyse aktuell 2010; 14(6): 318
DOI: 10.1055/s-0030-1265077
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Jedes Ding hat 3 Seiten …

Stefanie Schlieben
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Publication Date:
11 August 2010 (online)

Eine Geschichte aus der Praxis: Eine junge Kollegin, hoch motiviert und frisch zurück von einer 2-jährigen Weiterbildung, will unbedingt einen neuen Standard zur Anamnese in ihrer Einrichtung einführen. Sie hat die Zustimmung der Leitung – aber im Kollegium sind Pflegende mit langjähriger Erfahrung, die dies überhaupt nicht für notwendig erachten. Der Konflikt ist da – die junge Kollegin fühlt sich ausgebremst, unverstanden und entwickelt einen noch größeren Ehrgeiz, unter dem sie zunehmend leidet. Die langjährigen Kollegen betonen ihre Erfahrung und das damit verbundene subjektive Wissen, das so einen Standard schlicht überflüssig macht. Alles bleibt beim Alten.

An dieser Geschichte werden verschiedene Dimensionen deutlich, die sich auch in den Themen dieses Schwerpunktheftes widerspiegeln: Konflikte, Burn-out und Rahmenbedingungen nephrologischer Pflege sowie die Kompetenz, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis zu integrieren. So beleuchten die Autoren unterschiedliche Sichtweisen – das individuelle Selbstbild einer Pflegenden ebenso wie unseren Umgang mit Konfliktsituationen. Auch die Frage, unter welchen Bedingungen nephrologische Pflegekräfte arbeiten bzw. ihre Sicht zu den Arbeitsbedingungen und Aufgabenprofilen, ist ein Thema. In jedem Beitrag ist immer auch ein Teil vorhanden, der sich letztlich mit der eigenen Identität auseinandersetzt.

Die individuelle Sicht – sei es auf eine einzelne Person oder auch auf eine Gruppe – ist Teil eines langjährigen Prozesses, in dessen Verlauf sich Muster im Erleben und Verhalten einschleichen. Was bedeutet dies genau? Alles, was wir wahrnehmen, denken, glauben und fühlen, ist Teil dessen, was wir als unsere Identität bezeichnen. Dazu gehört auch, dass wir unsere Umgebung und unsere Sichtweise als wahr und objektiv annehmen. Wir gehen von einer Umwelt aus, von der wir glauben, dass sie so ist, wie sie uns erscheint.

Neurophysiologisch betrachtet können wir nur das wahrnehmen, für das wir auch „Kanäle“ besitzen.Und diese Wahrnehmungen bleiben nicht „objektiv“, sie werden durch unser Hirn gefiltert, bearbeitet, selektiert und emotional gefärbt. Erfahrungen, die wir vor allem in der Kindheit gemacht haben, sorgen für Einspurungen. Hieraus entwickeln wir spezifische Muster. Bildlich gesprochen tragen wir alle „Brillen“, mit der wir die Welt nicht so sehen, wie sie ist, sondern so sehen, wie wir sie sehen wollen oder können. Dies hat weitreichende Konsequenzen für jeden Lebensbereich, im Arbeitsleben wie auch in privaten Bereichen.

Wenn man aber weiß, dass es eben nicht nur eine Seite gibt, sondern sehr viele individuelle, können neue Einsichten und Weiterentwicklung entstehen. „Jedes Ding hat 3 Seiten: meine Seite, deine Seite und die richtige Seite“, soll Laotse, der große chinesische Philosoph, gesagt haben. An dieser Stelle geht an Sie die Einladung, auch andere Seiten kennen zu lernen und damit einen Perspektivenwechsel vollziehen zu können. Entscheiden Sie selbst, was für Sie „die richtige Seite“ sein könnte.

Stefanie Schlieben

München

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