Aktuelle Rheumatologie 2010; 35(6): 357-358
DOI: 10.1055/s-0030-1269871
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Physikalische Medizin in der Rheumatologie – Physik oder Physis?

Physical Medicine in Rheumatology – Physics or Physique?C. Gutenbrunner
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Publication Date:
22 December 2010 (online)

Alle rheumatischen Erkrankungen gehen definitionsgemäß mit Störungen der Funktionen des Bewegungssystems einher, wie z. B. Schmerzen, Bewegungseinschränkungen, Muskelschwächen und/oder -dysbalancen, und sind häufig mit strukturellen Veränderungen im Halte- und Stützapparat verbunden (Gelenkdeformitäten, Kontrakturen, Osteopenie usw.). Daher sind neben einer wirksamen (medikamentösen) antiinflammatorischen und analgetischen Therapie stets auch funktionserhaltende und -wiederherstellende Therapien notwendig. Diese ist – neben analgetischen Anteilen – die Domäne physikalischer Therapien einschließlich der Physio- und Ergotherapie. Sie stehen im Zentrum dieses Themenheftes. Bezüglich der für Patienten mit rheumatischen Erkrankungen ebenfalls essenziellen Strategien zur Verbesserung der Teilhabe im Sinne der Rehabilitation sei auf das Themenheft „Rehabilitation” dieser Zeitschrift (Akt Rheumatol 2004; 29: 227–289) verwiesen.

Die Physikalische Medizin ist einerseits Teil des Fachgebietes der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin muss aber auch fester Bestandteil jeder rheumatologischen Behandlung sein. Die Therapiemaßnahmen werden meist von Physio- und Ergotherapeuten/innen, in einigen Fällen auch von Masseurinnen und Medizinischen Bademeistern/innen (Massagen, Bäder, Thermo- und Elektrotherapie) sowie von Ärztinnen und Ärzten (z. B. Manuelle Therapien, Infiltrationen) durchgeführt.

Der Name „Physikalische Medizin” wird häufig mit den physikalischen Wirkqualitäten ihrer Therapiemittel abgeleitet (Temperatur, mechanische Energie, elektrische Energie, Ultraschall usw.). Dies beschreibt die recht heterogene Gruppe von diagnostischen und therapeutischen Interventionen allerdings nur unzureichend ([Gutenbrunner 2007]). Zutreffender wird der Begriff des „Physikalischen” in diesem Zusammenhang mit der „Physis” (griech.=Natur) beschrieben (vgl. „Physio”-logie=Lehre von den (gesunden) Körperfunktionen). Auch die englische Bezeichnung „Physical Medicine” hat nichts mit der Physik zu tun sondern charakterisiert die Orientierung an körperlichen (physiologischen) Reaktio_nen auf die Therapiemittel (vgl. sprachlich: „Physical Training” (engl.)=körperliches Training; „Physical Fitness” (engl.)=körperliche Leistungsfähigkeit). Dem entspricht auch die amerikanische Kurzbezeichnung für den Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin: „Physiatrist”.

Inhaltlich Begründung für diese Interpretation des Namens ist, dass sämtliche Therapieverfahren der Physikalischen Medizin auf die unmittelbare oder reaktive Beeinflussung von Körperfunktion im Sinne physiologischer Reaktionen auf Reizsetzungen abzielen. Beispiele für die unmittelbare Beeinflussung von Körperfunktionen sind die segmentale Schmerzhemmung durch elektrotherapeutische Reizung schnell leitender sensibler Nervenbahnen oder die Hemmung der Nervenleitgeschwindigkeit durch lokale Kryotherapie. Sämtliche langfristigen Effekte physikalischer Therapien bestehen aus adaptiven Veränderungen von Körperfunktionen auf die therapeutischen Reize. Beispiele hierfür sind die Optimierung von Bewegungsabläufen durch Übung derselben, die Verbesserungen von Muskelkraft und -ausdauer durch Training oder Verbesserung der Knochenfestigkeit durch (dosierte) mechanische Beanspruchung (Lit.-Übersicht s. Gutenbrunner u. Weimann 2004).

