PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(1): 1
DOI: 10.1055/s-0030-1266026
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kann ein Herz vor Gram brechen? Oder: Was ist dran an der Psychokardiologie?

Christian  Albus, Volker  Köllner
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Publication Date:
14 March 2011 (online)

„Mein Leben ist in der Hand eines jeden Rüpels, dem es beliebt, mich zu ärgern” sprach Sir John Hunter, der berühmte schottische Arzt und Chirurg (1728–1793). Er starb – wie selbst vorhergesagt – an einem Herzanfall nach einem Streit mit Fakultätskollegen.

Dichtung und Volksweisheiten sind voller Bezüge auf den Zusammenhang zwischen Herz und Seele, aber belegt das ein plausibles Ursachenkonzept? Und wenn ein solcher Zusammenhang besteht, welche Bedeutung hat das für das psychotherapeutische Versorgungssystem? Wie viele Herzpatienten benötigen eine psychosomatisch-psychotherapeutische Mitbehandlung? Und: Was sollten ärztliche und psychologische PsychotherapeutInnen wissen, um der Komplexität der Leib-Seele-Wechselwirkungen gerecht zu werden?

Mit dem vorliegenden Heft haben wir uns als Herausgeber vorgenommen, die wichtigsten Bereiche der „Psychokardiologie” verständlich darzustellen. Wie gewohnt haben wir besonderen Wert auf Anschaulichkeit und Praxisrelevanz gelegt, sodass Sie sich hoffentlich nach der Lektüre ermutigt fühlen werden, mehr eigene Behandlungen bei Herzpatienten durchzuführen.

Denn der Bedarf ist riesig: Unter der Vielzahl herz-kreislauf-bezogener Erkrankungen sind die chronische koronare Herzkrankheit, der akute Myokardinfarkt und die Herzinsuffizienz seit vielen Jahren in Deutschland die „top Drei” der jährlichen Sterbefälle. Auch wenn sich seit den 80er-Jahren eine gewisse Reduktion der Herzinfarktmorbidität und -mortalität vollzogen hat, starben 2009 dennoch über 55 000 Menschen an einem akuten Herzinfarkt. Die Anzahl der Menschen mit einem überlebten Herzinfarkt in der Bevölkerung – ca. 60 % der Herzinfarktbetroffenen – ist aber noch viel höher, sodass in der Altersgruppe der 30- bis 79-Jährigen ca. 1,5 Millionen Bundesbürger bereits einen oder mehrere Herzinfarkte erlebt hatten.

Herzkrankheiten führen sehr häufig zu ausgeprägten Einschränkungen der Lebensqualität. Dies bezieht sich nicht nur auf das körperliche Befinden, auch die psychische Verfassung ist signifikant beeinträchtigt: Unmittelbar nach dem Herzinfarkt leiden ungefähr 30 % der Patienten an einer depressiven Symptomatik, weitere 20–40 % leiden unter ausgeprägten Ängsten (vgl. Albus, in diesem Heft). Vergleichbare Zahlen finden sich für Patienten mit Herzinsuffizienz oder schweren Herzrhythmusstörungen. Im Ganzen ist die psychische Morbidität bei Herzpatienten mindestens doppelt so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung.

Am Beispiel der koronaren Herzkrankheit lassen sich besonders deutlich die komplexen biopsychosozialen Wechselwirkungen in Entstehung und Verlauf der Erkrankung aufzeigen. Hier geht es einerseits um die „Klassiker” wie riskantes Gesundheitsverhalten (e. g. Rauchen, Fehlernährung), andererseits sind in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von psychophysiologischen Befunden gesammelt worden, die das wahrscheinliche „Missing link” zwischen „Gram” – i. e. Depressivität –, „Stress” und „broken heart” konstituieren (s. a. Boese et al. bzw. Schwerdtfeger, in diesem Heft). Viele psychosomatische Befunde gibt es auch für die Herzinsuffizienz (Fischer, ebd.), Herzrhythmusstörungen (Ladwig et al., ebd.), die arterielle Hypertonie (Rüddel, ebd.) und sogar die Herztransplantationsmedizin (Langenbach bzw. Bunzel, ebd.).

Welche Konsequenzen sollten wir als PsychotherapeutInnen daraus ziehen? Eines ist schon jetzt klar: Das kardiologische Versorgungssystem war viele Jahrzehnte einer vorwiegend mechanistischen therapeutischen Haltung verhaftet. Dies war angesichts der wesentlich verbesserten medikamentösen und invasiven Therapieansätze zwar gut verständlich, weicht jedoch in den letzten Jahren einer balancierten Sichtweise (s. a. die Interviews in diesem Heft), die psychosoziale Prozesse mit einbezieht. Auf der anderen Seite zeigt die Analyse von Therapieplanungen im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie, dass nicht selten eine koronare Herzerkrankung im ärztlichen Konsiliarbericht zwar erwähnt, dann aber vom Psychotherapeuten im Therapieplan nicht aufgegriffen wird. Sind wir umgekehrt auf dem somatischen Auge blind? Dabei stehen uns doch wirksame Verfahren zur Verbesserung der Krankheitsverarbeitung, zur Therapie einer reaktiv entstandenen oder komorbiden psychischen Störung oder zur Modifikation riskanten Gesundheitsverhaltens zur Verfügung. Aber sind wir „Psychos” diesen neuen Anforderungen auch gewachsen? Wie steht es mit unserer Angst vor dem möglichen Tod eines Patienten? Wie gehen wir mit Verleugnung der Erkrankung und riskantem Gesundheitsverhalten um?

Alle Beiträge in diesem Heft versuchen, Ihr Verständnis der psychosomatischen Perspektive zu vertiefen und ein Gefühl der Handhabbarkeit der oft „atypischen” Behandlungssituation zu vermitteln. Dies beginnt mit den „Standpunkten”, in denen Albus und Köllner ein Votum für eine explizite Integration kognitiv-behavioraler und psychodynamischer Aspekte in der Therapie abgeben, und mündet über die Darstellung der „Praxisfelder der Psychokardiologie” (Titscher) in einen „bunten Strauß” von Beiträgen zu verschiedenen Verfahren bzw. Bereichen mit konkreten Empfehlungen und Fallbeispielen. Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre und zahlreiche wertvolle Anregungen!

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