PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(4): 347-348
DOI: 10.1055/s-0031-1276974
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Für ein ,wildes Leben‘ war ich ungeeignet“

Ein seit vielen Jahren an Epilepsie erkrankter Patient im Gespräch mit Michael  Brünger
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Publication Date:
13 December 2011 (online)

PiD: Wann haben Sie zum ersten Mal die Nachricht bekommen, dass Sie eine Epilepsie haben?

Herr C.: Ich war 16 und Schüler im Internat des Aufbaugymnasiums A. Zu dieser Schule war ich vom Aufbaugymnasium B. gewechselt, weil ich den Spruch unseres damaligen Rektors „Wir sind eine Schule unter dem Evangelium und wem es nicht passt, der kann gehen!“ nicht mehr ertragen konnte. Ich fühlte mich in B. eingesperrt, musste dann aber feststellen, dass ich mit der Schule nur mein „Gefängnis“ (wie ich es damals empfand) gewechselt hatte. Deswegen versuchte ich die wöchentliche Rückkehr ins Internat so lange als möglich hinauszuzögern. Es gab montags morgens (Abfahrt, wenn ich mich recht erinnere, 5.30 Uhr) eine Zugverbindung nach A., mit deren Hilfe ich es vermeiden konnte schon sonntags ins Internat zu müssen.

Eines Montags morgens, ich wollte gerade frühstücken, es war zwischen 4 und 5 Uhr, riss meine Verbindung zur Welt und ich wachte wenig später dann auf unserem alten Esszimmersofa wieder auf und unsere Hausärztin sah mir ins Gesicht. Nach einigen Fehldiagnosen ihrer spezialisierten Fachkollegen („Ich kenne die Neurologen, ich war schließlich mal mit einem verheiratet!“) bestätigte sich ihr Anfangsverdacht auf eine Epilepsie. Danach verbrachte ich sechs Wochen in der Landesklinik A. (im Volksmund auch „Hoppla“ genannt). Ich fand dort die nötige Zeit, um die „Deutsche Ideologie“ von Marx / Engels zu lesen, und betrachte diese sechs Wochen deswegen nicht als verloren, auch wenn ich später die Erfahrung machte, dass man die Einstellung auf das richtige Medikament auch einfacher haben kann.

Wie wurde Ihnen erklärt, was das bedeutet?

Gute Frage, könnten Sie mir das erklären? Ich erinnere mich nur noch, dass mir in A. salzlose Kost verordnet wurde, verbunden mit der Mahnung: kein Alkohol und auch keine sonstigen Drogen. D. h. man vermittelte mir die Aussicht auf ein reichlich fades Leben (im wörtlichen und im übertragenen Sinn).

Was unterscheidet Epilepsie von anderen gesundheitlichen Störungen, was ist aus Ihrer Sicht charakteristisch für Epilepsie?

Wenn ich mir den Arm breche oder den Magen verderbe, habe ich ein Problem. Aber ich bin nicht der gebrochene Arm oder der verdorbene Magen. Wenn ich Epilepsie habe, bin ich ein Epileptiker, d. h. es geht um mein Sein. Darum wer ich bin. Wobei es vielleicht sogar umgekehrt ist: Weil ich bin, der ich bin, deswegen kann ich epileptische Anfälle bekommen.

Was hat das an Ihrem Selbstbild und Ihrem Selbstvertrauen verändert?

Mein Selbstbild und mein Selbstvertrauen waren schon immer (vor meinen Anfällen, während und jetzt auch schon eine lange Zeit nach meinen Anfällen) in gewisser Weise gespalten: Einerseits war und bin ich klüger als andere, andererseits dümmer. Ich wurde spät, nämlich mit sieben Jahren, eingeschult und habe vorher schon begonnen mir mithilfe von „Hans, Heiner und Elsa“ zumindest Lesen beizubringen. Es waren damals auch spannende politische Zeiten und meine Oma musste mir aus der Zeitung vorlesen.

