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DOI: 10.1055/s-0030-1270573
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Findet ein Paradigmenwechsel statt? – Sind die Therapieempfehlungen beim Typ-2-Diabetes noch zeitgemäß?
Publication History
Publication Date:
03 January 2011 (online)


Dr. med. Ralph Achim Bierwirth ist Facharzt für Innere Medizin und Diabetologe DDG. Im Jahr 2003 gründete er das Ambulante Diabetes-Zentrum am Elisabeth-Krankenhaus in Essen. Im Rahmen einer integrierten Versorgung arbeitet er in einer diabetologischen Schwerpunktpraxis mit Fußambulanz auf dem Klinikgelände. Er war von 2003-2007 Vorstandsmitglied und Pressesprecher der Deutschen Diabetes-Gesellschaft und ist Co-Editor der Zeitschrift "Der Diabetologe". Mit ihm sprach der Redaktionsleiter von Diabetes aktuell, Günther Buck, beim Kongress 2010 der American Diabetes Association (ADA) in Orlando über aktuelle Therapieempfehlungen und -strategien bei Patienten mit Typ-2-Diabetes.
? Nach den aktuellen Therapieempfehlungen beim Typ-2-Diabetes sollte man auch heute noch in erster Linie Metformin und Sulfonylharnstoffe einsetzen. Haben Sie an dieser Therapieempfehlung etwas zu kritisieren?
Bierwirth: Durch die Therapieempfehlung wird ein gewisser Druck auf die Hausärzte im KV-Bereich induziert. Es wird nicht die wissenschaftliche Datenbasis angewandt, die wir heute für die duale Therapie haben. Ökonomisch gesehen ist dies eine sehr preisgünstige Therapie mit sehr langer Tradition, Metformin und die Sulfonylharnstoffe sind ja in den 1950er Jahren zugelassen worden. Ich kenne keinen Bereich in der Medizin, in dem sich die gleiche First-line-Therapie über einen so langen Zeitraum gehalten hat. Andererseits gab es aber bislang auch nur wenige wirkliche Innovationen in der Therapie des Typ-2-Diabetes. Die Glinide haben keinen Paradigmenwechsel herbeigeführt, sie werden künftig wohl auch nur noch in medizinisch begründbaren Einzelfällen zu Lasten der KGV erstattet werden. Auch die Einführung der Glitazone hat vor 11 Jahren keinen Paradigmenwechsel herbei geführt, und auch hier wird die Erstattungsfähigkeit stark eingeschränkt, das Rosiglitazon ist ganz aus der Therapie genommen worden. Die inkretinbasierten Therapien – GLP-1-Analoga und DPP-4-Hemmer – werden so seit 50 oder 60 Jahren die ersten wirklich innovativen Theapeutika in der Behandlung des Typ-2-Diabetes werden.
Es braucht natürlich Zeit, die Leitlinien der Fachgesellschaften und die Therapieempfehlungen der KVen der neuen Datenlage anzupassen. Wir fordern heute Endpunkt-Studien, ein neues Medikament muss seinen Nutzen dadurch beweisen, dass es nicht nur Laborparameter verändert ("Surrogat-Parameter"), sondern es muss einen klinischen Vorteil vor allem in Bezug auf Morbidität und/oder Mortalität bringen. Wir wissen seit der Publikation der Studien ACCORD[1], ADVANCE[2] und VADT[3], dass es nicht nur um Blutzuckersenkung geht, sondern auch um Hypoglylämiefreiheit und eine reduzierte Gewichtszunahme. Ganz offensichtlich stirbt ein Teil unserer Patienten nicht an den kardiovaskulären Folgen des Diabetes, sondern bereits vorher an Therapiekomplikationen. Deshalb müssen wir heute die Therapieziele individualisieren, das zeigen auch die Leitlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft. Wir dürfen die Ziele nicht nur glukosezentriert, etwa auf den HbA1c fokussiert sehen, sondern müssen auch auf Hypoglykämiefreiheit und auf fehlende oder zumindest reduzierte Gewichtszunahme achten. Deshalb sind Empfehlungen für Sulfonylharnstoffe und Metformin absolut nicht mehr aktuell, denn unter dieser Kombination nehmen die kardiale Ereignisrate und die kardiale Mortalität zu.