In der Physikalischen Medizin sielen nach zahlreichen grundlegenden Arbeiten der letzten Jahrzehnte zum Wirkungsmechanismus die folgenden adaptiven Mechanismen eine zentrale Rolle ([Gutenbrunner 2004]):

Lokal-autonome Steigerung der Toleranz peripherer Gewebe gegenüber Reizen mit Ausbildung von Schutzmechanismen (z. B. Steigerung der Gewebstoleranz bei O 2 -Mangel) Kurzzeitige nervale Hemmung des afferenten Erregungseinstroms auf spinaler Ebene und Dämpfung von Mitreaktionen vegetativ gesteuerter Systeme auf äußere Reize auf der Ebene der Formatio reticularis (z. B. Habituation der Blutdruckreaktion auf Kaltreize oder Dämpfung der Schmerzempfindung bei kurzeitig wiederholten Schmerzreizen). Längerfristige Umstellungen der vegetativen Regulation bei wiederholten Reizen bzw. Belastungen auf Ebene der Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse mit funktionellen Adaptationen in verschiedenen Systemen (z. B. Blutdrucknormalisierung bei Ausdauertraining, Verbesserung der Schlaffunktion bei wiederholten (morgendlichen) Kaltreizen) Spezifische trophisch-plastische Adaptationen mit Gewebewachstum, meist gesteuert durch spezifische Wachstumsfaktoren (z. B. Erythropoese bei Sauerstoffmangel, Stimulation der Kalziumeinlagerung in den Knochen bei mechanischer Belastung)

Auch Lernprozesse können als Adaptationen auf kortikaler Ebene aufgefasst werden. Hier bestehen Übergange zu den in jüngster Zeit entwickelten Konzepten der Neuroplastizität. Sie zeigen, dass adaptive Effekte der Bewegung in großem Umfang auch die Funktionen sowie Strukturen des Nervensystems einschließlich der Schmerzverarbeitung betreffen. Bisher bekannte Mechanismen sind (vgl. [Gutenbrunner 2004])

die Übernahme gestörter Funktionen durch benachbarte Hirnareale (Vikariation), morphologische Veränderungen an definierten kortikalen Repräsentationsfeldern, induziert durch sensible Stimulation, Erfahrung und Lernen (Plastizität kortikaler Repräsentationsfelder), die Wierderherstellung von axonalen und dendritischen Nervenendigungen (Aussprossung von Nervenendigungen), die im peripheren Nervensystem zu funktionellen Nervenverbindungen führen kann. Im ZNS ist dieser Prozess erschwert, u. a. weil die als „Leitschiene” dienenden Schwann-Zellen fehlen und die als Narbengewebe auftretenden Gliazellen und Astrozyten eine Barriere darstellen, eine Sprossung von Axonen aus benachbarten intakten Nervenzellen (kollaterale Axonsprossung), ein Funktionsverlust eines von der primären Läsion weiter entfernt liegenden Hirnareals (Diaschisis), der vermutlich auf einer GABAergen Inhibition beruht und sich durch lokale Noradrenalingabe im Experiment bessern lässt, die Verbesserung der Signalübertragung an Synapsen (synaptische Plastizität), die einen funktionellen Aspekt der Neuroplastizität beschreibt, eine Anregung der Neuroplastizität durch ein an Reizen reiches Umfeld (enriched environment), wobei nach Tierversuchen einiges dafür spricht, dass die Bildung von Wachstumsfaktoren im Gehirn („Nerve Growth Factor”, NGF u. a.) angeregt wird und Neubildung von Nervenzellen aus neuralen Stammzellen (Neurogenese). Dieser Prozess konnte in einigen Hirnregionen nach Ischämie nachgewiesen werden. Ob eine therapeutische Nutzung z. B. durch Transplantation von Stammzellen in Läsionen (z. B. Rückenmark) möglich ist, wird derzeit wissenschaftlich geprüft.

Dabei rücken zunehmend auch die Modulation von für die Schmerzverarbeitung im zentralen und peripheren Nervensystem verantwortlichen Neurotransmitter wie BDNF (brain-derived neurotrophic factor, NGF (nerve growth factor), 5-HT (5-hydroxy tryptophane), IRS (insulin receptor substrate) und andere in das Zentrum des Interesses (Lit.-Übers. s. [Basbaum u. Bushnell 2009]). Es ist zu erwarten, dass die gegenwärtige und zukünftige Forschung in diesem Bereich weitere Erkenntnisse liefern wird, die z. B. für die Entwicklung von Antichronifizierungsstrategien bei rheumatischen Schmerzen von großer Bedeutung sein dürften (Duric & McCaron 2007, [Merighi et al. 2008]).

