PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(4): 370-371
DOI: 10.1055/s-0031-1276964
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

ADHS – und was vielleicht noch nachzutragen ist

Zur letzten Ausgabe der PiD (Heft 3 / 11)Bettina  Wilms
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Publication Date:
13 December 2011 (online)

Das neue PiD-Heft ist da und man könnte jetzt sagen, nichts sei so alt, wie die Zeitung von gestern.

Glücklicherweise ist dies keine Tageszeitung, die Themen verschwinden nicht einfach dadurch, dass sie einmal auf der Titelseite abgedruckt wurden und die Diskussion im Kollegenkreis beginnt manchmal erst, wenn der eine oder die andere mal „rumgeblättert hat“.

So ist es offensichtlich auch mit dem AHDS-Heft geschehen: Inzwischen sind einige Wochen seit Erscheinen vergangen und ich werde noch mehr als sonst angesprochen, was „man“ denn mache bei … Da PiD den Dialog sozusagen „im Titel“ hat, möchte ich Ihnen hiermit einen Einblick in die Fragen, Anmerkungen und Ergänzungen geben, die mich in den letzten Wochen erreichten.

Da ging es zum einen um das Thema „Tagesstruktur“. Wie viel „Party“ ist vor allem für junge Erwachsene „erlaubt“? Wie ist mit dem Thema Schichtarbeit und AHDS umzugehen? Aber auch Fragen der Behandlungskontinuität und -methodik wurden gestellt. Wann und in welcher Form sollten Therapeutenwechsel im Übergang zwischen einer jahrelangen Begleitung in einer Ambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Behandlung / Begleitung / Therapie im Erwachsenenalter erfolgen? Und – wen wundert es – gibt es nicht doch Veröffentlichungen über psychodynamisch orientierte Behandlungen, die zumindest Hinweise auf das Vorgehen im Erwachsenenaltern geben könnten?

Zu den einzelnen Fragekomplexen möchte ich kurz Stellung beziehen:

Wie viel „Party“ ist vor allem für junge Erwachsene „erlaubt“?

Schon bei dem Wort „erlaubt“ wird deutlich, wie leicht es gelingt, sich auch als Therapeutin zu erzieherischen Maßnahmen eingeladen zu fühlen und dieser Einladung auch nachzukommen. Feiern ab Mitternacht bis in die frühen Morgenstunden mit Beginn am Freitag und Ausschlafen am Sonntag ist für viele Menschen zwischen 18 und 30 durchaus Teil ihrer routinemäßigen Freizeitgestaltung. Ob mit oder ohne Medikation mit Methylphenidat ist die Gefahr hoch, bei jungen Erwachsenen mit einem ADHS hier leicht den tanten- oder onkelhaften Zeigefinger auszufahren und zum „Du, du, du!“ auszuholen … Genauso so hoch ist die Gefahr, dann nicht mehr gehört zu werden, einen Austausch auf Augenhöhe gar nicht möglich zu machen und vom Therapeuten zum Regelwächter zu werden. Hinzu kommt, dass viele Patienten Therapieerfahrungen aus der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie oder -psychiatrie haben und die Veränderung vom kindlichen Patienten zum erwachsenen Hilfesuchverhalten an sich eine Aufgabe für alle Beteiligten darstellt (siehe auch unten). Auch wenn es banal klingt, alle Kollegen, mit denen ich sprechen konnte, kannten diese „Falle“, betonten, wie wichtig es sei, über Erfahrungen zu sprechen und Patienten und Patientinnen dabei behilflich zu sein, ihre eigenen Erfahrungen auszuwerten und dann abzuwägen: Freundschaften, die sich nur mit einer zeitverschobenen Wochenendorganisation aufrechterhalten lassen auf der einen Seite und die Vorteile einer erhaltenen Tagesrhythmik auf der anderen Seite einer Kosten-Nutzen-Analyse zu unterziehen. Das klingt nicht nur technisch, sondern wirkt in den meisten Fällen zunächst auch so kontraintuitiv und entfernt von den begleitenden Emotionen, dass dieses Thema Therapeuten und Patienten in aller Regel mehrfach in unterschiedlichen Facetten begegnen wird, bevor der Patient oder die Patientin einen Umgang damit gefunden haben, der für sie oder ihn passt.

Psychodynamisch orientierte Kolleginnen werden hier vermutlich zu recht die Arbeit an der therapeutischen Beziehung im Mittelpunkt sehen …

Wie ist mit dem Thema Schichtarbeit und AHDS umzugehen?