? Nun können ja schon aus Kostengründen nicht alle Patienten auf GLP-1-Analoga oder DPP-4-Hemmer eingestellt werden. Nach welchen Kriterien entscheiden Sie dies in Ihrer Praxis?
Bierwirth: Wenn Sie fragen, ob man nicht allen Patienten eine innovative, schonende und wirksame Therapie verordnen kann, ist das die gleiche Frage wie die nach künstlichen Hüften oder Herzoperationen – also eine ethische Frage. Natürlich kann man differenzieren und würde vielleicht einen 85-jährigen Patienten, der mit einem Sulfonylharnstoff gut eingestellt ist und keine Hypoglykämien hat, weiter auf dieser Therapie lassen. Einen Patienten in mittleren Alter mit dem Therapieziel Normoglykämie, und das schafft man sonst nur unter Inkaufnahme von Hypoglykämien, diesen Patienten also würde ich eher auf eine inkretinbasierte Therapie einstellen.
? Gibt es Budgetprobleme, wenn Sie so vorgehen?
Bierwirth: Der "vorauseilende Gehorsam" ist hier ein ganz großes Thema. Es hat meines Wissens bei den oralen Antidiabetika bislang noch keine Regresse gegeben, wenn man die Therapie richtig indiziert und begründen kann. Deswegen sollte man bei der Verordnung einer innovativen und etwas teureren Therapie die Indikation begründen, z. B. mit der Hypoglykämiefreiheit oder der zwingend notwendigen Vermeidung einer Gewichtszunahme, weil sonst der Blutdruck schlechter eingestellt ist und das Schlaganfallrisiko steigt. Man muss das nur dokumentieren, dann hat man keinen Regress zu befürchten – es handelt sich hier ja um zugelassene Präparate, die nach Therapieziel auf Indikation verordnet werden.
? Die meisten Patienten mit Typ-2-Diabetes werden etwa 6 bis 10 Jahre nach Therapiebeginn insulinpflichtig. Kann man mit inkretinbasierten Therapien, denen ja ein gewisser Betazell-Schutz nachgesagt wird, diesen Zeitpunkt hinaus schieben?
Bierwirth: Die Daten weisen schon in diese Richtung. Unter der Sulfonylharnstoff-Therapie muss das Insulin viel früher eingesetzt werden als unter einer nicht insulinotropen Therapie. Präparate, die die Betazelle schonen, vielleicht sogar einen gewissen reparativen und regenerativen Effekt haben, verlangsamen die Apoptoserate. Wir können das zwar nicht direkt messen, aber z. B. in der UKPDS sehen wir eine Verschlechterung der Blutzucker-Einstellung, gemessen am HbA1c, um etwa 0,3 % pro Jahr, unter den DPP-4-Hemmern und auch unter den GLP-1-Analoga verlangsamt sich der Anstieg um 0,1–0,2 % im Jahr. Die Progression des Diabetes wird also langsamer, kann zwar wohl nicht aufgehalten werden, aber die Insulintherapie wird wahrscheinlich 5–10 Jahre später erforderlich werden. Und wann sollte man mit der inkretinbasierten Therapie beginnen? In den Leitlinien steht das Metformin ganz oben und hier hat sich ja auch ein gewisser protektiver Effekt über 10 Jahre gezeigt. Verordnete man eine Fixkombination aus Metformin und einem DPP-4-Hemmer von Beginn an, erreichte man vielleicht einen noch besseren Schutz als mit Metformin alleine. Studien dazu laufen und man darf auf die Ergebnisse gespannt sein.
? Wie lange warten Sie, bis Sie einem Patienten zusätzlich Insulin geben und welche Kombinationstherapie wählen Sie dann?