Andererseits konnte ich mir die Schuhe nicht selbst binden. Meine Tante holte mich zwei Tage zu sich und brachte mir dann mit viel Mühe und Geduld das Schuhe binden bei. Sie lebt schon lange nicht mehr, aber ich bin ihr heute noch dankbar, dass sie mir die Peinlichkeit erspart hat, in die Schule zu kommen und einerseits schon ein bisschen lesen zu können, andererseits aber beim Schuhe binden fremde Hilfe zu brauchen.

Was hat Ihnen am meisten geholfen?

Meine Frau ist ein sehr praktischer Mensch. Dadurch muss ich nicht Dinge können, die ich nicht kann.

Nehmen Sie Medikamente? Was stört dabei am meisten, welche Nebenwirkungen haben Sie mit Medikamenten erlebt?

Ich nehme schon seit ca. 20 Jahren keine Medikamente mehr. Früher nahm ich Mylepsin[1]. Ich bin heute der Meinung, dass vieles, was ich damals auf die Nebenwirkungen[2] der Medikamente zurückgeführt habe, vor allem eine gewisse Langsamkeit im Reagieren, keine Nebenwirkung des Medikaments war, sondern Teil meiner Persönlichkeit ist.

Was war die härteste Einschränkung, die mit Ihrer Epilepsie verbunden war?

Es war das berühmte Jahr 1968, ich war 16 und musste begreifen, dass ich für ein „wildes Leben“ ungeeignet war. An Ostern 1968 (zurzeit der Osterunruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke) war ich in Frankfurt auf dem Ostermarsch. Es gab einen Aufruf, die Nacht über zu bleiben und die Auslieferung der „BILD“-Zeitung zu verhindern. Ich wäre gerne geblieben, aber ich wusste: zu bleiben und auf meinen Schlaf zu verzichten, war zu gefährlich für mich.

Was verstehen andere Leute (Nichtbetroffene) nicht oder falsch, wenn sie von Epilepsie hören?

Ich habe mich mit meiner Epilepsie nie versteckt, sondern bin sehr offen damit umgegangen. Deswegen kann ich Ihnen Ihre Frage auch nicht richtig beantworten. Die meisten Leute wollen ja keine Vorurteile haben, auch wenn sie welche haben. D. h. ich werde solche Vorurteile nie zu hören bekommen, ich kann nur manchmal vermuten, dass sie eine Rolle spielen. Meine Eltern haben allerdings sehr unter meiner Verwandtschaft gelitten, die sich munter darüber gestritten hat, von welcher Seite diese Krankheit vererbt wurde.

Gab es / gibt es spürbare Auswirkungen auf den Partnerschaftsbereich?

Unbedingt. Teil dieser Krankheit ist eine gewisse Begriffsstutzigkeit. Und die kann fatale Auswirkungen haben. Ich war 19 und sehr verliebt in eine tolle Frau. Dann landete ich im Krankenhaus, weil ich mir bei einem Anfall das Nasenbein gebrochen und die Vorderzähne abgebrochen hatte. Diese Frau besuchte mich als Einzige aus meinem Bekanntenkreis im Krankenhaus. Eines Tages schenkte sie mir ein Buch: Eine Novellensammlung von Leskov mit dem Titel „Liebe in Bastschuhen“. Sie sagte mir, in dem Titel stecke etwas von ihr. Und sie wurde sehr wütend auf mich, als ich über den Zusammenhang zwischen ihr und den Bastschuhen nachdachte.

Ich besitze das Buch noch und halte es in Ehren. Es gibt darin eine sehr schöne Erzählung über eine russische Mörderin, „Die Lady Macbeth aus dem Landkreis …“. Viele Jahre, eigentlich schon fast Jahrzehnte, später fiel mir auf, dass in dem Titel „Liebe in Bastschuhen“ ja noch ein anderes Wort wichtig gewesen sein könnte als die Bastschuhe.

Gab es / gibt es für Sie spürbare Auswirkungen auf Schule, Ausbildung und Beruf?

