Sprache · Stimme · Gehör 2011; 35(1): 64
DOI: 10.1055/s-0031-1276672
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Fragiles-X-Syndrom

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Publication Date:
07 April 2011 (online)

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Beim Fragilen-X-Syndrom handelt es sich um die häufigste ererbte Form einer intellektuellen Behinderung. Das Störungsbild resultiert aus einer Mutation des FMR1-Gens, das auf dem X-Chromosom lokalisiert ist. Sie tritt mit einer geschätzten Häufigkeit von mindestens 1:4 000 bei Jungen und 1:8 000 bei Mädchen auf. Die Ausprägung von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen ist bei Jungen in der Regel wesentlich stärker als bei Mädchen.

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Verzögerter Spracherwerb im frühen Kindesalter

Die kognitive Entwicklung und die Entwicklung des Sprachverstehens vollziehen sich im frühen Kindesalter verzögert, der Grad der Verzögerung ist jedoch individuell sehr unterschiedlich. Ein Teil der Jungen zeigt soziale und kommunikative Auffälligkeiten, die ähnlich denen sind, die bei Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung beobachtet werden. Sie lassen sich als Schwierigkeiten der Reizverarbeitung und Impulskontrolle verstehen. Insbesondere bei dieser Teilgruppe verläuft die expressive Sprachentwicklung deutlich langsamer als die Entwicklung in den übrigen Bereichen.

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Pragmatische Sprachauffälligkeiten bei Jungen

Im Schulalter liegt bei der Mehrzahl der Jungen eine Intelligenzminderung vor, so dass sie nach dem Lehrplan der Schule für geistig behinderte Kinder unterrichtet werden. Bei einigen Jungen mit Fragilem-X-Syndrom machen besonders gut ausgeprägte visuelle Auffassungsfähigkeiten und lebenspraktische Kompetenzen auch den Besuch anderer Schulformen möglich. Wortschatzumfang und Satzbaufähigkeiten entsprechen im Schulalter meist dem Niveau der übrigen Fähigkeiten.

Als Hindernis für das Gelingen sozialer Beziehungen erweisen sich aber in vielen Fällen ausgeprägte Auffälligkeiten im Sprachgebrauch. So neigen viele Jungen zu Perseverationen und haben große Schwierigkeiten, sich im Dialog auf das Thema des Gesprächspartners einzustellen. Ein überhastetes Sprechtempo, eine polternde Sprechweise, Artikulationsstörungen und begleitende Bewegungsstereotypien (z.B. Wedeln mit den Armen) erschweren die Verständigung zusätzlich. Diese Verhaltensbesonderheiten treten kaum in vertrauten Alltagssituationen auf, wohl aber dann, wenn die Kinder mit fremden, für sie schwierigen sozialen Anforderungen konfrontiert werden. Sie sind zu verstehen als Ausdruck von Problemen der Selbstregulation, Handlungsplanung und Impulskontrolle. Sie erschweren auch die Einleitung und Durchführung einer Sprachtherapie, da die Jungen zumindest anfangs nur schwer zur Kooperation mit den für sie neuen Anforderungen zu bewegen sind.

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Soziale Scheu bei Mädchen

Auch Mädchen mit Fragilem-X-Syndrom zeigen charakteristische Verhaltensauffälligkeiten. Bei ihnen ist die Beeinträchtigung kognitiver Funktionen jedoch in der Regel geringer oder beschränkt sich auf Teilleistungsbereiche (z.B. Rechnen). Auch bei ihnen liegt aber eine Störung der affektiven Selbstregulation vor, die sich vor allem in sozialer Scheu und einer Neigung zu depressiven Stimmungen äußert.

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Förderung sozialer Kompetenzen in der Therapie

Bei Jungen und Mädchen mit Fragilem-XSyndrom steht daher ab dem Schulalter die Förderung sozial-kommunikativer Kompetenzen im Vordergrund. Übungen zur Verbesserung der Verständlichkeit der Äußerungen und zur Reduzierung des Sprechtempos sowie zur Förderung von Gesprächsfähigkeiten tragen dazu bei, Misserfolge in sozialen Kontakten zu reduzieren. Hilfreich sind dabei sowohl strukturierende Maßnahmen, die Gesprächsabläufe ritualisieren und es den Kindern damit leichter machen, ihre Beiträge auf den Gegenüber abzustimmen, wie auch Selbstkontrolltechniken, die den Kindern helfen, ihr Erregungsniveau bei fremden sozialen Anforderungen zu kontrollieren. Angesichts dieser spezifischen Ziele hat es sich bewährt, bei Kindern mit Fragilem-X-Syndrom sprachtherapeutische Ansätze mit Elementen der Ergotherapie (Sensorische Integrationstherapie) und Kinderverhaltenstherapie (Positive Verhaltensunterstützung) zu kombinieren.

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Fazit

Kinder mit Fragilem-X-Syndrom reagieren auf soziale Anforderungen mit ausgeprägter Scheu und ausweichendem Verhalten; in fremden Gesprächssituationen haben sie große Schwierigkeiten, sich adäquat zu beteiligen. Im Vordergrund der Therapie stehen Übungen zur Verbesserung pragmatischer Sprachkompetenzen.

Prof. Dr. Klaus Sarimski, Heidelberg