Bierwirth: Wir sollten dabei nicht nur die Effekte auf den Blutzucker im Auge haben, sondern auch die Auswirkungen auf das Gewicht, auf die Lipide und auf den Blutdruck bedenken. Deshalb sollten wir nicht zu früh von einer oralen Therapie auf Insulin wechseln. Denn die Insulintherapie kann zwar den Blutzucker senken, sie hat aber nicht diese pleiotropen Effekte auf die Gerinnung, die Fette und den Blutdruck wie die neuen oralen Antidiabetika und wir sollten erst einmal diese Chance nutzen. Die Nachteile einer Therapie mit Insulin sind ja hinreichend bekannt, zum Beispiel könnte neben der Gewichtszunahme auch das Karzinomrisiko erhöht sein. Deshalb würde ich erst einmal die orale Therapie mit den Synergieeffekten über die unterschiedlichen Angriffspunkte so lange wie möglich nutzen. Natürlich muss man immer das individuelle HbA1c-Ziel im Auge behalten.
? Und wie legen Sie dieses individuelle HbA1c-Ziel fest?
Bierwirth: Es wird mit dem Patienten gemeinsam erarbeitet, sonst zieht dieser nicht mit am gleichen Strang. Aber wenn der Patient, wie in den Leitlinien vorgegeben, keine kardialen Risikofaktoren hat, ist das Therapieziel nach wie vor ein HbA1c unter 6,5 %. Liegen aber schon kardiovaskuläre Komplikationen vor, sollte man mehr auf Hypoglykämiefreiheit und Gewichtsreduktion fokussieren, auch auf die Lipid- und die Hochdrucktherapie, und dann sehe ich das Ziel bei einem HbA1c um 7-7,5 %. Dies gilt auch bei Patienten, die schon älter sind und/oder solche mit einer reduzierten Lebenserwartung von unter 5 Jahren, hier sehen wir das Ziel zwischen 7 und 8 %.
? Wenn also, wie Sie es ja vorhin formuliert haben, die meisten Patienten mit Typ-2-Diabetes eigentlich eine inkretinbasierte Therapie erhalten sollten - dann kann bisher nur das Sitagliptin mit Insulin kombiniert werden. Wie genau lautet hier die Indikation?
Bierwirth: In der Monotherapie darf das Sitagliptin dann eingesetzt werden, wenn Metformin eine Kontraindikation hat oder wenn nicht zu tolerierende Nebenwirkungen auftreten. Bei der Insulintherapie hat man im Grunde genommen die Auswahl aus 4 oralen Antidiabetika (Metformin, Glitazon, Sulfonylharnstoff oder von den inkretinbasierten Therapien das Sitagliptin), wenn das Therapieziel mit Diät, Bewegung und einer stabilen Insulindosis nicht erreicht werden kann. Die Glitazone und den Sulfonylharnstoff würde ich hier schon wegen der Gewichtsproblematik als primären Kombinationspartner nicht bevorzugen. Das Metformin halte ich für den wichtigsten geeigneten Kombinationspartner. Ich verwende in meiner Praxis sehr häufig die Kombination aus Metformin und Sitagliptin (Janumet® oder Velmetia®).
? Was sind die Vorteile der Kombination für den Patienten?
Bierwirth: In der persönlichen Erfahrung sehen wir, anders als in der Zulassungsstudie, eine Reduktion der Insulindosis um 10-20 %, auch sehen wir weniger Blutzuckerschwankungen, bei reduzierter Insulindosis weniger Hypoglykämien und eine reduzierte Gewichtskurve, d. h. viele dieser Patienten haben wieder einmal die Chance, ein wenig abzunehmen und müssen nicht die ständige "Insulinmast" fürchten.
? Was muss man denn beachten, wenn man die Kombination wählt?
Bierwirth: Man sollte auf Hypoglykämien achten, weil die Insulinwirkung verstärkt wird. Vor allem sollte man zu Beginn etwas häufiger messen lassen, um die prandialen Hypoglykämien am späten Vormittag und in der Nacht überhaupt erst zu erfassen, Typ-2-Patienten nehmen diese oft nicht mehr richtig wahr. Später hat man dafür aber den Vorteil, den Blutzucker weniger häufig messen zu müssen, weil sich die Stoffwechsellage stabiler gestaltet und weil Hypoglykämien seltener auftreten.