Diese Frage klingt zunächst nur technisch, wirft aber bei konkreter Beschäftigung mit der Situation am Arbeitsplatz eine Fülle von anschließenden Aspekten auf: Sollte Patienten Schichtarbeit überhaupt empfohlen werden? Wäre es realistisch, solche Arbeitsplätze als ungünstig zu werten? Hier ist an die vorangegangene Frage anzuknüpfen. Spannend gestaltet sich in diesem Zusammenhang auch die Frage der Medikation: Alle auf dem Markt befindlichen Methyphenidatpräparate werden für Phasen aktiver Konzentrationsaufgaben dosiert. Dies hieße für die Schichtarbeit, dass ein Wechsel der Einnahmezeit orientiert an der zu erwartenden Ruhezeit erfolgt; also nach Rückrechnung der Wirkdauer des Präparats sollte man je nach Schicht die Einnahme so gestalten, dass während der Tätigkeit die Wirkung der Medikation eintritt und in der folgenden Ruhezeit diese Wirkung die Schlafphase so wenig wie möglich behindert. Publizierte Beiträge ließen sich im Kollegenkreis hierzu nicht zusammentragen; vielmehr stellt diese Vorgehensweise die Zusammenschau von Ideen und Erfahrungen zwischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und Erwachsenenpsychiatern, auch aus dem Herausgeberkreis des ADHS-Heftes, dar. In der Sprache der Evidence-based Medicine wäre dies der Evidenzgrad einer Expertenmeinung …

Wann und in welcher Form sollten Therapeutenwechsel im Übergang zwischen einer jahrelangen Begleitung in einer Ambulanz für Kinder-und Jugendpsychiatrie und der Behandlung / Begleitung / Therapie im Erwachsenenalter erfolgen?

Diese Frage ist vermutlich der Frage zwischen Baum und Borke, Keks und Schokolade oder Pest und Cholera ähnlich: Eine richtige, im Sinne einer allgemeingültigen Sicht gibt es nicht. Eine Kollegin berichtete sehr anschaulich, dass ein Patient mit viel Fürsorge von Eltern und kinder- und jugendpsychiatrischer Institutsambulanz durch die Lehre begleitet wurde und dann aber auch die Haltung der Mitarbeiter gegenüber dem Patienten dringend eine Veränderung notwendig machte. Da diese den Patienten in jungen Jahren kennengelernt hatten, war natürlich das „Du“ üblich, der Vorname wurde gebraucht und der Umgang war eher familiär. Im Therapieprozess stellte sich die Frage, ob der Übergang in eine Richtlinienpsychotherapie für Erwachsene nicht genau zum „falschen“ Zeitpunkt mit der Aufnahme einer ersten Berufstätigkeit nach Abschluss der Lehre zusammenfiel. Andererseits könnte mit Recht auch die Frage aufgeworfen werden, wann denn der geeignete Zeitpunkt zum Bruch in der Behandlungskontinuität gewählt werden sollte, wo doch der o. g. Vollzug des Rollenwechsels vom Kind zum Erwachsenen ebenso therapeutisch wichtig ist.

Gibt es nicht doch Veröffentlichungen über psychodynamisch orientierte Behandlungen, die zumindest Hinweise auf das Vorgehen im Erwachsenenalter geben könnten?

Einer der Kollegen, die am Interview mit dem Qualitätszirkel aus Leipzig teilgenommen hatten, schickte uns im Nachgang noch einen Zeitschriftenbeitrag, der sich mit der Methode des Katathymen Bilderlebens beschäftigt: Renate Sannwald berichtet über eine bei Erstkontakt zwölfjährige Patientin, die sie über vier Jahre behandelte. Bedeutsam wie bewegend ist bei dieser über weite Strecken kasuistischen Darstellung, dass die Entwicklung hinein in die Adoleszenz reicht mit all den Themen auf der Beziehungsebene, die auch Kollegen kennen, die Erwachsene mit einer ADHS-Symptomatik behandeln. Die Autorin findet hierfür in ihrem Text folgende Beschreibung: „Auch ich kam mir in diesem dritten Therapiejahr vor wie die „Reiterin eines bockenden fliegenden Teppichs“, immer auf die nächste Eskapade meiner Patientin eingestellt“ (Sannwald 2011).

Es wäre nicht verwunderlich, wenn diese „Nachlese“ zu weiteren Diskussionen anregen würde. Als Herausgeberin freue ich mich über jeden lebendigen Austausch zu unseren Themenheften; sei es im Kollegenkreis oder auch gern mal hier in schriftlicher Form „im Dialog“ mit allen Lesern und Leserinnen von PiD.

Es grüßt Sie herzlich

Bettina Wilms

Literatur

  • 1 Sannwald R. Aufmerksamkeitsdefizitstörungen und Katathym Imaginative Psychotherapie.  Imagination. 2011;  33 60-75
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