Die Physikalische Medizin in der Rheumatologie muss im Prinzip stets die folgenden Elemente enthalten:

Befunderhebung, Funktionsassessment und Indikationsstellung (Glaesener u. Gutenbrunner 2007; Gutenbrunner 2007) Erstellung eines Therapie- (oder Rehabilitations-)plans (Gutenbrunner 2009) Verordnung und Kontrolle der Therapien Anleitung des Patienten bzw. der Patientin Evaluation der Therapieergebnisse

Wegen der Chronizität der meisten rheumatologischen Krankheitsbilder sind in der Regel auch Patientenschulungen und Rehabilitationsmaßnahmen indiziert ([Ehlebracht-König & Bönisch 2004]).

In diesem und dem folgendem Themenheft werden in einzelnen Artikeln die Schwerpunkte Physiotherapie, Ergotherapie, Medizinische Trainingstherapie, Elektro- und Ultraschalltherapie sowie Thermotherapie abgehandelt, wobei neben grundsätzlichen und praktischen Anteilen auch der gegenwärtige Stand der Evidenz bei rheumatischen Erkrankungen dargestellt wird. Ergänzt wird das Themenheft mit einem Überblick zur Verordnungsweise der Physikalischen Medizin in Deutschland sowie mit einem Review zur Evidenzbasierung der Balneotherapie bei rheumatischen Erkrankungen.

Dieser erste Teil der Arbeiten zur Physikalischen Medizin fi ndet in einer der Ausgaben 2011 seine Fortsetzung.

Literatur

  • 1 Basbaum AI, Bushnell MC. Science of Pain.  Elsevier, Amsterdam. 2009; 
  • 2 Duric V, McCaron KE. Hippocampal neurokinin-1 receptor and brain-derived neurotrophic factor gene expression is decreased in rat models of pain and stress.  Neuroscience.. 2007;  133 (4) 999-1006
  • 3 Ehlebracht-König I, Bönisch A. Patientenschulungen in der Rehabilitation von Patienten mit chronischen Polyarthritiden und Spondylarthritiden. Akt. Rheumatol.  2004;  29 248-254
  • 4 Gutenbrunner C. Therapieprinzipien. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York-Barcelona-Budapest-Hongkong-London-Mailand-Paris-Santa Clara-Singapur-Tokyo; 2004: 10-24
  • 5 Gutenbrunner C. Grundlagen der Physikalischen Medizin. In: Gutenbrunner C, Glaesener JJ, Hrsg.Rehabilitation, Physikalische Medizin und Naturheilverfahren SpringerMedizin Verlag, Heidelberg; 2007: 1-12
  • 6 Glaesener JJ, Gutenbrunner C. Diagnostik in der Physikalischen Medizin. In: Gutenbrunner C, Glaesener JJ, Hrsg.Rehabilitation, Physikalische Medizin und Naturheilverfahren SpringerMedizin Verlag, Heidelberg; 2007: 13-30
  • 7 Gutenbrunner C, Weimann G. Krankengymnastische Methoden und Konzepte – eine systematische Darstellung der Therapieprinzipien und Techniken. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York-Barcelona-Budapest-Hongkong-London-Mailand-Paris-Santa Clara-Singapur-Tokyo; 2004
  • 8 Merighi A, Salio C, Ghirri A. et al . BDNF as a pain modulator.  Progress in Neurobiology. 2008;  85 297-313
  • 9 Schnizer W, Schöps P. Thermo-, Hydro- und Kryotherapie. In: Schmidt KL, Drexel H, Jochheim KA, Hrsg.Lehrbuch der Physikalischen Medizin und Rehabilitation G. Fischer, Stuttgart; 1995: 106-135
  • 10 Seichert N. Elektrotherapie. In: Jäger M, Wirth CJ, Hrsg.Praxis der Orthopädie Thieme, Stuttgart; 1992: 141-150

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Christoph Gutenbrunner

Medizinische Hochschule

Hannover

Koordinierungsstelle

Angewandte

Rehabilitationsforschung

Klinik für Rehabilitationsmedizin

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover

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