? Wie groß sind denn Ihre eigenen Erfahrungen in der Praxis mit dieser Dreifachkombination aus Insulin, Metformin und Sitagliptin?
Bierwirth: Wir hatten einige Patienten schon vor der offiziellen Zulassung off-label auf diese Kombination eingestellt, seit der Zulassung sind noch einmal etwa 15 Patienten dazu gekommen. Dabei haben wir nur 3 Nonresponder, bei denen sich trotz der Zugabe von Sitagliptin überhaupt nichts verändert hat. Wir diskutieren ja immer, was nun eigentlich der Wirkeffekt des Sitagliptin in der Kombination mit Insulin ist. Die meisten Patienten haben ihren Typ-2-Diabetes ja schon längere Zeit und die Zahl der funktionierenden Betazellen ist entsprechend reduziert. Dies bedeutet aber, dass die insulinotrope Wirkung, also die stimulierende Wirkung des DPP-4-Hemmers auf die Betazelle, sich ja wahrscheinlich nur sehr gering auswirken kann.
Wahrscheinlich ist der überwiegende Effekt der Kombination der auf die Alphazelle, die Glukagonsuppression, und das funktioniert auch noch nach 15- oder 20-jähriger Diabetesdauer. Insofern muss man diese Therapie auch anders bewerten als andere orale Antidiabetika, bei denen wir wissen, dass nach etwa 10 Jahren die Tabletten nicht mehr wirken. Das ist bei Sitagliptin aufgrund des dualen Effektes auf die Alpha- und die Betazelle anders. Gerade die insulinresistenten Patienten profitieren davon am meisten.
? Wieviel Bedeutung messen Sie den pleiotropen Effekten der DPP-4-Hemmer zu?
Bierwirth: Wir haben solche Effekte, wie z. B. auf PAI-1, CRP, Fibrinogen, Adiponektin, ja schon bei den Glitazonen diskutiert. Es gibt hier ganz tolle Ergebnisse, letztlich zählt aber nur die Verbesserung der kardiovaskulären Endpunkte und nicht nur, ob die Intima-media-Dicke zurückgeht. Aber die Effekte auf den Blutdruck und die Lipide sind wohl überwiegend indirekte Effekte der besseren Stoffwechseleinstellung, der Normalisierung des Blutzuckers und der Reduzierung der Leberverfettung. Wie weit das substanzeigene Effekte sind, können wir heute noch gar nicht sagen.
? Vom Wirkprinzip der inkretinbasierten Therapien ausgehend müsste man ja eigentlich auf einen Einsatz der Substanzen vielleicht schon im prädiabetischen Stadium setzen. Sehen Sie eine Chance, dass wir in Deutschland einmal so weit kommen werden?
Bierwirth: Diese Chance sehe ich nicht. Diese Diskussion führen wir ja schon länger als 10 Jahre, aber gerade in Deutschland haben wir leider bei der Prävention überhaupt keine Chance. Das zeigt uns doch schon das Schicksal des einmal geplanten Präventionsgesetzes und die derzeitige Spar-Diskussion im Gesundheitsministerium. Da wird z. B. bei den DMP's gespart und es wird einfach an der Schulung gestrichen, um 300 Millionen Euro zu sparen.
Von der Pathophysiologie her jedoch wäre ein früher Einsatz eindeutig zu bejahen. Wir haben ja sehr viele Menschen in Deutschland im prädiabetischen Stadium der gestörten Glukosetoleranz und mit einem metabolischen Syndrom. Dies wird allerdings nicht als Krankheit bewertet, und solange es keine Krankheit ist, können Sie als Arzt weder die Diagnostik noch die Therapie abrechnen.
01 ACCORD Study Group. New Engl J Med 2008; 358: 2545-2558
02 ADVANCE Collaborative Group. New Engl J Med 2008; 358: 2560-2572
01 ACCORD Study Group. New Engl J Med 2008; 358: 2545-2558
02 ADVANCE Collaborative Group. New Engl J Med 2008; 358: 2560-2572

