Der Klinikarzt 2010; 39(9): 385
DOI: 10.1055/s-0030-1267840
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Schmerzen und Krebs: Glauben Sie an Wunder?

Winfried Hardinghaus
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Publication Date:
04 October 2010 (online)

Bewundernswert, was unsere Schmerzexperten so in der Hinterhand haben, wenn bei Kopf- oder Bauchschmerzen, bei unseren alten Patienten u. a. anscheinend nichts mehr geht. Lesen und bestaunen Sie das in diesem Heft. Ich möchte Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Zusammenhang etwas erzählen, was mir schon lange auf der Seele liegt und woran ich immer wieder erinnert werde, wenn es um Schmerzen, insbesondere um Tumorschmerzen und unheilbare Erkrankungen geht: Um das Prinzip Hoffnung, um die sogenannte Spontanheilung.

Doch der Reihe nach: Mein Schmerzpatient Jakob Gielen (Namensnennung persönlich erlaubt), dessen Entlassungsbrief einer Universitätsklinik mit dem Satz endete: „Wir können nichts mehr tun und empfehlen die Unterbringung im Hospiz in …“ litt an stärksten Schmerzen und einem metastasierenden Kehlkopfkrebs. Er trug seinerzeit eine Ernährungssonde, war blind nach einer Reanimation. Monate später konnte er essen, sehen und kann bis heute, 12 Jahre später, Auto fahren und seinem Hobby Fallschirmspringen nachgehen – hier könnte man durchaus von einem Wunder reden. Der Patient selbst bringt die Remission mit seinem Besuch in Lourdes, den er der Hospizunterbringung vorgezogen hatte, in Zusammenhang.

Zunächst sollten wir von Spontanheilung oder Spontanremission sprechen. Hierunter verstehen wir eine vollständige oder partielle, zeitlich begrenzte oder auch anhaltende Rückbildung von z. B. bösartigen Tumoren, ohne dass jedoch eine tumorspezifische Behandlung erfolgt ist. Um als Wunder, z. B. vom internationalen medizinischen Komitee in Lourdes anerkannt zu sein, muss eine vollkommene Heilung vorliegen, das Auftreten muss spontan sein. Eine Wunderheilung liegt nach kirchlichen Kriterien bzw. Voraussetzungen außerhalb des menschlichen Einfluss- und auch des Vorstellungsvermögens.

Beeindruckend war für mich das Aktenstudium im Archiv in Lourdes, wo in der Tat unvorstellbare Entwicklungen beschrieben sind, z. B. Röntgenbilder eines italienischen Gebirgsjägers mit Beckensarkom, das spontan verschwindet.

Man muss natürlich daran erinnern, dass Spontanremissionen sporadisch bei fast allen Krebsarten auftreten, mehrheitlich beim Nierenzellkarzinom, malignen Melanom, Neuroblastom bei Kindern oder dem niedrigmalignen Non-Hodgkin-Lymphom.

Eine Spontanremission kommt bei etwa 100 000 Krebserkrankungen vor. Jährlich werden ca. 20–30 Fallberichte über Spontanremissionen dokumentiert. Wahrscheinlich gibt es eine hohe Dunkelziffer nicht berichteter Fälle. Das Phänomen einer Spontanremission ist einerseits wenig bekannt, andererseits wird häufig aufgrund eines unerwartet günstigen Verlaufes eine zugrunde liegende Fehldiagnose vermutet.

Unser Bedürfnis nach wissenschaftlichen Gegeninterpretationen könnte darauf beruhen, dass Fälle spontaner Genesung oft mit unkonventionellen Therapien in Verbindung gebracht, nicht dokumentiert und als vermeintlich unwissenschaftlich erst recht nicht publiziert werden. Fachorgane verhalten sich restriktiv bei der Veröffentlichung von Einzelberichten.

Bei Untersuchungen darüber, ob den verschiedenen Spontanheilungen eine Gesetzmäßigkeit innewohnt, stößt man meistens auf die empirische Form einer „Salutogenese“ (H. Kappauf, S. Heim, A. Schwarz u.a.).

Zur Unterscheidung: Bei der sogenannten „Selbstheilung“ spielen die Faktoren der Psychoneuroimmunologie eine Rolle. Sind diese ursächlich für eine Heilung nachweisbar, kann somit nicht mehr von einer Spontanremission gesprochen werden.

So wird sich der Mensch leider niemals Wunderheilungen zu eigen machen können. Auf ein Wunder kann man weiter nur hoffen. Ein Trost trotzdem: Glaube kann gelegentlich Berge versetzen, will sagen: Psychosozial motivierende Einflüsse, durchaus auch spirituelle, einzeln oder in der Gruppe, ein individuelles inneres Stimmigsein und mindestens auch der Placeboeffekt können sich positiv auf Heilungsverläufe auswirken. Arbeiten wir auch daran zusammen mit unseren Patienten.

Abb. 1 Jakob Gielen

Prof. Dr. med. Winfried Hardinghaus

Osnabrück

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