Dadurch dass ich mich mit Computern befasse, gerate ich nicht so leicht in die Situation, ein begriffsstutziger, ahnungsloser Idiot zu sein. Denn im Denken bin ich eher besser als andere.

Sind Sie bei Ärzten auch auf mangelndes Verständnis für das Thema Epilepsie gestoßen? Was sollten Ärzte über Epilepsie besser wissen und beherzigen?

Als ich meinen ersten Anfall hatte, hat man mir noch am gleichen Tag im städtischen Klinikum in D. ein EEG abgeleitet und natürlich nichts gefunden. Daraufhin wurde ich erstmal auf Kreislaufprobleme behandelt.

Sehr geholfen hat mir mein langjähriger Arzt Prof. D. Janz[3]. Seine Methode, mit den Patienten zu reden und sie ernst zu nehmen, sollte zum Vorbild für die Ärzte insgesamt werden.

Gab es Zeiten, in denen seelischer Beistand nötig war? Wer oder was konnte am besten helfen?

Nein. Ich kann mir auf diesem Gebiet schon sehr gut selber helfen. Wichtiger als „seelischer Beistand“ wären für mich Menschen wie meine Tante gewesen. Menschen, die mich nicht nur loben, weil ich intelligent bin und viel weiß, sondern die auch meine sonstigen Defizite sehen und mir helfen, damit besser klar zu kommen.

Welche wichtige Frage wurde in diesem Interview noch nicht gestellt und wie würden Sie sie beantworten?

Die wichtigste, nicht gestellte Frage habe ich schon indirekt versucht zu beantworten: „Haben Sie Probleme, weil Sie Anfälle haben (hatten) oder bekommen (bekamen) Sie ihre Anfälle, weil Sie mit manchen Ihrer Probleme nicht klar kommen (kamen)?“

Diese Frage würde ich so beantworten: Letzteres. Anfälle sind nur ein Symptom. Was mich schon mal aus dem Gleichgewicht bringt (zum Glück nicht mehr bis zu Anfällen) ist diese Mischung aus Fähigkeit und Unfähigkeit, aus Versagen und Können, aus viel Wissen und das Offenkundige nicht begreifen. Diese Diskrepanz kann krank machen. Und es ist sicher kein Zufall, dass für viele die Pubertät der Startpunkt in die Krankheit ist.

Herzlichen Dank, Herr C., für die Beantwortung der Fragen!

1 Anmerkung PiD: Der Wirkstoff: Primidon zählt zu den Barbituraten.

2 Mylepsin kann heute meist durch nebenwirkungsärmere Substanzen ersetzt werden. Auszug aus der Liste der unerwünschten Arzneimittelwirkungen: „Dieses Arzneimittel kann auch bei bestimmungsgemäßem Gebrauch das Reaktionsvermögen so weit verändern, dass die Fähigkeit zur aktiven Teilnahme am Straßenverkehr oder zum Bedienen von Maschinen beeinträchtigt wird. Dies gilt in verstärktem Maße im Zusammenwirken mit Alkohol. Bekannte unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter anderem: Benommenheit oder Schläfrigkeit, Unruhe und Aggressivität vor allem bei Kindern und älteren Patienten. Bei Kindern kann es zu Verhaltens- und Entwicklungsstörungen kommen“.

3 Dieter Janz (*1920) lebt und arbeitet in Berlin. Janz ist Neurologe, Epileptologe und emeritierter Hochschullehrer. Er zählt zu den Begründern der universitären Epileptologie in Deutschland. Sein Name ist insbesondere mit der Erstbeschreibung der später nach ihm benannten juvenilen myoklonischen Epilepsie verbunden („Janz-Syndrom“). Sein 1969 erschienenes Buch: „Die Epilepsien. Spezielle Pathologie und Therapie“ ist vor allem wegen hervorragender Beschreibungen von Menschen mit Epilepsie auch heute noch lesenswert.